Lernziel Kompro­miss­fä­higkeit – Wie Frank­reich die parla­men­ta­rische Demokratie neu entdeckt

Foto: PanoramiC /​ Imago Images

Mit der Regie­rungs­er­klärung von Premier­mi­nis­terin Elisabeth Borne geht ein unerträglich langes Wahljahr zu Ende. Jetzt sollte eigentlich regiert werden. Wie genau, das weiß aller­dings keiner so recht.

Klarstel­lungen

Die Pflicht­aufgabe hat sie hinter sich, jetzt muss Elisabeth Borne die ausge­tre­tenen Pfade der Fünften Republik verlassen und neue Wege finden, die Regier­barkeit ihres kompli­zierten Landes aufrecht zu erhalten. Wie sie es anstellen wird, die einzelnen Opposi­tions-Fraktionen des Parla­ments aus ihrer Schmollecke zu holen, wird in ganz Europa aufmerksam verfolgt werden. Denn ein in sterilen Schar­mützeln verfan­genes, weitgehend paraly­siertes Frank­reich ist kaum im Interesse seiner Nachbarn.

Nach der offizi­ellen Regie­rungs­er­klärung vom 6. Juli – nachmittags in der Assemblée Nationale und abends gleich nochmal im Senat – wird sie jeden­falls nicht in den Sommer­ferien verschwinden, sondern so rasch wie möglich mit den ersten Geset­zes­vor­lagen beginnen, die Kompro­miss­fä­higkeit und ‑bereit­schaft unter den Abgeord­neten auszu­loten. Dass sie dort nicht über die komfor­table absolute Mehrheit ihrer beiden Vorgänger unter Emmanuel Macron verfügt, wurde seit den Wahlen am 12. und 19. Juni in den europäi­schen Medien intensiv kommen­tiert, oft mit stark übertrie­bener Sorge im Unterton, angesichts der angeb­lichen schweren Niederlage für Emmanuel Macron.

Das ist einer­seits ermutigend, denn im Interesse, die Nachbarn besser zu verstehen, wohl wissend, dass man in einer Schick­sals­ge­mein­schaft mit ihnen verbunden ist, entsteht die europäische Öffent­lichkeit, deren Nicht-Existenz klischeehaft in den Sonntags­reden beklagt wird. Anderer­seits verdienen manche düsteren Vorah­nungen, angemessen einge­ordnet zu werden.

So wäre zunächst einmal klarzu­stellen, dass Emmanuel Macron und seine in Renais­sance umgetaufte Zentrums-Bewegung die Wahl nicht verloren, sondern gewonnen haben. Natürlich war der Sieg in der Präsi­dent­schaftswahl im April weniger deutlich als manche sich das erhofft hatten, und das Ergebnis vom Juni kann man, wie es die Regie­rungs­spre­cherin selber einräumte, als enttäu­schend betrachten. Dennoch gilt festzu­halten, dass beide Wahlen Emmanuel Macron einen recht klaren Regie­rungs­auftrag erteilt haben. Mehr als 40% der Sitze im Abgeord­ne­tenhaus – davon können viele Großpar­teien in Europe nur träumen. Eine „Schlappe“ (wie von der dpa über die deutschen Nachrich­ten­kanäle geschickt), oder eine „Abfuhr“ sehen dann doch anders aus. Und dass in diesem permanent überreizten Land ein Präsident und eine bedeu­tende Zahl von Abgeord­neten überhaupt wieder­ge­wählt werden, ist an sich schon ein beein­dru­ckender politi­scher Erfolg.

Die von Jean-Luc Mélen­chons Links-Allianz NUPES hartnäckig in die Mikro­phone diktierte Behauptung, die neue Regierung habe keinerlei demokra­tische (sic!) Legiti­mität – unter anderem deshalb, weil Frau Borne ihren Abgeord­neten-Sitz „nur“ mit 52% gewonnen habe – wirkt befremdlich. Sie erinnert ein wenig an den bundes­deut­schen Wahlabend 2005, als ein von seiner Aufholjagd sichtlich berauschter Gerhard Schröder sich im Fernsehen als Wahlsieger gab und der gewählten neuen Kanzlerin die Regie­rungs­fä­higkeit absprach. Und sie gipfelt nun in einem aussichts­losen, trotzig in den Raum gewor­fenen Misstrau­ens­votum, dessen Sinn wohl haupt­sächlich darin liegt, die eigene Partei-Disziplin zu zementieren.

