Georgische Regierung auf Konfrontationskurs: Point of no return für die Demokratie?
Am 18. Februar 2021 trat der georgische Premierminister Giorgi Gacharia (Georgischer Traum) zurück. Der Rücktritt des Chefs einer vor zwei Monaten gewählten Regierung und die Verhaftung des Oppositionsführers markierten einen Höhepunkt der politischen Krise. Sie umfasst die extrem polarisierte Politik und Zivilgesellschaft, die stagnierende Wirtschaft, die zum Stillstand gekommene reaktive Außenpolitik. Georgien, ehemals der Reformenvorreiter im postsowjetischen Raum, ist in der dritten Regierungszeit des „Georgischen Traums“ – einer Partei, die vom in Russland zum Multimilliardär aufgestiegenen Oligarchen Bidsina Iwanischwili 2011 gegründet und bis vor kurzem persönlich geführt wurde – auf dem Weg von einer fragilen Demokratie zu einer oligarchischen Einparteiautokratie. Aus der Tagesordnung der europäischen Politik ist Georgien beinahe verschwunden. Um aus der Dauerkrise herauszukommen braucht Georgien die Unterstützung der Europäischen Union.
Giorgi Gacharia ist von seinem Amt zurückgetreten, weil er, wie er sagte, seine Kollegen aus der Regierungspartei nicht davon abhalten konnte, den neu gewählten Vorsitzenden der größten georgischen Oppositionspartei Vereinigte Nationale Bewegung (VNB) Nikanor (Nika) Melia zu verhaften. Auch wenn ein Haftbefehl gegen ihn bestand, habe er die Gesellschaft mit einer Verhaftung nicht weiter polarisieren wollen. Dieser ungewöhnliche Rücktrittsgrund für einen Premierminister, der als Hardliner galt und dessen Rücktritt die Opposition seit anderthalb Jahren erfolglos forderte, muss erklärt werden.
Der Anfang der gegenwärtigen Krise kann genau datiert werden.
Am 20. Juni 2019 gastierte auf Einladung des „Georgischen Traums“ (GT) der Vorsitzende der interparlamentarischen Versammlung der Orthodoxie und Abgeordnete der russischen Staatsduma, Kommunist Sergei Gawrilow, im georgischen Parlament. Das Bild des russischen Abgeordneten im Stuhl des georgischen Parlamentsvorsitzenden weckte traumatische Erinnerungen in einem Land, das fast 200 Jahre von Russland beherrscht wurde, und brachte Tausende vor allem junge Menschen auf die Straße. Die Proteste machten Eindruck, die Regierungspartei machte Zugeständnisse: Der damalige Parlamentsvorsitzender Irakli Kobachidse trat zurück, der Oligarch Iwanischwili versprach, das die regierende Partei begünstigende Wahlgesetz noch vor den Parlamentswahlen 2020 zu ändern und vom gemischten zum reinen Verhältniswahlsystem überzugehen. Nachdem sich dem Protest auch politische Parteien anschlossen, ging die Regierung brutal vor und löste die Demonstration vor dem Parlament gewaltsam auf. Gegen Nika Melia, der angeblich zur Stürmung des Parlaments aufgerufen haben soll, wurde ein Strafverfahren wegen Anleitung zur und Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat eingeleitet.
Scheinbar rechtliche Mittel gegen die Opposition
Melias Strafverfolgung war kein Einzelfall. Bereits nach den Parlamentswahlen 2012 war die politische Rhetorik des Wahlsiegers GT darauf gerichtet, die nun oppositionelle VNB aus dem politischen Feld komplett zu verdrängen. Hochrangige Politiker und Politikerinnen des GT versprachen öffentlich, die VNB als eine politische Kraft auflösen bzw. von den Parlamentswahlen auszuschließen zu wollen.
Die Ausschaltung politischer Konkurrenz mit scheinbar rechtlichen Mitteln ist ein Instrument, das in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Belarus oder Russland häufig eingesetzt wird. Viele nationale und internationale Beobachterinnen sahen auch in Georgien politische Hintergründe für die Verfolgung hochrangiger Politiker .
