Georgien am Scheideweg: „Hoffnung ist unsere Waffe“
In Georgien entscheidet sich in diesen Tagen, ob mit der Kraft der entschlossenen Proteste die Repressionen der pro-russischen Regierung zurückgedrängt und Neuwahlen herbeigeführt werden können. Mit Ausnahme der baltischen Staaten und im Gegensatz zu Großbritannien und den USA agieren EU-Staaten wie Deutschland eher passiv. Das ist beschämend, weil die neuerlichen Proteste entstanden, nachdem die durch Wahlmanipulation ins Amt gekommene Regierung Ende November die Beitrittsverhandlungen mit der EU auf Eis gelegt hat.
Georgien befindet sich kurz vor dem orthodoxen Weihnachten am 7. Januar an einem Scheideweg. Es geht um die Frage, ob das Land zu einem russischen de facto Protektorat von Putins Gnaden à la Belarus wird oder aber seinen Weg hin zur Europäischen Union wird fortsetzen können.
Was ein Leben unter russischer Vorherrschaft bedeutet, weiß man in Georgien sehr genau, seit Russland im Krieg 2008 die beiden Regionen Abchasien und Süd-Ossetien und damit 20 Prozent des Landes besetzt hält. Vor allem weiß man es, seit die seit 2012 amtierende Regierungspartei „Georgische Traum“ am 28. November die Beitrittsverhandlungen mit der EU auf das Jahr 2028 verschoben hat und mit brutaler Polizeigewalt auf die noch am selben Abend ausgebrochenen Proteste losgegangen ist. Und das, obwohl seit Jahren rund 80 Prozent der Georgier eine EU-Mitgliedschaft befürworten.
Die Partei „Georgischer Traum“ konnte nur aufgrund von massiver Wahlbeeinflussung, die auch die OSZE-Wahlbeobachtung bestätigt, Ende Oktober erneut die Regierung bilden. Heute, am 29. Dezember wurde der am 14. Dezember mit den Stimmen des „Georgischen Traums“ gewählte neue Staatspräsident Micheil Kawelaschwili vereidigt. Zuvor hatte der Ministerpräsident Irakli Kobachidse indirekt angedroht, die Staatspräsidentin Salome Surabischwili zu verhaften, sollte sie den Präsidentenpalast nicht freiwillig räumen. Das Ziel dahinter: mit Micheil Kawelaschwili einen regierungs- und Moskau treuen Mann ins Amt zu hieven. Surabischwili hat den Amtssitz verlassen, zugleich aber klargestellt, dass sie sich weiterhin als einzig legitime Staatspräsidentin sieht und auf Neuwahlen des Parlaments besteht.
Das Regierungsregime will einen Putin-Fan zum Staatspräsidenten küren
Die meisten Mitglieder der EU schauen mit einer verblüffenden Gleichgültigkeit mehr oder weniger zu, haben offenbar nichts aus dem Freiheitskampf der Ukrainer gelernt. Vielleicht scheuen sie auch den Konflikt mit Putin.
Der designierte neue Staatspräsident Kawelaschwili ist ein ehemaliger Fußballspieler, der aufgrund fehlender Formalbildung nicht Präsident des georgischen Fußballverbands werden konnte und allgemein als nicht dem Amt gewachsen gilt. Seine Wahl am 14. Dezember wird von Oppositionellen als illegitim erachtet, weil sie mit der Parlamentsmehrheit des „Georgischen Traums“ zustande kam, deren Legitimität wiederum in Frage steht. Sämtliche Oppositionsparteien boykottieren seit der manipulierten Wahl im Oktober die Parlamentssitzungen.
Die Entscheidung des Kremltreuen „Georgischen Traums“ – von Oppositionellen auch „Georgischer Alptraum“ genannt – für Kawelaschwili, sagt viel über die Abwärtsspirale aus, die Georgien seit 2012 nimmt. Damals gewann der „Georgische Traum“ erstmalig die Parlamentswahl und übernahm die Regierungsgeschäfte. Schrittweise fand seither eine Hinwendung zu Russland statt.
