Großkundgebung in Tiflis: Georgien gehört zu Europa!
Am 20. Juni 2022 haben mehr als 70.000 Menschen in mehreren Städten Georgiens die starke Sehnsucht des georgischen Volkes manifestiert: Georgien gehört zu Europa!
Allein die Demonstration in Tiflis gilt Beobachtern zufolge als die größte Kundgebung seit der Rosenrevolution 2003. Es waren überwiegend junge Leute, die ihre Zukunft nur in der europäischen Familie sehen und nicht im Einflussbereich des nördlichen aggressiven Nachbarlandes.
Am 24. Juni wird der Europäische Rat eine historische Entscheidung für das assoziierte Trio (Ukraine, Georgien und Moldau) treffen. Während die Europäische Kommission der Ukraine und Moldau Kandidatenstatus vorgeschlagen hat, erhielt Georgien – einst Vorreiter unter den drei – nur eine Beitrittsperspektive. Dies ist auf fehlende Reformfortschritte und deutliche Rückfälle in der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zurückzuführen.
Die Kernbotschaft der georgischen Bürgerinnen und Bürger lautet, dass der europäische Weg ihres Landes seit Jahrzehnten normativ zwingend ist. Sie betrachten sich seit jeher als Europäer und Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Demokratie waren bereits in der Verfassung des demokratischen Georgiens von 1921 verankert, welches von Deutschland als eines der ersten Länder anerkannt wurde. Ein ganzes Jahrhundert später, nach den sowjetischen Repressionen und den von Russland ausgetragenen Konflikten und Kriegen, glauben sie mehr denn je, dass die einzige tragfähige Zukunft für ein demokratisches, freies und wohlhabendes Georgien eben in der Europäischen Union liegt.
Aus diesem Grund wird es keiner Regierung gelingen, das Land von seinem europäischen Weg abzubringen. Der Marsch für Europa in Tiflis und anderen Großstädten hat eindrucksvoll gezeigt, dass auch diejenigen, die die vom Oligarchen Bidsina Iwanischwili kontrollierte jetzige Regierungspartei gewählt haben, für den EU-Beitritt sind. Das bedeutet, dass die proeuropäische Bewegung weitaus größer als irgendeine politische Partei ist.
Set dem 24. Februar leben wir alle in einer anderen Welt. Durch den zerstörerischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und dank der für unsere Freiheit kämpfende Ukrainerinnen und Ukrainer ist ein einzigartiges Zeitfenster in der EU entstanden. Diese außergewöhnliche geopolitische Realität erfordert von der EU und besonders von Deutschland eine mutige und wertebasierte Reaktion. Es liegt im strategischen Interesse der EU, die drei assoziierten Staaten stärker an die europäische Wertordnung zu binden.
Die Georgierinnen und Georgier stehen in diesen schwierigen Zeiten fest an der Seite des ukrainischen Volkes und rufen zu der starken und unmissverständlichen Botschaft auf, dass Georgien zusammen mit der Ukraine und Moldau zur europäischen Familie gehört.
Warum die EU das Trio nicht spalten sollte
Seit 2020 sind die Ukraine, Georgien und Moldau als assoziiertes Trio in Brüssel und Berlin etabliert und versuchen Schulter an Schulter ihre gemeinsamen Herausforderungen und Lösungsvorschläge für eine effiziente europäische Annäherung herauszuarbeiten. Die Erweiterungsgeschichte der EU zeigt, dass eine Integration innerhalb eines Trios ähnlich wie bei den Balkanstaaten erfolgreicher sein kann als für einzelne Staaten. Obwohl sich die drei Länder voneinander unterscheiden, haben alle ähnliche Herausforderungen und Probleme, worauf die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme zu Recht hinweist.
Sollte aber der Europäische Rat die Entscheidung der Kommission über die Verleihung des potenziellen Kandidatenstatus nicht mit konkreten Schritten und Überwachungsmechanismen untermauern, besteht die Gefahr, dass Georgien zum ersten Mal seit 1991 vollkommen vom europäischen Weg abkommt – und hinter dem neuen eisernen Vorhang als Vasall Russlands endet.
Eine Spaltung des assoziierten Trios durch die EU würde die zunehmende russische Propaganda in Georgien noch einflussreicher machen und das Land noch stärker polarisieren bzw. antiwestliche Narrative in der Gesellschaft stärken.
Die Nichtgewährung des Kandidatenstatus wäre ein schwerer Schlag für die geopolitische Glaubwürdigkeit der EU nicht nur in Georgien, sondern auch in der gesamten Region.
Warum Georgien EU-Kandidatenstatus mit der Ukraine und Moldau bekommen soll
Vor der Ukraine wurde Georgien im Jahr 2008 das Opfer einer russischen Invasion. Zwanzig Prozent des georgischen Territoriums sind nach wie vor von Russland besetzt. Angesichts der fortschreitenden Militarisierung der besetzten Regionen und der von Südossetien ausgehenden schrittweisen Ausweitung des von russischen Truppen kontrollierten Gebiets, die illegale Zäune errichten, ist das Land weiter Opfer einer schleichenden Besatzung, was eine existenzielle Bedrohung seiner nationalen Sicherheit und Souveränität bedeutet.
Georgien hat mit seinen Reformen, besonders im Bereich der Korruptionsbekämpfung, und mit der Umsetzung der vertieften und umfangreichen Freihandelszone sowie des Visaerleichterungsabkommens eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte geschrieben. Laut Korruptionswahrnehmungsindex liegt Georgien nicht nur weit vor der Ukraine und Moldau, sondern auch vor einigen EU-Mitgliedstaaten.
Die Europäische Kommission hat Ihre Entscheidung jedoch auf Grundlage des politischen Kriteriums der Kopenhagener Prinzipien getroffen, die in erster Linie auf Reformen im Bereich Demokratie, Medienfreiheit und rechtsstaatlicher Institutionen basieren.
Selbst wenn der Europäische Rat am 24. Juni Georgien nur europäische Beitrittsperspektive mit klaren Bedingungen gibt, wäre dies auch schon ein Hebel, um die Regierung in Tiflis zur Umsetzung der von Brüssel geforderten Reformen bis Ende des Jahres zu bringen. Eine starke, geeinte und dynamische Zivilgesellschaft und kritische Medien könnten dafür sorgen, dass das Land auf den richtigen Weg zurückkehrt und Georgien seinen Status als Reformer wiedergewinnt.
Die Menschen in Georgien wissen, dass der Weg zum Beitritt langwierig und anstrengend sein kann, und viel Mühe und Geduld verlangt. Nach der Rosenrevolution von 2003 hat Georgien bewiesen, dass echter politische Wille der Regierung und Konsolidierung der Gesellschaft schnelle und effiziente Reformen voranbringen können. Dafür braucht es aber eine entschlossene Unterstützung der georgischen Zivilgesellschaft sowie ein souveränes Agieren als Gestaltungspartner seitens der EU.
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