Die EU-Außen­po­litik im Umbruch – Der Angriffs­krieg gegen die Ukraine und Paral­lelen zum russisch-geor­gi­schen Krieg 2008

Foto Nicolo Vincenzo Malve­stuto /​ Imago Images

Mit dem Krieg gegen die Ukraine ist die Euro­päi­sche Union endlich wach­ge­rüt­telt worden und handelt geopo­li­tisch. Nachdem die Ukraine am 28.02.2022 den Antrag auf die EU-Mitglied­schaft stellte, erhielten auch die anderen Staaten des Trios, Georgien und Moldau, klare Signale von der EU. Dr. Khatia Kika­lish­vili (LibMod) und Dr. Mikheil Sarj­ve­ladze (SWP) analy­sieren die poli­ti­sche Lage in Georgien und ziehen klare Paral­lelen zum russisch-geor­gi­schen Krieg im Jahr 2008.

Am 24. Februar 2022 wachte die Welt in einer neuen Realität auf. Der Alptraum, der wahr wurde, ist ein Krieg in Europa, geführt vom Präsi­denten der Russi­schen Föde­ra­tion Wladimir Putin. Putin versucht, die tatsäch­li­chen oder selbst einge­re­deten Traumata vom Zerfall der Sowjet­union mit Angriffen auf Nach­bar­staaten zu kompen­sieren, die dem russi­schen Orbit entkommen sind und die eine Mitglied­schaft in der west­li­chen Allianz anstreben. Die Begrün­dung von Putin, den Angriff als einen Vertei­di­gungs­fall im Sinne der UN-Charta darzu­stellen, um die Ukraine als Geisel des Westens zu befreien und das Land zu entna­zi­fi­zieren, ist eine absurd-irre­füh­rende Sammlung an Propa­ganda und Lügen, die im Fakten­check gnadenlos durch­fallen. Dennoch stellt sich die Frage, wie kam es dazu? Hat der Westen zu lange die Augen vor den aggres­siven Kriegs­hand­lungen Russlands geschlossen?

Vorphase des Krieges

Um Antworten auf diese Frage zu finden, sollten wir auf den NATO-Gipfel von Bukarest im April 2008 zurück­bli­cken. Auf dem Gipfel wurden der Ukraine und Georgien der Member­ship Action Plan (MAP) verwei­gert, in erster Linie wegen des deutschen und fran­zö­si­schen Wider­stands. Deutsch­land fungierte zu dem Zeitpunkt als der Impuls­geber im Hinblick auf das geplante Folge­ab­kommen des Part­ner­schafts- und Koope­ra­ti­ons­ab­kom­mens (PKA) zwischen der EU und Russland. Darüber hinaus erweckte der Sieg von Dmitri Medwedew in den russi­schen Präsi­dent­schafts­wahlen im Frühjahr 2008 im Hinblick auf die Libe­ra­li­sie­rung und Moder­ni­sie­rung Russlands falsche Hoff­nungen in Berlin. Es wurde befürchtet, dass die MAP-Vergabe an die Ukraine und Georgien diese Entwick­lungen sowie Verhand­lungen über die Mitglied­schaft Russlands in der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­tion (WTO) in Gefahr bringen würde. Gleich­zeitig wurde in der Gipfel­er­klä­rung von Bukarest fest­ge­halten, dass die Ukraine und Georgien eines Tages in die NATO aufge­nommen werden. Das Verspre­chen wurde bis jetzt wegen des Russ­land­fak­tors nicht eingelöst.

Die Annek­tie­rung der Krim und der Krieg in der Ukraine ab 2014 war eine Art Fort­set­zung des russisch-geor­gi­schen Krieges, weil Russland nicht nur die NATO, sondern ab 2009 zunehmend auch die EU als geopo­li­ti­schen Gegner empfand. Seitdem strebt der Kreml eine Neoor­dnung der euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung an, weshalb Moskau in seinen Vertrags­ent­würfen vom Dezember 2021 an die USA und NATO das eigent­liche Ziel formu­lierte: Der soge­nannte post­so­wje­ti­sche Raum soll als von Russland domi­nierte Einfluss­sphäre und die östlichen NATO-Staaten als eine Art Puffer­zone fungieren. Die Vertrags­ent­würfe demons­trieren außerdem, dass Russland seine Nach­bar­staaten als „Sphäre privi­le­gierter Inter­essen“ wahrnimmt und ihnen das Recht auf Bünd­nis­frei­heit abspricht, das den Staaten unter anderem durch die Charta von Paris oder die NATO-Russland-Grundakte gewährt wurde. Der russisch-geor­gi­sche Krieg sollte dem Westen eigent­lich als eine Art Blaupause dienen, denn es gibt viele Paral­lelen zwischen der russi­schen Vorge­hens­weise gegen Georgien 2008 und aktuell gegen die Ukraine.