Die amtierende Staatspräsidentin hat die Seiten in Richtung Opposition gewechselt
Salome Surabischwili hingegen hat, obwohl sie einst für die Regierungspartei antrat, dem „Georgischen Traum“ den Rücken gekehrt. In einer kürzlichen Rede im Europäischen Parlament analysierte sie präzise, wie die Regierung mit ihrer durch Manipulationen erlangten Parlamentsmehrheit systematisch repressive Gesetze erlässt, die den demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien der georgischen Verfassung fundamental widersprechen. Inzwischen ist Surabischwili längst eine Symbolfigur der Straßenproteste.
Angesichts der Brutalität, mit der das Regierungsregime in den ersten Tagen der Proteste gegen Demonstranten vorgegangen ist, kann man sich ausmalen, was künftig droht. Denn mit einer Gesprächsbereitschaft des „Georgischen Traums“ gegenüber der sich selbst weiter im Amt sehenden Surabischwili ist kaum zu rechnen, sehr wohl aber mit einer neuen Gewaltspirale. Bereits heute ging die Polizei kurz nach der Amtseinführung Kawelaschwilis gewaltsam gegen Demonstranten vor.
Wie das Regime friedliche Demonstranten verprügeln und verhaften lässt
Wie ausgeprägt die rohe Gewalt seitens der Polizei und Spezialkräfte sein kann, zeigt das Beispiel von Zviad Ratiani, einem hochangesehenen Lyriker, der am 28. November als einer der Ersten aus den Demonstranten herausgezogen wurde. Er sah sich einer Art Spalier auf ihn einprügelnder Polizisten ausgesetzt, wie hier im Video zu sehen ist, um dann im Polizeiauto weiter geschlagen zu werden. Ein Gericht verurteilte ihn zu acht Tagen Gefängnis. Die Linientreue der Justiz ist symptomatisch für das, was der „Georgische Traum“ seit 2012 angerichtet hat.
Hans Gutbrod, ein Politikwissenschaftler, der seit 1999 vor Ort arbeitet und an der Ilia State University, der führenden Universität des Landes, als Professor lehrt, schreibt: „Was in Georgien derzeit passiert, ist ein umfassender Angriff auf die verfassungsgemäße Ordnung des Staates – man kann es als einen Staatsstreich von oben bezeichnen. Eine kleine Clique versucht alle Institutionen zu übernehmen und sich das gesamte Land gefügig zu machen. Es ist also mehr als nur eine außenpolitische Orientierung, brutale Übergriffe auf Demonstranten oder eine rabiate Wahlfälschung. Es geht wirklich um die gesamte Zukunft des Landes.“
Nasch russischem Vorbild hat der „Georgische Traum“ dieses Jahr ein „Agentengesetz“ gegen NGOs, die Mittel aus dem Ausland erhalten, sowie ein Anti-LGBTQ-Gesetz erlassen.
Die furchtlose Entschlossenheit der Protestierenden: „Die Hoffnung ist unsere Waffe“
Aber wie viele demonstrierende Georgier lässt sich der erwähnte Lyriker Zviad Ratiani nicht entmutige. Jeden Abend demonstriert er auf dem Prachtboulevard Rustaveli in Tbilisi, obwohl er zwei Tage nach seiner Entlassung erneut verprügelt wurde, dieses Mal von offenbar jungen regierungsnahen Schlägertrupps. Im Interview mit mir sprach er von „Putins Regime, das mein Land zerstört“ und sagte weiter: „Wir kämpfen nun gegen das Böse, gegen ein Regime, das allem Schaden zufügt, an was wir glauben.“ Zugleich bleibt er optimistisch, sieht den jetzigen Kampf als seine Verpflichtung und betont, dass die Angst der Protestierenden von stärkeren Gefühlen wie Ärger und das Spüren von Verantwortung für die Zukunft des Landes überlagert werde. Man sei bereit, zu leiden, geschlagen und notfalls sogar getötet zu werden, auch wenn Letzteres hoffentlich nicht passiere. „Die Hoffnung ist unsere Waffe“ („Hope is our gun“), so der Poet, der seine Worte sorgsam wählt.
