Ein kluger Staat gegen die
gesell­schaft­liche Behäbigkeit

Foto: Imago

Verwal­tungs­mo­der­ni­sie­rung, Deutsch­land­ge­schwin­dig­keit, schnelle Trans­for­ma­tion – die Stich­worte purzeln nur so durch die poli­ti­sche Debatte. So schnell neue Wort­kon­struk­tionen sich ablösen, so wenig scheint sich wirklich zu tun. Der Umgang Deutsch­lands mit viel­fäl­tigen Krisen und Heraus­for­de­rungen lässt sich hingegen mit einem Wort zusam­men­fassen: Behäbigkeit.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wirken Politik und Gesell­schaft schwer­fällig und schwunglos. Alle wissen, wie nötig mehr erneu­er­barer Strom ist, aber die Geneh­mi­gung einer Wind­kraft­an­lage dauert sieben Jahre. Schon im Sommer war klar, dass die Ukraine im Winter Gene­ra­toren zur Strom­ge­win­nung oder Munition benötigen wird – gehandelt wurde erst Monate später und dann auch noch unko­or­di­niert. Nur langsam nimmt die Rüstungs­be­schaf­fung an Fahrt auf. Diese Liste ließe sich fort­setzen. Der indi­vi­du­elle Wille zur Verän­de­rung ist ebenso sparsam verteilt wie die admi­nis­tra­tive Flexi­bi­lität oder die ökono­mi­sche Erfindungsfreude.

Wie lässt sich diese gesell­schaft­liche Hand­bremse lösen? Allzu häufig wird die dazu­ge­hö­rige Diskus­sion zwischen den Schein­al­ter­na­tiven „mehr Staat“ vs. „weniger Staat“ disku­tiert. Das erscheint uns nicht hilfreich, sondern Teil des Problems. Was wir brauchen, ist etwas anderes: einen klugen Staat, der stabile Halte­seile bietet und gleich­zeitig Flexi­bi­lität sowie Abwei­chungs­freude ermöglicht.

Sind Demo­kra­tien innovativer?

Gesell­schaft­li­cher Fort­schritt ist komplex. Er benötigt sowohl ein Set an breit einge­hal­tenen Regeln wie auch die Möglich­keit, von diesen Regeln abzu­wei­chen. Gesell­schaft­li­cher Fort­schritt basiert also auf einem Paradox. Regeln und Büro­kratie. Ein Rechts­staat ermög­licht überhaupt ein gewisses Maß an komplexer und stabiler Gesell­schaft. Aber ein zu enges Regel­kor­sett birgt die Gefahr, dass eine Gesell­schaft erstarrt.

Erst durch Regel­ab­wei­chungen entstehen ökono­mi­sche, soziale oder kultu­relle, also: gesell­schaft­liche Inno­va­tionen. Subkul­turen kulti­vieren die Devianz von gesell­schaft­li­chen Normen mit erheb­li­chem Aufwand und berei­chern damit die Kultur­land­schaft. Sie sind nicht allein: Wir alle über­treten ständig Regeln, mal mit positivem Ergebnis, mal nicht. Wer sich penibel an Regeln hält, gilt schnell als Miesepetra.

Aber auch gesell­schaft­lich haben Abwei­chungen eine Funktion: Sie helfen, flexibel auf eine sich stetig ändernde Welt zu reagieren. Und das müssen liberale Demo­kra­tien, denn sie stehen weltweit unter Druck. Auto­ri­täre Regie­rungen und popu­lis­ti­sche Bewe­gungen und Parteien gewinnen an Zuspruch, nicht wenige Bürge­rinnen und Bürger wähnen sich im Wider­stand zum „System“. Liberale Demo­kra­tien müssen sich beweisen, den Menschen zeigen, dass sie nicht nur in der Theorie die bessere Gesell­schafts­form sind.

Demo­kra­tien brauchen starke Leitplanken

Liberalen Demo­kra­tien ist Raum zum Auspro­bieren von Lebens­ent­würfen oder Geschäfts­ideen eigent­lich eingebaut. Ständiger Dienst nach Vorschrift würde zum Zusam­men­bruch der Gesell­schaft führen. Forschung wäre erkennt­nisarm, das Militär wäre inef­fi­zient, Unter­nehmen unpro­duktiv. Der Soziologe Niklas Luhmann hat diese Notwen­dig­keit der kreativen Auslegung von Regeln einmal auf die griffige Formel der „brauch­baren Ille­ga­lität“ gebracht. Über­tragen auf die Gesell­schaft heißt das nicht, dass das bewusste Verletzen von Gesetzen gut ist. Luhmann verdeut­licht vielmehr den Mehrwert des kreativen Umgangs mit Regeln und das Finden von Lösungen, die die bestehenden Spiel­räume ausnutzen. 

Diese Spiel­räume entstehen vor allem dort, wo keine zu engma­schige Regel­kon­trolle herrscht. In liberalen Gesell­schaften bestehen Leit­planken, die Willkür sinnvoll begrenzen, ohne auf der anderen Seite zu stark Frei­heiten einzu­schränken. In Deutsch­land haben beispiels­weise das Grund­ge­setz und, darauf aufbauend, die Verfas­sungs­ge­richte diese Funktion. Eine relativ breit geteilte Zustim­mung zu den Insti­tu­tionen der Demo­kratie tut ihr übriges.