Paral­lelen zu Abchasien und Südossetien

Die völker­rechts­wid­rige Aner­ken­nung der Sepa­ra­tis­ten­ge­biete Luhansk und Donezk als unab­hän­gige Staaten weckte Erin­ne­rungen an die russische Aner­ken­nung von Abchasien und Südos­se­tien vor 14 Jahren. Dies gilt auch für den massiven Trup­pen­auf­marsch unweit der Grenze getarnt als Mili­tär­übung, die Vertei­lung russi­scher Pässe in den Sepa­ra­tis­ten­ge­bieten, sowie den vermeint­li­chen Schutz­be­darf der russi­schen Staats­bürger. Wie im Fall von Donezk und Luhansk begrün­dete Russland den Einmarsch in Georgien im August 2008 mit den Hilfe­rufen aus Abchasien und der Zchinvali-Region und bezeich­nete ihn als „Frie­dens­si­che­rungs­maß­nahme“. Wladimir Putin bezeich­nete die in den Donbas entsandten russi­schen Mili­tär­ein­heiten ebenfalls als „Frie­dens­truppen“. Darüber hinaus begrün­dete er den Krieg mit einem vermeint­li­chen Genozid in der Ostukraine. Auch 2008 beschul­digte der damalige russische Präsident Dmitry Medvedev Georgien eines Genozids, was sich im Gegensatz zu der „ethni­schen Säuberung“ von Georgiern als Lüge entpuppte.

Vor 14 Jahren, nach der völker­rechts­wid­rigen Aner­ken­nung von Abchasien und Südos­se­tien, unter­zeich­nete Russland Inte­gra­ti­ons­ver­träge mit den beiden Gebieten, die faktisch eine Vorstufe der Annexion darstellten. Darüber hinaus unterhält Russland in beiden Gebieten Mili­tär­basen und betreibt vor allem in Südos­se­tien eine schlei­chende Okku­pa­tion, die von Entfüh­rungen sowie Folter von Zivi­listen begleitet wird und in einzelnen Fällen tödlich endete. Der Beob­ach­ter­mis­sion der EU (EUMM), die seit 2008 im Einsatz ist, wird der Zugang zu den okku­pierten Gebieten durch Russland verwei­gert, obwohl die Mission dazu durch den Sechs-Punkte-Plan aus dem Jahr 2008 berech­tigt ist.

Prag­ma­tismus oder Prin­zi­pi­en­lo­sig­keit der geor­gi­schen Regierung?

Umso besorg­nis­er­re­gender erscheint, dass die Regierung von Georgien – ehemals Vorreiter der Östlichen Part­ner­schaft – sich erschre­ckend neutral gegenüber dem Angriffs­krieg in der Ukraine zeigt, obwohl immer noch 20 Prozent von Georgien von Russland okkupiert sind. Trotz des gemein­samen Feindes, der gemein­samen Heraus­for­de­rungen und gemein­samer Ziele übernimmt die geor­gi­sche Führung die Rolle eines Beob­ach­ters. In diesem Zusam­men­hang ist in erster Linie die von der regie­renden Partei „Geor­gi­scher Traum“ initi­ierte Ukraine-Reso­lu­tion zu erwähnen, in der das Wort „Russland“ ausge­lassen wurde. Darüber hinaus wurde die inter­na­tio­nale Bühne der Münchener Sicher­heits­kon­fe­renz von der geor­gi­schen Seite kaum zur Hervor­he­bung eigener sicher­heits­po­li­ti­schen Heraus­for­de­rungen oder für Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen gegenüber der Ukraine genutzt. Nachdem die west­li­chen Sank­tionen gegen Russland verhängt wurden, weigerte sich die geor­gi­sche Regierung, sich diesen anzu­schließen. Am 1. März 2022 rief die ukrai­ni­sche Regierung ihren Botschafter aus Georgien zurück. Als Gründe wurden die „unmo­ra­li­sche“ Haltung der geor­gi­schen Regierung gegenüber den inter­na­tio­nalen Sank­tionen gegen Russland und die Sperrung eines Char­ter­flugs genannt, der frei­wil­lige geor­gi­sche Kämpfer in die Ukraine bringen sollte.

Die Demons­tra­tionen mit Tausenden von Menschen in verschie­denen Städten Georgiens, die sich mit dem helden­haften Kampf der Ukrainer für die Freiheit in ganz Europa soli­da­ri­sieren, zeigen den Wider­spruch der Gesell­schaft gegen eine Kaskade von Fehl­ent­schei­dungen der geor­gi­schen Regierung. Den Menschen ist klar, dass es hier um einen gemein­samen Krieg gegen denselben Aggressor geht und dass der gemein­same Traum bedroht ist. Man kann nur speku­lieren, ob dieses beschä­mende Verhalten der bewussten Abkehr vom Westen auf Prag­ma­tismus, Prin­zi­pi­en­lo­sig­keit oder einem verdeckten prorus­si­schen Kurs der amtie­renden Regierung beruhte. Dabei ist bemer­kens­wert, dass die Regie­rungs­partei parallel zur anhal­tenden innen­po­li­ti­schen Krise im Land in den letzten zwei Jahren in gewissem Maße einen konfron­ta­tiven Kurs gegenüber der EU verfolgt hat. Selbst während des russi­schen Krieges gegen die Ukraine hat die geor­gi­sche Regierung trotz der gemein­samen Ziele mit der Ukraine de facto keinen Versuch unter­nommen, die außen- und sicher­heits­po­li­ti­schen Heraus­for­de­rungen des Landes mit den inter­na­tio­nalen Heraus­for­de­rungen der Ukraine zu verknüpfen. Das Hand­lungs­muster der geor­gi­schen Regierung erweckte den Eindruck, dass der euro-atlan­ti­sche Kurs des Landes auf dem Spiel steht.