In Wirklichkeit erscheint aber gerade die NUPES als der eigentlich Wahlver­lierer, insbe­sondere gemessen an dem eigenen Anspruch, eine unwider­steh­liche linke Dynamik zu lancieren. Gerade mal ein Viertel der Sitze wurde gewonnen (147), während im ersten Präsi­dent­schafts-Wahlgang im April die verschie­denen Vertreter der Linken auf immerhin 32% der Stimmen gekommen waren.

Richtig ist, dass das Wahler­gebnis ein relatives Verblassen der Attrak­ti­vität von Emmanuel Macrons Politik und seiner Bewegung wider­spiegelt. Richtig ist auch, dass die extremen Ränder des Partei­en­spek­trums – die France Insoumise mit 75 und das Rassem­blement National mit 89 Sitzen – gestärkt wurden. Dennoch bleibt unbestreitbar, dass die ach, so oft beschworene tiefe Abneigung gegen den Präsi­denten und seine angeb­liche Arroganz weit davon entfernt ist, in der franzö­si­schen Gesell­schaft mehrheits­fähig zu werden, ganz im Gegenteil.

Und so wurde nun, ganz wie es die Verfassung vorschreibt, eine Premier­mi­nis­terin aus der stärksten Partei des Parla­ments mit der Regie­rungs­bildung beauf­tragt. Der einzig wirklich neue Faktor in der republi­ka­ni­schen Gleichung ist, das letztere eben ausnahms­weise nicht absolut ausfällt. Eigentlich gibt es keinen Grund, dies zu drama­ti­sieren, denn daran wird die franzö­sische Demokratie nicht von heute auf morgen unter­gehen. Freilich: sie wird sich anpassen müssen, wenn nicht gar neu erfinden. Ob ihr das gelingen wird, ist eine offene Frage. Und die Ausgangs­po­sition, soviel muss man den immer besorgten Stimmen aus den Medien einräumen, ist keine einfache.

Ausgangslage

In der Tat liegt eine seltsame, teilweise gar surrea­lis­tische Stimmung über der franzö­si­schen Politik. Das hängt nicht nur an der Situation, sondern auch den handelnden Personen.

Der Präsident. Fünf Jahre lang omnipräsent und hyper­aktiv, wirkt er dieser Tage seltsam abwesend. Angeschlagen von den nicht optimalen Wahler­geb­nissen? Es sähe ihm nicht ähnlich. Aber müde von fünf Jahren pausen­loser Krisen­be­wäl­tigung, das auf jeden Fall. Man sieht ihm die Spuren des Dauer­drucks im Gesicht an. Dass er erst einmal abwarten möchte, wie das Parlament auf die ersten Gesetze, darunter die angesichts der Inflation von allen erwar­teten Kaufkraft-Förde­rungs­maß­nahmen, reagieren wird, lässt sich nachvoll­ziehen. Fakt ist, dass er keine klare Richtung oder kohärentes Programm vorge­geben hat: weder wurde sie im Präsi­dent­schafts­wahl­kampf formu­liert, noch klang sie jetzt in der Regie­rungs­er­klärung von Elisabeth Borne durch.

Die Premier­mi­nis­terin. Die langjährige Staats­die­nerin mit sozial­li­be­ralen Überzeu­gungen, ist sich des undank­baren Charakters ihrer Aufgabe voll bewusst. Ob an ihr nagt, dass sie trotz unbestrit­tener Kompetenz nur die zweite Wahl des Präsi­denten war, lässt sie nicht erkennen. Ihrer Autorität ist aller­dings nicht unbedingt förderlich, dass Emmanuel Macron sich zuvor eigentlich schon auf die christ­de­mo­kra­tische Bürger­meis­terin von Reims, Catherine Vautrin, festgelegt hatte, bevor ihm in seiner eigenen Koalition deutlich gemacht wurde, ein dritter eindeutig rechts angesie­delter Regie­rungschef sei zu viel des Guten. Insofern wird sie in den kommenden Wochen und Monaten gleich­zeitig Verhand­lungs­ge­schick – das ihr von ehema­ligen Kontra­henten in Unter­nehmen und Gewerk­schaften unumwunden nachgesagt wird – und Durch­set­zungs­ver­mögen an den Tag legen müssen. Immer wissend, dass sie jederzeit vom Präsi­denten abberufen werden kann.

