Globalisierung post Corona: Ein Unterschied, dieses Mal
Nach 2001, 2008 und 2015 bedeutet die Pandemie eine erneute Krise der globalisierten Welt. Sie könnte einen Neubeginn markieren: transnational denkende Zivilgesellschaften, die sich wechselseitig auf Bedingungen der gleichen Freiheit verpflichten. Dann hat die soziale Demokratie eine neue globale Chance.
Zum vierten Mal findet in unserem Jahrtausend ein Ereignis statt, das Chancen für ein neues Handeln eröffnet: 2001 die selbstmörderischen Angriffe von islamistischen Terroristen auf New York und Washington, 2008 der Zusammenbruch der Finanzarchitektur, 2015 die Suche von Geflüchteten, in Europa Sicherheit zu finden und nun erleben wir die Pandemie von Covid 19. Im Abstand von etwa sieben Jahren begegnen der Menschheit seither existentielle Gefährdungen, auf die sie neu antworten muss. Alle vier Ereignisse verweisen auf Konflikte, die mit Prozessen der Globalisierung zusammenhängen. 2001 zielten die Überfälle darauf ab, die Vormacht des Westens instabil zu machen; 2008 brachten ungezügeltes Profitstreben und Immobilienspekulationen die Ökonomien beinahe zum Wanken; 2015 verschärften politische Entscheidungen, die der Humanität verpflichtet bleiben, radikale Populismen. Diese drei voneinander unterschiedenen Ereignisse zeigen Defizite unvollendeter politischer Steuerungsfähigkeiten an.
Zwar gab es 2001 eine überwältigend klare Antwort des Vereinten Nationen und mit ihr startete eine Serie von vorwiegend militärischen Interventionen, die begleitet waren von zivilorientierten Maßnahmen. Neunzehn Jahre danach ist die Bilanz ernüchternd gemischt. Insoweit die Radikalität des politischen Islamismus sich aus der Kritik an Erscheinungsformen des westlichen Modernismus speist, ist die Gefahr längst nicht erloschen. Eher scheint der Westen nun schwächer als zuvor.
2008 musste alle politische Kraft aufgeboten werden, damit eine ökonomische Katastrophe abgewendet werden konnte. Mit weltweit aufeinander abgestimmten Geldpolitiken und finanzpolitischen Anreizen wurden die nationalen Ökonomien aus dem Strudel herausgerissen, der sie in den Untergang gezogen hätte. Barack Obama machte die G20 zu einem globalen Akteur. Alle global bedeutsamen Institutionen verständigten sich auf gemeinsame nationalstaatlich durchsetzbare Ziele. Heute scheint es fast, als hätte neoliberales Denken viele Einsichten wieder verdrängt. Eine Rückkehr in diese Ideologie eines ungehinderten Kapitalismus würde ich neue Katastrophen führen.
2015 mussten Hunderttausende aus Kriegen flüchten, die zumeist in unmittelbarer europäischer Nähe Menschen aus ihrer Heimat vertrieben haben. Weil Europäer sich scheuen, die Kriegsursachen einzudämmen oder sich nicht hinreichend darum bemühen, sie zu beseitigen, werden immer noch Hunderttausende vertrieben. Seither haben sich politische Konflikte innerhalb der Europäischen Union zugespitzt. Die europäische Friedensordnung ist von Innen vom Geschwür des Populismus befallen.
Wird 2020 alles anders? Gelingt es uns, dieses Mal radikal andere Schlüsse aus der gegenwärtigen Krise zu ziehen als 2001, 2008 und 2015? Werden wir uns herausarbeiten können aus den Fallen, die uns ideologisch gestellt werden? In den ersten drei Krisen dieses Jahrhunderts war „Weiter so“ die dominante Antwort. Alternativen wurden kurz bedacht, manchmal beachtet, jedoch nicht immer nachhaltig verfolgt.