Weitere Halte­seile, die den Grad der Regel­ab­wei­chung kontrol­lieren, sind beispiels­weise Whist­le­b­lower oder der Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­lismus. Diese seit Günter Wallraff in Deutsch­land bekannte Form des tief­boh­renden Jour­na­lismus hat immer wieder dazu beigetragen, Fehl­ent­wick­lungen aufzu­de­cken: CumEx, Panama-Papers, Wirecard, Miss­brauch im Sport, Nazis in der Bundeswehr.

Staat­liche Abweichungsförderung

Diese Einrich­tungen ermög­li­chen ein produk­tives Katz- und Mausspiel, das allzu dysfunk­tio­nale Folgen von Devianzen aufdeckt und wenn auch nicht verhin­dert, so doch kontrol­liert. Gibt es solche Halte­seile, braucht man keine zu engma­schigen Kontrollen – der Spielraum für Inno­va­tionen steigt. Deshalb sind der Schutz von Whist­le­b­lo­wern und eine funk­tio­nie­rende Presse so wichtig für Demo­kra­tien. Die sich so eröff­nende Möglich­keit, Regel­ab­wei­chungen öffent­lich zu verhan­deln sowie Wandel und Stabi­lität zu vereinen, sind Erfolgs­re­zepte liberaler Demokratien.

Aber können Demo­kra­tien auch aktiv etwas dafür tun, fort­schritt­liche Abwei­chungen zu fördern? Das ist nicht nur ange­sichts der diagnos­ti­zierten Behä­big­keit notwendig, sondern auch ange­sichts Chinas mit viel Geld staatlich gelenkter tech­no­lo­gi­scher Innovationsproduktion.

Staat­liche geför­derte Sprunginnovationen

Eine Antwort auf gesell­schaft­li­cher Ebene ist die Sprung­in­no­va­ti­ons­agentur SprinD. Die bundes­ei­gene Agentur erscheint wie etwas, das es eigent­lich nicht geben kann. Eine staat­liche Abwei­chungs­för­de­rung, die beim Geld nicht ganz so genau hinschaut, ja sogar davon ausgeht, dass nur eins von zehn Projekten erfolg­reich sein wird, dann aber richtig?

Der Einsatz einer solchen Agentur ist viel­leicht nicht nur eine Antwort auf Chinas Erstarken, sondern auch eine poli­ti­sche Reaktion auf die hohe Regel­dichte. Diese führt auch dazu, dass das Anders­ma­chen immer schwie­riger wird. Neue Gentechnik? Verboten. Eine Pilot­an­lage für ein neuent­wi­ckeltes Verfahren? Drei Jahre Geneh­mi­gungs­zeit. Lösungen für diese und viele weitere Verkrus­tungen können Expe­ri­men­tier­klau­seln, Real­la­bore und Express­ge­neh­mi­gungen sein wie sie zuletzt verein­zelt zum Einsatz kamen. Dafür brauchen wir aber eine größere gesell­schaft­liche Offenheit für die Abwei­chung von der Norm, von der Regel.

Wir brauchen einen klugen Staat

Und auf Ebene einzelner Personen? Damit auch indi­vi­duell wieder mehr ins Risiko gegangen wird, sind neue Halte­seile nötig: Solche, die das Abweichen von Lieb­ge­won­nenem und von einge­wöhnten Pfaden ermög­li­chen und fördern, ohne Exis­tenzen zu gefährden. Für Indi­vi­duen können das vom Job unab­hän­gige und ausfi­nan­zierte Fort­bil­dungs­an­ge­bote sein, etwa über ein Bildungs­grund­ein­kommen, oder eine staatlich finan­zierte „Erbschaft“ für alle 25-jährigen, wie es der fran­zö­si­sche Ökonom Thomas Piketty vorschlägt. Diese und andere Maßnahmen können dazu beitragen, Sicher­heit in einer sich schnell wandelnden Welt zu ermöglichen.

Das Span­nungs­ver­hältnis zwischen Regel­ab­wei­chung und Regel­ein­hal­tung lässt sich nie ganz auflösen. Aber es kann selbst zum Motor des Fort­schritts werden, wenn wir kluge Lösungen finden, damit umzugehen. Für die nötigen Halte­seite ist ein Staat notwendig, der Struk­turen und Möglich­keiten schafft. Ein kluger Staat tariert das Gleich­ge­wicht zwischen Sicher­heit und Flexi­bi­lität immer wieder aus. Es dominiert also weder das Recht der Stärkeren noch die Bräsig­keit des Voll­ver­sorger-Staates. Dafür braucht es poli­ti­sche Ideen, die Sicher­heit und Wandel verbinden. So können liberale Demo­kra­tien auch wirklich inno­va­ti­ons­fä­higer sein als auto­kra­ti­sche Staaten und im Wett­be­werb der Systeme wieder als Gewinner den Platz verlassen.

Der Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin „Progres­sives Regieren“ des Progres­siven Zentrums. 

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