Das Parlament. Es setzt sich zusammen aus einer Regie­rungs­partei, die das Verhandeln noch nicht gewohnt ist, und aus Opposi­ti­ons­frak­tionen, die dazu verdammt scheinen, in einem ewigen Wahlkampf­modus zu verharren, in dem jegliche Kompro­miss­be­reit­schaft syste­ma­tisch als Verrat an den Überzeu­gungen der Basis gebrand­markt wird. In einer Situation, in der keiner als erster Schwäche zeigen und einknicken will, darf man sich auf viel gespielte Entrüstung und rebel­lische Posen vor den Kameras und Mikro­phonen gefasst machen.

Es sei denn, die eine oder andere Front bröckelt unter den mit der Zeit glaub­wür­diger werdenden Blockade-Vorwürfen der Regie­rungs­partei (verstärkt vom Chor der Akteure aus der Zivil­ge­sell­schaft, die von einer Lähmung des Parla­ments betroffen wären und ihrer Enttäu­schung in den Medien Luft machen würden).

Möglich wäre das insbe­sondere bei Les Républi­cains (62 Sitze), deren interne Spaltung zwischen reaktio­nären Hardlinern und vernünf­tigen Konser­va­tiven auf Dauer schwierig zu kaschieren sein wird. Zumal nach dem Rücktritt der Partei­führung eine program­ma­tische Neuaus­richtung unmit­telbar bevorsteht.

Auch die NUPES-Allianz ist weniger solide, als die wechsel­sei­tigen Treue­schwüre glauben machen. Einigen der 23 grünen oder der 27 sozia­lis­ti­schen Abgeord­neten wird die aggressive Umklam­merung der France Insoumise irgendwann unangenehm werden. Insbe­sondere, wenn es um Europa geht, wo grund­sätz­liche ideolo­gische Stand­punkte frontal aufeinanderprallen.

Unter­schätzen sollte man schließlich man auch nicht die tiefe Sehnsucht nach insti­tu­tio­neller Respek­ta­bi­lität innerhalb der 89 Sitze starken Fraktion des Rassem­blement National. Wohl wissend, dass die kommende Legis­la­tur­pe­riode ein echter Eignungstest für ihre unver­hofft starke Fraktion sein wird, hat ihr Marine Le Pen ein tadel­loses Verhalten im Abgeord­ne­tenhaus angeordnet und gibt sich selbst als verant­wor­tungs­volle Vertre­terin eines wachsam-konstruk­tiven Parla­men­ta­rismus. Es ist bezeichnend, dass sie den Partei­vorsitz in Bälde abgeben wird, um sich ganz um die Fraktion zu kümmern. Gut möglich, dass manche der anste­henden Geset­zes­vor­lagen nur dank ihrer Stimmen verab­schiedet werden wird.

Angesichts dieser noch nie dagewe­senen, beson­deren Konfi­gu­ration sind Speku­la­tionen aller Art Makulatur. Die Dinge scheinen gleich­zeitig festge­fahren und hochgradig labil. Stand heute, im Sommer 2022, gibt es im Grunde zwei Optionen für den neuen franzö­si­schen Parlamentarismus.

Entweder die Premier­mi­nis­terin und ihre Partei schaffen es, wie auch immer, einen funktio­nie­renden Modus Vivendi in der Assemblée Nationale zu etablieren und für jedes Gesetz aufs Neue erfolg­reich um eine Mehrheit zu werben. Ein solches Vorgehen käme letztlich einem behut­samen Lernprozess gleich, an dessen Ende Kompro­miss­be­reit­schaft und ‑fähigkeit ihr Stigma weitgehend verloren hätten.

Oder sie scheitert an einer dauer­haften Blockade und einer ermüdenden Kakophonie indignierter gegen­sei­tiger Schuld­zu­wei­sungen. In diesem Fall würde es nicht lange dauern, bis der Präsident sich mit ernster Miene in den Abend­nach­richten ans Volk wendet und mit großem Bedauern und staats­män­ni­schem Pathos die Auflösung des Parla­ments und Neuwahlen ankündigt. So weit muss es nicht kommen, aber auszu­schließen ist es nicht.

System­frage

Allen tages­po­li­ti­schen Überle­gungen ungeachtet ist die Wahl vom Juni ein Offen­ba­rungseid der Fünften Republik. Nicht einmal die Hälfte der Wahlbe­rech­tigten trat den Urnengang an. In einer hochpo­li­ti­sierten Gesell­schaft ist das ein beschä­mendes Zeugnis für Insti­tu­tionen und Akteure.