Freiheit oder ein Belarus 2.0
Die verbreitete Gleichgültigkeit der EU als auch Deutschlands ist beschämend. Die Analyse der „European Stability Initiative“ vom 25. Dezember 2024 verdeutlicht, was auf dem Spiel steht: Die EU muss
die große strategische Frage beantworten, der die europäischen Demokratien heute ausgesetzt sind: Werden sie eine neue Teilung Europas akzeptieren, wo ein Land im Kandidatenstatus für die EU-Mitgliedschaft und Mitglied des Europarats zu einer neuen Volksrepublik wie Belarus wird: formal unabhängig aber in Wahrheit ein russischer Satelitenstaat. Wo Georgien in der Interessenssphäre Putins verschwindet? Wo der gesamte Zugang zum Südkaukasus durch Russland kontrolliert wird? Wo die EU einen Beitrittskandidaten mit einer pro-europäischen Bevölkerung durch Passivität verliert?“
Und weiter:
Nicht ein Premierminister, nicht ein Außenminister kam nach Tbilisi, um Unterstützung für die pro-europäische Demonstranten auszudrücken.
...
Verwirrt und unvorbereitet auf die Fragen, die bald aufkommen werden: ‘Wer hat die georgische Demokratie verloren?‘ Oder die Frage, die jetzt gestellt werden sollte: ‚Wie kann die georgische Demokratie verteidigt werden?‘ “
Massive Proteste im ganzen Land und quer durch alle Bevölkerungsschichten
ESI-Vorsitzender Gerald Knaus sagt dazu: „Europa sendet ein fatales Signal der Schwäche. Jetzt müsste die deutsche Außenministerin mit anderen nach Tiflis reisen, und dort die Forderung nach freien fairen Neuwahlen unterstützen. Stattdessen sagen europäische Außenpolitiker intern, dass die beste Georgien-Politik eine ‚Pontius-Pilatus-Politik‘ ist. Man lässt die Hinrichtung einer Demokratie klagend zu, und will sich dann die Hände in Unschuld waschen.”
Hans Gutbrod wiederum beschreibt die Proteste als außergewöhnlich: „In dieser Breite ist in Georgien eigentlich noch nie mobilisiert worden. Es gibt Proteste im ganzen Land, auch in kleinen Städten gehen die Bürger für die europäische Zukunft des Landes auf die Straße. Viele Berufsgruppen demonstrieren, mehrere georgische Botschafter sind zurückgetreten, zahlreiche Beamte und andere Staatsbedienstete haben Protestbriefe unterzeichnet. Besonders wichtig ist, dass fast zweitausend Unternehmen gegen den Kurs der Regierung Stellung bezogen haben. Und auch nach brutalen Übergriffen kommen die Menschen wieder mutig am nächsten Abend zur nächsten Versammlung.“
Sanktionen seitens des UK, der USA und der baltischen Staaten
Immerhin: Die baltischen Staaten, Großbritannien und die USA haben mittlerweile Sanktionen gegen bestimmte georgische Regierungsvertreter wie den Innenminister Vakhtang Gomelauri verhängt, die für die Gewalt verantwortlich sind. Die baltischen Staaten haben dabei von Beginn an auch den „Schattenmann“ und Milliardär Bidzina Ivanishvili einbezogen. Er ist ein exzentrischer Oligarch, der sein Geld in Moskau gemacht hat und 2012 den „Georgischen Traum“ erschaffen hat, mit dem er Georgien seither kontrolliert. Ivanishwilis Vermögen entspricht rund einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts Georgiens. Am 27. Dezember haben auch die USA ihre Sanktionen auf Ivanishvili ausgedehnt.