Im Vorgehen gegen die Opposition konnte die Regierung sich auf einen Teil der georgischen Wählerinnen und Wähler stützen.
Die Gesellschaft ist tief gespalten in ihrer Einschätzung der jüngsten Vergangenheit. Ein Teil sieht im ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili einen blutigen Diktator. Seine zwei Amtszeiten (2003–2012/13) werden in der politischen Rhetorik des GT und seiner Anhänger als „die blutigen neun Jahre“ bezeichnet. Immer wieder wurde ein Verbot der Saakaschwili-Partei gefordert. Er selbst wurde ausgebürgert und wird per Haftbefehl gesucht. Für einen anderen Teil der Georgier war Saakaschwili ein mutiger Reformator, der ein marodes und korruptes Land zum „Leuchtturm der Demokratie“ im postsowjetischen Raum machte. Dementsprechend kommt in einer Wahrnehmung der Iwanischwili-Anhängerinnen dem Oligarchen und seiner Partei die befreiende und rettende Rolle zu, während den Anhängern Saakaschwilis der Oligarch Iwanischwili als eine Marionette Putins erscheint. Die beiden gegensätzlichen Wahrnehmungen sind kaum miteinander zu vereinbaren. Die Politik und parteinahe Medien verschärfen die Polarisierung, anstatt auf einen Kompromiss hinzuarbeiten. Die Polarisierung der Gesellschaft und der Politik hat ihre Wurzeln in der politischen Struktur Georgiens.
Typisch postsowjetische Machtstruktur
Trotz zahlreicher Reformen, der erfolgreichen Bekämpfung der Alltagskorruption, drei Verfassungsreformen, dem Wechsel von einer Präsidialen zur Parlamentarischen Republik ist die tatsächliche Machtstruktur in 30 Jahren georgischer Unabhängigkeit unverändert geblieben: Es ist eine aus der Sowjetunion ererbte Struktur der Alleinherrschaft einer Partei, die alle drei Gewalten kontrolliert und sich auf die Gewalt der Polizei stützt. Diese Machtform existiert ungebrochen in allen postsowjetischen Ländern in unterschiedlichen Variationen mit Ausnahme der baltischen Staaten. In Georgien war sie durch eine relativ starke Zivilgesellschaft zwar abgemildert, aber nicht beseitigt. Diese Machtstruktur wurde unterstützt vom gemischten Wahlsystem, das einerseits kleine Parteien benachteiligte, andererseits die regierende Partei immer begünstigte und den Wahlsieg für die Opposition so gut wie unmöglich machte.
Daher waren alle Machtwechsel mit Ausnahme der Parlamentswahlen 2012 revolutionär.
Alle Regierungsparteien wiederholten bisher das gleiche Muster. Sie kamen mit Demokratieversprechen an die Macht, endeten als Einparteienautokratien und lösten sich nach dem Machtwechsel auf. Die Wahl 2012 war eine Ausnahme. Die Macht wechselte friedlich. Die abgewählte Regierungspartei löste sich nicht auf, sondern ging in die Opposition und konnte, trotz Spaltung, mit der regierenden Partei in Kommunal- und Parlamentswahlen als zweitstärkste Kraft konkurrieren. Seit 2012 durchläuft der GT den bekannten Zyklus. Die regierende Partei hatte eine absolute bzw. verfassungsgebende Mehrheit im Parlament. Neben der Exekutive beherrscht sie auch die Judikative. Die Kritiker und Kritikerinnen aus der Zivilgesellschaft gehen nicht mehr von einer freien Justiz in Georgien aus. Hinter der Partei steht der mächtige Oligarch Bidsina Iwanischwili, dessen Privatvermögen etwas weniger als ein Drittel der gesamten georgischen Wirtschaft beträgt. Er gilt als der mächtige Strippenzieher, auch wenn er gegenwärtig kein politisches Amt innehat.