Dieses Mal könnte es anders werden. Das Virus könnte dabei helfen. Weil es bekämpft werden kann als Feind, der die Menschheit bedroht. Und weil es besser mit vereinten Kräften bekämpft werden kann. Nicht: „rette sich, wer kann“ kann überzeugen, sondern: „Solidarisches Zusammenhandeln rettet Einzelne und uns gemeinsam.“
Wie kann die Zeit nach Corona aussehen?
Vier Szenarien können unterschieden werden: (1) Dystopie; (2) Pessimismus; (3) Optimismus; (4) Utopie. Real können alle vier werden. Die Szenarien (1) und (2) führen die Menschheit in tiefe Konflikte. Mit den Szenarien (3) und (4) gewinnen wir an Humanität und wir werden uns unserer globalen Verantwortung bewusst. Selten ist die Chance für eine mögliche andere Zukunft so offen wie in diesem historischen Augenblick. Wir könnten sie nutzen.
Wenngleich historische Analogien allenfalls helfen können, dramatische Fehler in aktuell zu bewältigenden Krisen zu vermeiden, vermag ein Blick zurück in das vergangene Jahrhundert uns in den Stand versetzen, in welchem Moment des Geschehens wir in der Jetztzeit uns befinden und vor welcher Wegscheide wir stehen. Die ‚Urkatastrophe‘ des Ersten Weltkriegs mündete in die Pandemie der ‚Spanischen Grippe‘. Nach dem siebenjährigen Zwischenspiel der ‚roaring twenties‘, dem ‚Tanz auf dem Vulkan“, stürzte Deutschland ab in die Nazi-Barbarei und riss mit ungeheurer Gewalt Europa und die Welt in den Zweiten Weltkrieg. Heute mag erkannt werden, in welchen Momenten beherztes politisches und zivilgesellschaftliches Eingreifen dem Gang des Geschehens eine andere Richtung hätte geben können.
Wer eine ähnlich kataraktartig verlaufende Analogie künftig vermeiden will, sollte zu einer offenen Debatte über real mögliche Handlungsoptionen aufrufen. Welche angemessenen Schlüsse für die Gestaltung der notwendigen Reformprozesse nach der Pandemie zu ziehen sind, muss Kern der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden. Leitende Ideen sind dabei, den Erkenntnisstand von Natur- und Sozialwissenschaften, von Medizin und Politikwissenschaften kritisch zu prüfen, sie in einem ‚großen Gespräch´ öffentlich zu befragen und die erwartbaren Ergebnisse zu bündeln. Die Leidenschaft zur Vernunft, die Suche nach rationalen Lösungen und die Verknüpfung von lokaler und globaler Verantwortung werden die Versuchung verhindern, die Krise zu rückwärtsorientierter Autokratie zu missbrauchen.
Das Primat der Politik ist, besonders in Krisenzeiten, stärker als zuvor, durch eine wachsende Beteiligung einer wachen Bürgerschaft demokratisch zu begleiten. Allein der demokratische und soziale Rechtsstaat vermag es, existentiellen Krisen angemessen zu begegnen. Demokratien, die auf einer aktiven Zivilgesellschaft aufruhen, sind gemessen an anderen Regierungsformen, besser fähig, Lernprozesse offen und öffentlich zu machen. Vertrauen ist das Herz der Demokratie. Kritik und Widerspruch stiften das Denken in Alternativen an, soweit sie Rücksicht nehmen auf die Grundwerte humanen Zusammenlebens. Regression mauert das Denken ein, Progression öffnet das Denken.
- Dystopie
Gelingt es den staatlichen Institutionen nicht, gestützt auf eine mithandelnde Zivilgesellschaft, die Pandemie einzudämmen, dann werden sich unkontrollierbar ausagierende Krisensymptome in allen gesellschaftlichen Segmenten, beginnend in der Wirtschaft und danach in Wellen auf Politik und Gesellschaft ausgreifend, Gefahren heraufbeschwören, die zu einem Kollaps der bisherigen Ordnungen führen können. Daraufhin kann eine Implosion der lokalen wie globalen konstruktiven Kooperationsfähigkeiten erfolgen. Sie könnte eine weltweite Flucht in nationalistische Abschottungen auslösen. Internationale Ordnungsregeln brechen zusammen. Die Europäische Union gerät in existenzielle Not. Regionale Kriege drohen sich auszuweiten.