Die Erklä­rungen für ein derart massives Desin­teresse der Bürger sind natürlich vielschichtig. Sie reichen von prakti­schen Gründen (eine Briefwahl existiert nicht, sondern lediglich die umständ­liche Bevoll­mäch­tigung eines Stell­ver­treters) bis zu konjunk­tu­rellen Umständen (allge­meine Müdigkeit nach langen Wahlkampf-Monaten und schönes Sommer­wetter am Wahlsonntag), aber sie greifen alle zu kurz, wenn sie nicht gleich­zeitig die große System­frage stellen.

Denn die von Charles de Gaulle vor sechzig Jahren per Handstreich und Referendum durch­ge­setzte Direktwahl des Präsi­denten – eine Vorge­hens­weise, die er nach Aussagen selber „am Rande der Legalität“ sah – hat ein Regime hinter­lassen, das die Verhal­tens­weisen sowohl der Politiker als auch der Wähler nachhaltig kondi­tio­niert hat.

Die Präsi­dent­schaftswahl hat die politische Ausein­an­der­setzung auf schmerz­hafte Weise von der program­ma­ti­schen Debatte auf einen Showdown charis­ma­ti­scher Persön­lich­keiten reduziert. Sie hat alle Teilnehmer am politi­schen Leben auf schrill-hyste­rische Konfron­tation statt ausglei­chender Verhand­lungs­fä­higkeit geeicht. Sie hat die Wähler­schaft dazu erzogen, sich in irratio­naler Erwartung eines einzelnen Heils­bringers von der Komple­xität der Insti­tu­tionen abzuwenden (ein großer Teil der Bürger hat völlig falsche Vorstel­lungen von der Rolle und Funktion der Natio­nal­ver­sammlung und ihrer Abgeord­neten). Sie hat ein Wahlkampf-Monstrum ins Leben gerufen, in dem Zugeständ­nisse oder Kompro­misse ein Zeichen der Schwäche sind und die Wahl des Siegers ausschließlich auf der Ablehnung des verblie­benen Gegners beruht. Und sie zemen­tiert, trotz aller gegen­tei­liger Beteue­rungen und Anstren­gungen, den politi­schen und mentalen Zentra­lismus der Republik, der die Gräben vertieft, statt sie einzuebnen.

Es ist falsch, und denkfaul, zu behaupten, dieses System entspräche der „Menta­lität“ und den Wünschen der Franzosen. Die Franzosen als ewige Streit­hähne zu porträ­tieren, als hitzköpfige Debat­tierer, denen an der perma­nenten Konfron­tation (Streiks! Demos! Gelbwesten!) mehr gelegen ist als an der konstruk­tiven Diskussion, ist ein dümmliches Abrut­schen in haltlose völker­psy­cho­lo­gische Stereo­typen. Die empirische Realität ist eine andere: in Brüssel und Straßburg zeigen sich franzö­sische Europa­ab­ge­ordnete pragma­tisch offen für nicht-ideolo­gische, überpar­tei­liche Zusam­men­arbeit. In der „Großen Natio­nalen Debatte“ von 2019und der daraufhin ins Leben gerufenen innova­tiven Bürger­ver­sammlung zum Klima­wandel, sowie in zahllosen lokalen Initia­tiven zur aktiven Bürger­be­tei­ligung zeichnet sich das Bild einer Nation ab, die nichts lieber wäre als eine konstruktiv an ihrer Zukunft arbei­tende Gemeinschaft.

Sowohl das franzö­sische Präsi­di­al­regime als auch das mit ihm einher­ge­gangene strenge Mehrheits­wahl­recht hatten den Auftrag, der Insta­bi­lität des Parla­men­ta­rismus der Vierten Republik ein Ende zu bereiten. In der Partei­en­land­schaft des ausge­henden zwanzigsten Jahrhun­derts ist ihnen das gelungen. Aber wie die aktuelle Konstel­lation mehr als deutlich belegt, sind sie den Bedürf­nissen des Landes und seiner Bürger nicht mehr angemessen.