Wahlfälschungen und Mandatsniederlegungen
Bei den Parlamentswahlen 2020 ging die Vereinigte Opposition (die linke bis rechtsliberale Parteien umfasst und deren einziger gemeinsamer Nenner die Abwahl der Iwanischwili-Partei ist) von massiven Wahlfälschungen aus und boykottierte die Stichwahl. Die Opposition erkannte den Wahlsieg des georgischen Traumes (90 von 150 Mandaten) nicht an. Internationale Beobachterteams hatten, trotz des die Regierungspartei bevorzugenden Wahlsystems und massiven Einsatzes so genannter administrativer Ressourcen (Mobilisierung von Staatsbeamten für die Regierungspartei), zwar Unregelmäßigkeiten, aber keine massiven Wahlfälschungen festgestellt. Die Opposition legte mit Ausnahme von vier Abgeordneten ihre Mandate geschlossen nieder, was von vielen Beobachtern im In- und Ausland als großer Fehler und Schritt zur Eskalation bewertet wurde.
Der Raum für einen Kompromiss, den die EU- und US-Botschafterinnen und ‑Botschafter zu vermitteln versuchen, ist sehr eng.
Zwar sind die großen Schattenfiguren der georgischen Politik, Micheil Saakaschwili und Bidsina Iwanischwili, als Vorsitzende der größten georgischen Parteien offiziell zurückgetreten. Es ist aber unwahrscheinlich, dass sie sich tatsächlich aus der georgischen Politik zurückgezogen haben. Nika Melia, der neue Vorsitzende der VNB verweigerte die Zahlung der vom Gericht angeordneten Kaution, die er als politische Verfolgung auslegte. Daraufhin erließ das Gericht einen Strafbefehl. Über seine Verhaftung zerbrach die Gacharia-Regierung. Von dem vom Parlament zum Premierminister gewählten Irakli Gharibaschwili, der bereits 2013 bis 2015 Premierminister war, erwartet die Gesellschaft eine Verschärfung der Polarisierung. In seiner ersten, militant wirkenden Rede leugnete er die politische Krise und kündigte ein hartes Vorgehen gehen die Opposition an. Während Gacharia die politischen Motivation für den Haftbefehl gegen Melia eingestand, ließ Garibaschwilis als erste Amtshandlung den Vorsitzenden der VNB in der Nacht zum 23. Februar 2021 gewaltsam verhaften. Damit verschärfte er den Konfrontationskurs mit der Opposition und der Zivilgesellschaft und brachte Georgien einen Schritt weiter auf dem Weg zu einer oligarchischen Einparteienautokratie.
Internationaler Druck benötigt
Die beiden Großparteien liegen im Clinch und entfernen sich immer weiter von den akuten Problemen der georgischen Wählerinnen und Wähler, der Arbeitslosigkeit und zunehmenden Armut, die durch die Covid-19-Pandemie verschärft wird. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich. Im georgischen Parlament sitzen 24 Millionäre (jeder siebte), davon 14 auf Seiten der regierenden Partei, von denen sieben direkt gewählt wurden. 19,5 % der Georgierinnen und Georgier leben unterhalb der Armutsgrenze. Ein neues Wahlsystem, das die kleinen Parteien berücksichtigt, die Macht der Großparteien beschränkt und sie zu Koalitionen und damit zur Berücksichtigung der Interessen breiterer Bevölkerungsschichten und Interessengruppen zwingt, scheint ein schmaler, möglicher Ausweg aus der politischen Dauerkrise zu sein. Jedoch ist die georgische Zivilgesellschaft viel zu schwach, um die regierende Partei alleine zu Kompromissentscheidungen zu bewegen. In dieser Situation ist nicht nur Vermittlung, sondern auch Druck von Seiten der Partner Georgiens auf die georgische Regierung notwendig, um sie von weiterer Konfrontation und Polarisierung abzuhalten und zu Kompromissen zu bewegen.
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