- Pessimismus
Nach dem Abklingen der Pandemie droht ein „weiter so“, weil, so wird ideologisch verbrämt werden, verloren gegangene Produktion und Konsumtion bruchlos rasch wieder aufgeholt werden müsse. Im sich rasch einsetzenden Wettbewerbsdruck könne sich nach der Krise nur der behaupten, der schnellstmöglich und unvermittelt anknüpfen würde an den Verfahrens- und Verhaltensweisen, die vor der Krise geherrscht hätten. Die in der Krise auferlegten Regeln müssten beseitigt und die Wirtschaft weitestgehend dereguliert werden. Die Kluft, die bereits vor der Krise sich zwischen den gesellschaftlichen Verlierern und Gewinnern aufgetan hatte, wird sich nach der Krise vertiefen. Die Gewinner werden die Verlierer brandmarken, die Kosten der Krise verursacht zu haben.
- Optimismus
Global vernetzte Gemeinschaften haben mit ihrem wissenschaftlichen Expertenwissen dazu beigetragen, die Angriffe des Corona Virus abzuwehren. In einer internationalen Anstrengung ist ein wirksamer Impfstoff entwickelt worden. Begleitet von neuen medizinischen Therapien, entstanden im transnationalen Austausch, konnte die endemische Bedrohung, die von Covid 19 ausging, gebannt werden. Dieses erfolgreiche Modell des multilateralen Zusammenhandelns, unterstützt von der internationalen Staatengemeinschaft, hat zum Nachdenken darüber geführt, wie künftig die Vereinten Nationen gestärkt werden können. Wiederbelebt wurden die Jahrtausend-Ziele, auf die sich die Weltgemeinschaft bereits vor über zwanzig Jahren verständigt hatten. Die EU kommt stärker als je aus der Krise heraus, weil sie in der Krise überzeugend zwei neue Reformprozesse vorantreiben konnte: sie hat eine sozialökologische Transformation initiiert und sie bindet ihr künftiges Schicksal an den Grundwert Solidarität.
- Utopie
Die EU initiiert eine ‚Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit´ zu der Staaten des Nahen Ostens eingeladen werden, damit, gemeinsam mit den USA, Canada, Großbritannien und der Russischen Föderation Kooperationsbeziehungen erarbeitet werden mit dem Ziel, sich auf verbindliche Regeln für die Entwicklung einer neuen Friedensordnung in dieser Region zu verständigen.
Die EU wandelt sich zu den „Vereinigten Staaten von Europa“. Ihr innerer Kern ist der transnationale Ausbau sozialstaatlicher Systeme, die Vertiefung der demokratischen Beteiligung, die Beschleunigung der sozialökologischen Transformation und die Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft.
Im Rahmen der OECD entstehen Regularien, die die Ökonomien der beteiligten Staaten an flexible Standards binden, damit Güter künftig unter Berücksichtigung global gerechter Kriterien hergestellt, vertrieben und verbraucht werden.
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Die hier vorgestellten Szenarien fußen auf Annahmen, die real mögliche Zukunftsverläufe beschreiben. Es wäre zu wünschen, dass eine Mischung aus den Szenarien (3) und (4) verwirklicht wird. Das wird jedoch nur gelingen, wenn das in den Krisen gewonnene Bewusstsein in tiefgreifende Reformprozesse einmündet.
Dieser unerhörte historische Moment kann zu einem Neubeginn des Zusammenlebens werden. Die ‚Conditio Humana‘ kann neu gestaltet werden. Geht sie einher mit einer ‚Constitutio libertatis‘, dem Zusammenschließen von transnational denkenden Zivilgesellschaften, die sich wechselseitig auf Bedingungen der gleichen Freiheit verpflichten – wie Hannah Arendt es sah – , dann hat die soziale Demokratie eine neue globale Chance.
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