Macron: Ein Technokrat lernt seine Lektion

Olivier Ortelpa /​ Flickr [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)]

Emmanuel Macron meinte, er könne der fünften Republik durch ein Turbo-Reform­pro­gramm zu neuer Verve verhelfen. Doch zur Halbzeit seiner Präsi­dent­schaft zeigt sich: ohne Gespräche, Beratungen und Kompro­misse geht es nicht. Unser Autor Albrecht Sonntag über einen Techno­kraten, der seine Lektion gelernt hat und nun ganz viel reden will.

Das Narrativ, mit dem Emmanuel Macron vor zweieinhalb Jahren in den Elysée-Palast einzog, war unter­mauert von dem ambitiösen Anspruch, eine Antwort zu finden auf den Vertrau­ens­verlust in die Handlungs- und Gestal­tungs­fä­higkeit der liberalen Demokratie.

Der spekta­ku­lärste Teil dieser Antwort bestand darin, die als lähmend und überkommen empfundene Recht-Links-Spaltung des politi­schen Spektrums zu besei­tigen und einer vermu­teten liberal-progres­siven, pro-europäi­schen Mehrheit in der Mitte den Weg zur Macht zu ebnen.

Nach zahlreichen Skandalen galt es zudem, den stark angekratzten Ruf der Volks­ver­treter aufzu­bessern, zunächst durch eine massive Erneuerung des politi­schen Personals, nach der Wahl durch strengere Selbst­re­gu­lierung. Mit dem „Gesetz zur Morali­sierung des politi­schen Lebens“ beschnitt die Regierung Nepotismus und Ämter­häufung. Auch wurde mehr Trans­parenz in der Offen­legung von Vermö­gens­ver­hält­nissen und Inter­es­sen­kon­flikten geschaffen.

Auch in den nächsten zweieinhalb Jahren wird Frank­reich ein merkwürdig verletz­liches, fragiles Land bleiben, in dem die Nerven permanent blank liegen. 

Schließlich ging es darum, die als schwer­fällig und langsam empfun­denen demokra­ti­schen Prozesse mit Hilfe eines verti­kalen, stark techno­kra­tisch angehauchten Durch­re­gierens zu beschleu­nigen; ein Vorhaben, das die hyper­zen­tra­li­sierten Struk­turen der Fünften Republik ohnehin nahegelegten.

Die im Voraus angekün­digte Reformwut, so die Annahme, werde durch den zu erwar­tenden Output legiti­miert – insbe­sondere die Vermin­derung der Arbeits­lo­sigkeit –, außerdem würden die stabilen Mehrheits­ver­hält­nisse der Regierung genug Zeit geben, um die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. 

Portrait von Albrecht Sonntag

Albrecht Sonntag ist Professor für Europa­studien an der ESSCA Ecole de Management in Angers, Frankreich.

Eine riskante Rechnung, wie sich zeigte. So viel Gespür Emmanuel Macron bei seinem Aufstieg für die Befind­lich­keiten der Mitte der franzö­si­schen Gesell­schaft gezeigt hatte, so unvor­be­reitet traf ihn die Eruption der lang aufge­stauten Kaufkraft-Frustration der Gering­ver­die­nenden.

Bürger­ver­sammlung per Losverfahren

Aus dem Popula­ri­tätstief des vergan­genen Gelbwesten-Winters hat er sich zwar nicht zuletzt mit Hilfe der „Großen Natio­nalen Debatte“ heraus­ge­ar­beitet – angesichts der gesell­schaft­lichen Dauer­krise sind die 33% an Zustimmung, die er in aktuellen Umfragen erhält, geradezu ein beacht­liches Ergebnis. Dennoch ist Macron sich bewusst, dass er in der zweiten Halbzeit seines Mandats nicht auf dieselbe Weise weiter­re­gieren kann wie zuvor.

Entspre­chend soll nun, im explizit so angekün­digten „Zweiten Akt“ des Macron-Schau­spiels alles besser werden: in der Methode, in der Sache, und nicht zuletzt im Ton.

Was die Methode betrifft, wird insbe­sondere an der „Input“-Legitimierung geschraubt. Zum einen durch eine echte Innovation in der Geschichte der Fünften Republik, die aus der großen Debatte hervor­ge­gangene Einrichtung einer ersten „Bürger­ver­sammlung“. In der Convention Citoyenne pour le Climat sollen 150 durch Losver­fahren bestimmte Bürger zwischen Oktober und Januar darüber befinden, wie die angestrebten Klima­ziele sozial­ver­träglich erreicht werden können.

Pseudo-parti­zi­pa­tives Blendwerk? Immerhin: der Präsident hat sich darauf festgelegt, dass die erarbei­teten Vorschläge „ohne Filter“ dem Parlament zur Verab­schiedung vorgelegt oder gar zum Objekt eines Referendums werden.

Zum anderen soll neben dieser direkten Einbindung der Bürger auch wieder der Dialog mit den bisher hochmütig ausge­grenzten Sozial­partnern und den lokalen und regio­nalen Körper­schaften aufge­nommen werden. „Zu-hö-ren!“ heißt die neue Maxime, horizontale Entschei­dungs­findung ist angesagt. Laut Premier­mi­nister Edouard Philippe soll nichts mehr „auf überstürzte Weise“ durch­ge­paukt werden.

