Georgien und der EU-Kandidatenstatus – Ein Dilemma für die EU?
Die Zivilgesellschaft in Georgien fordert einen Beitritt des Landes zur EU, für den auch geopolitische Argumente sprechen. Wird die EU sie weiter unterstützen oder den prorussischen Kurs der Regierung mit einer erneuten Absage an den Beitrittsprozess quittieren? Khatia Kikalishvili über das Dilemma der EU-Kommission.
Ab Mitte der 1990er stellte die Europäische Union (EU) eine zentrale Größe der georgischen Außenpolitik dar, die im Laufe der weiteren Entwicklung stetig an Bedeutung gewann. Insbesondere nach der Ausrufung der Östlichen Partnerschaft (ÖP) der EU als Reaktion auf die russische Invasion in Georgien im August 2008 wurden die Rahmenbedingungen für eine EU-Annäherung Georgiens präzisiert. Dies führte letztlich zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU im Jahr 2016.
Bedauerlicherweise legen eine Reihe jüngerer Ereignisse in den Beziehungen zwischen der EU und Georgien nahe, dass die EU vom einstigen Vorreiterland enttäuscht ist. Die westlichen Partner, für die diese Partnerschaft in erster Linie auf gemeinsamen Werten basiert, sind besorgt, dass nach 30 Jahren der georgischen Unabhängigkeit der gemeinsame Weg hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht weiter beschritten wird. Zusammen mit der massiven antiwestlichen Kampagne der jetzigen Regierung erklärt das, warum Georgien im Gegensatz zur Ukraine und Moldau im Sommer 2022 keinen EU-Kandidatenstatus erhielt. Die EU eröffnete dem Land lediglich eine europäische Perspektive und machte weitere Schritte von der Umsetzung von zwölf Empfehlungen abhängig.
Historisches Momentum für die EU-Erweiterung – wohin steuert Georgien?
Eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Georgiens sieht die Zukunft ihres Landes seit langem in der EU. Trotz wechselnder Regierungen bleibt diese Mehrheit im Land stabil, denn die europäischen Werte sind tief in der georgischen Gesellschaft und Kultur verankert. Besonders deutlich brachte die georgische Gesellschaft ihren Willen bei den massiven Protesten im März 2023 zum Ausdruck, als die Regierungspartei „Georgischer Traum“ das russische „Agentengesetz“ im Eilverfahren in erster Anhörung verabschiedete. Dieses antiwestliche Gesetz sah die Einrichtung eines Registers für „ausländische Agenten“ vor, in dem sich Medien und NGOs mit ausländischer Finanzierung von über 20 Prozent unter Androhung von Strafen finanzieller und administrativer Art eintragen sollten. Mehrere Tausend Menschen sahen darin eine Gefährdung der Europäischen Zukunft Georgiens und gingen auf die Straße. Schließlich gelang es insbesondere der jungen Generation, die Regierung zu einem Rückruf dieses „russischen Gesetzes“ zu zwingen.
Nach alldem stellt sich die legitime Frage, ob die in der georgischen Verfassung verankerte europäische Integration Georgiens nur ein formell deklariertes Ziel bleibt. Erfolgt hier eine schrittweise Abkehr des EU-assoziierten Staates, während die Ukraine und Moldau ein historisches Momentum der EU-Erweiterung erleben?
Laut des aktuellen mündlichen Berichtes der EU-Kommission über die Umsetzung der zwölf Empfehlungen müssen bis Oktober 2023 Reformen in mindestens fünf Bereichen (Depolarisierung, Unabhängigkeit der Justiz, De-Oligarchisierung, Medienfreiheit und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft) durchgeführt werden, während bei sieben weiteren Prioritäten gewisse Fortschritte erzielt wurden. Die schriftliche Empfehlung der EU-Kommission an den Europäischen Rat zur Verleihung des EU-Kandidatenstatus wird im Oktober veröffentlicht. Die Zeit ist knapp. Es ist auch möglich, dass die Entscheidung erst nach den Parlamentswahlen im Jahr 2024 getroffen wird. Die Enttäuschung nach einer erneuten Ablehnung wäre groß.
Kann Georgien das Zeitfenster nutzen?
Die nicht-konfrontative Politik der georgischen Regierung gegenüber dem Kreml unter dem faktischen Regenten Georgiens, dem Oligarchen Bidzina Ivanishvili, zeichnet sich insbesondere seit dem Ukrainekrieg durch den Vorwurf aus, der Westen wolle in Georgien eine zweite Front des Ukrainekriegs eröffnen. Dazu gehört, dass regierungsnahe Medien seit Beginn des Krieges gezielt gefährliche Narrative verbreiten, wie etwa: „Frieden oder Freiheit“, womit suggeriert wird, Frieden sei wichtiger als Freiheit. Andauernde Attacken hochrangiger Parteivertreter auf westliche Botschafter, Europaparlamentarier, die Anschuldigung, der Westen zwinge Georgien in den Krieg und die starke Zurückhaltung bei der Frage einer georgischen NATO-Integration beim Vilnius-Gipfel der NATO machen deutlich, wie gefährdet Georgiens euroatlantischer Kurs ist.
Ausblick
Die geopolitische Lage Europas unterliegt derzeit erheblichen Veränderungen und neuen Herausforderungen. Georgien, ein Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, hat eine geostrategische Bedeutung. Dies macht es zu einem wichtigen, aber gleichzeitig eben auch besonders verwundbaren Akteur.
Die EU steht vor einem Dilemma: Einerseits gibt es die überwiegend proeuropäisch eingestellte Bevölkerung und andererseits eine prorussische Regierung, die offiziell einen europäischen Kurs des Landes anstrebt.
Die Zivilgesellschaft vertritt die Meinung, dass die EU Georgien im Kampf gegen Russland jetzt nicht allein lassen dürfe. Für die europäischen Partner ist dieses geopolitische Argument nachvollziehbar, aber nicht überzeugend genug, um der georgischen prorussischen Regierung die Tür in die EU zu öffnen. Es ist ungewiss, wie sich der Europäische Rat am Ende des Jahres entscheiden wird. Umso wichtiger ist es, dass der Puls des europäischen Georgiens weiterhin deutlich hörbar bleibt. Der deutliche Wille von 90 Prozent der georgischen Bevölkerung, zu Europa zu gehören, darf es keiner Regierung erlauben, das Land vom europäischen Weg abzubringen.
Dieser Beitrag ist zuerst bei der Deutschen Transatlantischen Gesellschaft erschienen.
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