Jedoch ist die geor­gi­sche Regierung plötzlich mit dem Momentum konfron­tiert, dass der Krieg gegen die Ukraine ein „Window of oppor­tu­nity“ im Hinblick auf die euro­päi­sche Perspek­tive nicht nur für die Ukraine, sondern auch für andere EU-asso­zi­ierte Staaten wie Georgien und Moldau öffnet.  Es ist eine Ironie der Geschichte, wenn para­do­xer­weise ein Land, das durch den De-facto-Macht­haber des Landes – den Olig­ar­chen Bidzina Iwanish­vili geführt wird, eine histo­ri­sche Chance erhält – den Status eines EU-Beitritts­kan­di­daten zu erhalten. Dadurch wird aber dem Willen der absoluten Mehrheit der geor­gi­schen Bevöl­ke­rung Rechnung getragen, die Druck auf die Regierung ausübte und die EU-Inte­gra­tion des Landes massiv unter­stützt. Im jüngsten Fort­schritts­be­richt der EU heißt es, dass Georgien „seinen euro­päi­schen Weg stetig fortsetzt“, dass es aber noch „große Heraus­for­de­rungen“ zu bewäl­tigen hat. Am 3. März 2022 hat die geor­gi­sche Regierung einen offi­zi­ellen Antrag auf EU-Mitglied­schaft gestellt – eine uner­war­tete Kehrwende, die dank der für Freiheit kämp­fenden Menschen in der Ukraine möglich wurde und mit brutalem Blut­ver­gießen verbunden ist. Aller­dings hat Georgien aufgrund seiner prowest­li­chen Orien­tie­rung für diese histo­ri­sche Chance bereits im Jahr 2008 einen hohen Preis bezahlt. Schließ­lich ist die Östliche Part­ner­schaft als Reaktion der EU auf den russisch-geor­gi­schen Krieg vor 14 Jahren zustande gekommen.

Die Euro­päi­sche Union agiert endlich geopolitisch

Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ist die Euro­päi­sche Union endlich wach­ge­rüt­telt worden und handelt geopo­li­tisch. Nachdem der Antrag des ukrai­ni­schen Präsi­denten Selenskyj auf EU-Mitglied­schaft am 28.02.2022 gestellt wurde, erhielten auch die anderen Staaten des Trios (Georgien und Moldau) klare Signale von der EU. Für Brüssel ist klar, dass Russland weitere mili­tä­ri­sche Eska­la­tionen gegen diese Länder provo­zieren könnte, um den Druck auf den Westen weiter zu erhöhen. Moldau und Georgien markieren wie die Ukraine die Trenn­linie zu Russlands Auto­ri­ta­rismus und neoim­pe­rialen Ansprü­chen und wurden bei jedem EU-Gipfel seit 2009 dauerhaft von der Beitritts­per­spek­tive ausge­schlossen, vor allem wegen des Russ­land­fak­tors. Es ist daher besonders wichtig und zeitgemäß, dass die EU aktuell einig ist, der Ukraine als Ganzes und in Freiheit eine klare euro­päi­sche Perspek­tive zu eröffnen und gleich­zeitig den weiteren asso­zi­ierten Staaten Georgien und Moldau das gleiche zu gewähren.

Gleich­zeitig sollte allen betrof­fenen Staaten klar sein, dass der Weg zur Voll­mit­glied­schaft in der EU noch ein langer sein wird. Denn das Verfahren gliedert sich in vier Haupt­schritte: Antrag­stel­lung, Erlangung des Kandi­da­ten­status, Verhand­lungen und Beitritt. Gleich­zeitig ist die Verlei­hung des Kandi­da­ten­status ein Schritt von entschei­dender Bedeutung, um die Unter­stüt­zung der EU für die Ukraine, Moldau und Georgien zu inten­si­vieren und die Anglei­chung an euro­päi­sche Standards u.a. in Bezug auf Rechts­staat­lich­keit und Demo­kratie zu ermög­li­chen. Nun bleibt nur zu hoffen, dass sich auch die geor­gi­sche Regierung euro­pä­isch verhält, die Verein­ba­rungen einhält und die Umsetzung notwen­diger Reformen nicht auf Kosten der eigenen Macht­kon­so­li­die­rung verhin­dert. Denn so eine gute Chance wie jetzt wird es nicht mehr geben.

Die Autoren geben ihre persön­liche Meinung wieder.

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