Auch der Tonfall soll sich ändern

Neben der Schwer­punkt­ver­la­gerung vom „Output“ zum „Input“  verschiebt sich auch der politische Schwer­punkt. Der wirtschaftlich-soziale „Umbau“ Frank­reichs ist zwar noch lange nicht beendet – die aller­größte Heraus­for­derung steht mit der Renten­reform noch ins Haus – wird aber jetzt begleitet von dem Versuch, verlorene Glaub­wür­digkeit in Sachen Umwelt­po­litik zurück­zu­ge­winnen sowie einer heiklen, aber nicht unange­brachten Grund­satz­de­batte zur Immigration, in der „Humanismus und Stand­haf­tigkeit“ zusam­men­ge­führt werden sollen.

Das riecht natürlich nach wahltak­ti­schen Erwägungen. Die Betonung des ökolo­gi­schen Wandels zielt offen­sichtlich darauf ab, sich mit den „linken Standbein“ der République en Marche neu zu versöhnen. Die verbit­terte Abdankung des populären Umwelt­mi­nisters Nicolas Hulot – mitten in einer Live-Radio­sendung – und der demons­trative Partei­aus­tritt des angese­henen ex-Grünen Matthieu Orphelin haben dem Präsi­denten klar aufge­zeigt, dass seine Politik von vielen Mitstreitern als zu „rechts­lastig“ und in Umwelt­fragen als ambiti­onslos befunden wird. Auch hat ihm wohl der Achtungs­erfolg der franzö­si­schen Grünen mit 13,5% der Stimmen bei der Europawahl im Mai zu denken gegeben.

Bei der Immigra­tions-Debatte geht es offen­sichtlich darum, dem Rassem­blement National und TV-Hasspre­digern wie Eric Zemmour nicht die alleinige Deutungs­hoheit zu überlassen und allen Vorwürfen, die Kontrolle zu verlieren, präventiv zu entkräften. Darauf zielt auch die plötz­liche Strenge gegenüber den mehreren Tausend Pseudo­asyl­be­werbern aus Georgien oder Albanien ab, die sich in Frank­reich während der Bearbeitung ihres chancen­losen Antrags kostenlos im Krankenhaus behandeln lassen.

Was sich abgesehen von diesen metho­di­schen und thema­ti­schen Neuaus­rich­tungen in der zweiten Halbzeit noch ändern soll, ist der Tonfall. Emmanuel Macron hat sein Mea Culpa gemacht und versi­chert, er werde sich nicht mehr zu Bemer­kungen hinreißen lassen, die von den Bürgern als verletzend empfunden werden können. Das darf man als ehrliche Selbst­kritik verstehen, indes: für dieje­nigen, die ihren besser­wis­senden Präsi­denten als arroganten Eliten­ver­treter abgehakt haben, dürfte das Gelöbnis der Besserung zu spät kommen.

Trotz eines präze­denz­losen Reform­tempos und kleinerer Verbal­aus­fälle, trotz Eisen­bah­ner­streik und Gelbwesten hat Emmanuel Macron die Legiti­mität für sein „Trans­for­ma­ti­ons­projekt“ zur Halbzeit noch nicht verspielt. Das kann man als beacht­lichen Erfolg werten.

Renten­reform provo­ziert Protest

Dennoch droht auch in den kommenden zweieinhalb Jahren Legiti­ma­ti­ons­verlust. Da sind zum Beispiel die zahlreichen Übergriffe einer erstaunlich überfor­derten Polizei, die nur unzurei­chend aufge­ar­beitet werden und ein diffuses Gefühl staat­licher Willkür hinter­lassen. Da ist der schmerz­hafte Niedergang des hochgradig identi­täts­stif­tenden Gesund­heits­systems, das an allen Ecken und Enden unter dem aufer­legten Spardiktat ächzt. Da ist die Schul- und Abitur­reform, die seit langem nötig war und das Potential hat, lokale Energien freizu­legen, die aber von einer zentra­lis­tisch-egalitär sozia­li­sierten und skandalös unter­be­zahlten Lehrer­schaft kaum mitge­tragen wird.

Und über allem schwebt das Damokles­schwert der angedachten Renten­reform. Sie zielt darauf ab, das System zu retten, und wird doch von vielen als existen­tielle Bedrohung empfunden. Die mittler­weile unver­meid­lichen Gerüchte und Verschwö­rungs­theorien in den sozialen Netzwerken werden ihren Teil dazu beitragen, die nationale Debatte zu vergiften.

Auch in den nächsten zweieinhalb Jahren wird Frank­reich ein merkwürdig verletz­liches, fragiles Land bleiben, in dem die Nerven permanent blank liegen. Ein gesell­schaft­liches und kultu­relles Umfeld, in dem demokra­tisch gewählte Regie­rungs­chefs norma­ler­weise vor Reform­zu­mu­tungen aller Art zurück­schrecken. Man kann Emmanuel Macron vieles nachsagen, aber an Mut mangelt es ihm nicht.

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