Im Gegenteil: sie sind zu kontra­pro­duk­tiven Brems­klötzen für die Gesell­schaft geworden. Die vier Wahlsonntage des Jahres 2022 enthüllen eine ausge­laugte, angeschlagene, verun­si­cherte Republik, die einen Neuanfang bitter nötig hätte. Aller­dings ist es müßig, auf eine massive Bewusst­werdung über die Schäd­lichkeit der Präsi­dent­schaftswahl zu hoffen. Jede Infra­ge­stellung dieses schein­baren Höhepunkts des demokra­ti­schen Lebens würde in weiten Kreisen auf bitteren Wider­stand stoßen und als unerträg­liche Bevor­mundung durch eine abgehobene Elite angeprangert.

Insofern bleibt als erster Baustein für die Wieder­be­lebung der Republik die überfällige Einführung des Propor­tio­nal­wahl­rechts. Um der zunehmend fragmen­tierten Wähler­schaft eine gerechtere Reprä­sen­tierung im Parlament zu ermög­lichen, hatte sie Emmanuel Macron bereits vor der Wahl 2017 angekündigt. Dass er die Reform unter wenig überzeu­genden Vorwänden letztlich nicht durch­ge­führt hat, wurde ihm auch innerhalb seiner Bewegung als echter Fehler angekreidet.

In der kommenden Legis­la­tur­pe­riode hätte er sogar noch leichtere Hand, sie durch­zu­setzen, denn an ihr ist fast allen Parteien gelegen. Kritik­punkte würden sich lediglich auf Details konzen­trieren, und kaum einer würde das Risiko eingehen, sie zu torpe­dieren und als derjenige dazustehen, an dem das Projekt gescheitert ist. Angesichts der ausge­sprochen labilen aktuellen Konfi­gu­ration würde auch der ewige Vorwurf der Insta­bi­lität nicht mehr verfangen.

Natürlich macht manchen Angst, dass sich die extreme Rechte im Propor­tio­nal­wahl­recht noch verstärken würde. Und tatsächlich bindet sie heute ungefähr ein Drittel des Wähler­po­ten­tials. Anderer­seits würde ein neues Wahlrecht auch die Verhal­tens­weisen beein­flussen, Koali­tionen und Absprachen notwendig machen, den Ton des Wahlkampfs ändern, und, wer weiß, den Franzosen vielleicht sogar in Erinnerung rufen, dass die Parla­mentswahl eigentlich die Priorität ihrer Aufmerk­samkeit haben sollte.

Aussichten

Bis zur Neuerfindung der Fünften Republik ist es noch weit hin. Die Moment­auf­nahme zeigt eine Krisen­si­tuation, die wie viele Krisen gleich­zeitig Bedro­hungen und Chancen bereithält. Drama­tisch ist sie noch nicht: sowohl der Präsident als auch die Volks­ver­tretung sind demokra­tisch gewählt, und es gibt keinen Grund, jetzt schon an der Fachkom­petenz der Regierung zu zweifeln.

Dennoch steht Elisabeth Borne vor einer großen Heraus­for­derung. Sie muss ein auf Verwei­ge­rungs­haltung program­miertes Parlament handlungs­fähig machen. Und sie muss unter Beweis stellen, dass sich die Regierung den Fragen zuwendet, die bei den Bürgern an oberster Stelle stehen. Dazu gehört in erster Linie die Abfederung des von vielen als unerträglich empfun­denen Anstieg der Lebens­hal­tungs­kosten. Ein anschwel­lendes Gefühl des „Jetzt reicht’s!“ hat 2018 die Gelbwesten auf die Straßen und Kreis­ver­kehre des Landes getrieben. Und dazu gehört auch die immer sicht­barere Krise der identi­täts­stif­tenden öffent­lichen Dienste in Kranken­häusern, Sekun­dar­schulen, oder Polizei-Einheiten, die zu hochgradig unattrak­tiven Arbeit­gebern herab­ge­sunken sind und die Schwie­rig­keiten haben ihrer Mission angemessen nachzu­kommen. Ihre Reparation wird mehr als nur Geld kosten.

Die nächsten Monate werden, je nach Sicht­weise, spannend oder beklemmend zu verfolgen sein. Gut möglich, dass die Premier­mi­nis­terin in ihrer Rolle als Erzie­hungs­hilfe in parla­men­ta­ri­scher Demokratie positiv überra­schen wird. Dem Land wäre es zu wünschen. Kurzfristig im Sinne einer effek­tiven Handlungs­fä­higkeit, und auf lange Sicht im Hinblick auf eine Revita­li­sierung einer erschöpften Republik.

 

Textende

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