Auf die personenbezogenen Sanktionen Großbritanniens und der USA, die übrigens auch ein Einfrieren von Vermögenswerten umfassen, reagierte der georgische Ministerpräsident Irakli Kobachidse, der bereits vor drei Wochen vom „Auslöschen“ von Oppositionellen träumte, äußerst empfindlich. Er kündigte am Folgetag trotzig an, Gomelauri sowie weitere Sanktionierte nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten mit einer Ehrenmedaille auszuzeichnen und sämtliche ihrer finanziellen Einbußen infolge der Sanktionen durch den Staat zu kompensieren.
Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fand endlich am zweiten Weihnachtstag deutliche Worte und brachte wegen der „anti-euopäischen Wende“ der Regierung und des Einsatzes von „Einschüchterung, Gewalt und Wasserwerfern“ eine förmliche Aussetzung des EU-Beitrittsprozesses ins Spiel. Dennoch ist Georgien aus der deutschen Öffentlichkeit weithin verschwunden.
Wir sollten die mutigen Georgier unterstützen
Vielleicht speist sich die deutsche wie die europäische Gleichgültigkeit auch daraus, dass Georgien für viele ähnlich wie die Ukraine eine Art „terra incognita“ ist oder als irgendwie zu Russland gehörend gilt. Besonders in Deutschland hält sich zudem die altbekannte verkitschte Russlandromantik und die Angst, es sich mit Putin zu verderben. Dabei wird übersehen, dass auch die Freiheit des Westens insgesamt in beiden Ländern verteidigt wird.
„The time is now“. Der „Georgische Traum“ erlässt wie inzwischen immer hektischer neue repressive Gesetze. Etwa jüngst das Verbot, sich auf Demonstrationen mit Ausrüstung im Gesicht zu schützen, was angesichts des eingesetzten Tränengases weit verbreitet war.
Das Regime will den Staatsdienst säubern
Ein anderes neues Gesetz öffnet einer Säuberung des Staatsdienstes Tür und Tor: Staatbedienstete können künftig ohne Angabe von Gründen mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Die Universitäten wurden von der Regierung aufgefordert, sich schriftlich zu verpflichten, ihre Studenten von Demonstrationen abzuhalten. Von allen staatlichen Universitäten weigerte sich einzig die Ilia State University, dieses Dokument zu unterzeichnen.
Überdies dürfen nun auch Menschen ohne georgische Staatsangehörigkeit und Sprachkenntnisse Staatsbedienstete werden. Aus Sicht der Oppositionellen ist dies das Signal für eine befürchtete Russifizierung des georgischen Staatsdienstes.
Noch hat Europa die Wahl
Noch hat Europa die Wahl, Georgien vor einem Abdriften unter russische Kontrolle zu schützen. Aber die Zeit drängt. Was die Bundesregierung tun kann, hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats in einer fraktionsübergreifenden Resolution erklärt, deren Umsetzung auch deutsche Experten in einen Offenen Brief von Experten an die Bundesregierung fordern. Dazu zählt, sich einzusetzen für:
- Neuwahlen unter freien und fairen Bedingungen
- Ein sofortiges Ende der Gewalt und der willkürlichen Inhaftierung von Demonstranten
- Effektive Sanktionen der europäischen Staaten gegen den georgischen Oligarchen Bidzina Ivanishvili, den „starken Mann“ des Regimes, sowie die Verantwortlichen für Wahlmanipulationen und exzessive Gewalt
- Die sofortige Freilassung der inhaftierten Demonstranten
- Die Achtung des Mandats der amtierenden georgischen Präsidentin bis zur Durchführung fairer und freier Neuwahlen.
Es ist höchste Zeit, dass Europa endlich realisiert, was in Georgien auf dem Spiel steht. Für die Menschen, die gestern landesweit Hand-in-Hand in Form von Menschenketten demonstrierten, geht es um die Entscheidung für die Freiheit und gegen die Unterjochung unter Russland.
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