Macron: Ein Technokrat lernt seine Lektion
Emmanuel Macron meinte, er könne der fünften Republik durch ein Turbo-Reformprogramm zu neuer Verve verhelfen. Doch zur Halbzeit seiner Präsidentschaft zeigt sich: ohne Gespräche, Beratungen und Kompromisse geht es nicht. Unser Autor Albrecht Sonntag über einen Technokraten, der seine Lektion gelernt hat und nun ganz viel reden will.
Das Narrativ, mit dem Emmanuel Macron vor zweieinhalb Jahren in den Elysée-Palast einzog, war untermauert von dem ambitiösen Anspruch, eine Antwort zu finden auf den Vertrauensverlust in die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der liberalen Demokratie.
Der spektakulärste Teil dieser Antwort bestand darin, die als lähmend und überkommen empfundene Recht-Links-Spaltung des politischen Spektrums zu beseitigen und einer vermuteten liberal-progressiven, pro-europäischen Mehrheit in der Mitte den Weg zur Macht zu ebnen.
Nach zahlreichen Skandalen galt es zudem, den stark angekratzten Ruf der Volksvertreter aufzubessern, zunächst durch eine massive Erneuerung des politischen Personals, nach der Wahl durch strengere Selbstregulierung. Mit dem „Gesetz zur Moralisierung des politischen Lebens“ beschnitt die Regierung Nepotismus und Ämterhäufung. Auch wurde mehr Transparenz in der Offenlegung von Vermögensverhältnissen und Interessenkonflikten geschaffen.
Auch in den nächsten zweieinhalb Jahren wird Frankreich ein merkwürdig verletzliches, fragiles Land bleiben, in dem die Nerven permanent blank liegen.
Schließlich ging es darum, die als schwerfällig und langsam empfundenen demokratischen Prozesse mit Hilfe eines vertikalen, stark technokratisch angehauchten Durchregierens zu beschleunigen; ein Vorhaben, das die hyperzentralisierten Strukturen der Fünften Republik ohnehin nahegelegten.
Die im Voraus angekündigte Reformwut, so die Annahme, werde durch den zu erwartenden Output legitimiert – insbesondere die Verminderung der Arbeitslosigkeit –, außerdem würden die stabilen Mehrheitsverhältnisse der Regierung genug Zeit geben, um die Früchte ihrer Arbeit zu ernten.
Eine riskante Rechnung, wie sich zeigte. So viel Gespür Emmanuel Macron bei seinem Aufstieg für die Befindlichkeiten der Mitte der französischen Gesellschaft gezeigt hatte, so unvorbereitet traf ihn die Eruption der lang aufgestauten Kaufkraft-Frustration der Geringverdienenden.
Bürgerversammlung per Losverfahren
Aus dem Popularitätstief des vergangenen Gelbwesten-Winters hat er sich zwar nicht zuletzt mit Hilfe der „Großen Nationalen Debatte“ herausgearbeitet – angesichts der gesellschaftlichen Dauerkrise sind die 33% an Zustimmung, die er in aktuellen Umfragen erhält, geradezu ein beachtliches Ergebnis. Dennoch ist Macron sich bewusst, dass er in der zweiten Halbzeit seines Mandats nicht auf dieselbe Weise weiterregieren kann wie zuvor.
Entsprechend soll nun, im explizit so angekündigten „Zweiten Akt“ des Macron-Schauspiels alles besser werden: in der Methode, in der Sache, und nicht zuletzt im Ton.
Was die Methode betrifft, wird insbesondere an der „Input“-Legitimierung geschraubt. Zum einen durch eine echte Innovation in der Geschichte der Fünften Republik, die aus der großen Debatte hervorgegangene Einrichtung einer ersten „Bürgerversammlung“. In der „Convention Citoyenne pour le Climat“ sollen 150 durch Losverfahren bestimmte Bürger zwischen Oktober und Januar darüber befinden, wie die angestrebten Klimaziele sozialverträglich erreicht werden können.
Pseudo-partizipatives Blendwerk? Immerhin: der Präsident hat sich darauf festgelegt, dass die erarbeiteten Vorschläge „ohne Filter“ dem Parlament zur Verabschiedung vorgelegt oder gar zum Objekt eines Referendums werden.
Zum anderen soll neben dieser direkten Einbindung der Bürger auch wieder der Dialog mit den bisher hochmütig ausgegrenzten Sozialpartnern und den lokalen und regionalen Körperschaften aufgenommen werden. „Zu-hö-ren!“ heißt die neue Maxime, horizontale Entscheidungsfindung ist angesagt. Laut Premierminister Edouard Philippe soll nichts mehr „auf überstürzte Weise“ durchgepaukt werden.
Auch der Tonfall soll sich ändern
Neben der Schwerpunktverlagerung vom „Output“ zum „Input“ verschiebt sich auch der politische Schwerpunkt. Der wirtschaftlich-soziale „Umbau“ Frankreichs ist zwar noch lange nicht beendet – die allergrößte Herausforderung steht mit der Rentenreform noch ins Haus – wird aber jetzt begleitet von dem Versuch, verlorene Glaubwürdigkeit in Sachen Umweltpolitik zurückzugewinnen sowie einer heiklen, aber nicht unangebrachten Grundsatzdebatte zur Immigration, in der „Humanismus und Standhaftigkeit“ zusammengeführt werden sollen.
Das riecht natürlich nach wahltaktischen Erwägungen. Die Betonung des ökologischen Wandels zielt offensichtlich darauf ab, sich mit den „linken Standbein“ der République en Marche neu zu versöhnen. Die verbitterte Abdankung des populären Umweltministers Nicolas Hulot – mitten in einer Live-Radiosendung – und der demonstrative Parteiaustritt des angesehenen ex-Grünen Matthieu Orphelin haben dem Präsidenten klar aufgezeigt, dass seine Politik von vielen Mitstreitern als zu „rechtslastig“ und in Umweltfragen als ambitionslos befunden wird. Auch hat ihm wohl der Achtungserfolg der französischen Grünen mit 13,5% der Stimmen bei der Europawahl im Mai zu denken gegeben.
Bei der Immigrations-Debatte geht es offensichtlich darum, dem Rassemblement National und TV-Hasspredigern wie Eric Zemmour nicht die alleinige Deutungshoheit zu überlassen und allen Vorwürfen, die Kontrolle zu verlieren, präventiv zu entkräften. Darauf zielt auch die plötzliche Strenge gegenüber den mehreren Tausend Pseudoasylbewerbern aus Georgien oder Albanien ab, die sich in Frankreich während der Bearbeitung ihres chancenlosen Antrags kostenlos im Krankenhaus behandeln lassen.
Was sich abgesehen von diesen methodischen und thematischen Neuausrichtungen in der zweiten Halbzeit noch ändern soll, ist der Tonfall. Emmanuel Macron hat sein Mea Culpa gemacht und versichert, er werde sich nicht mehr zu Bemerkungen hinreißen lassen, die von den Bürgern als verletzend empfunden werden können. Das darf man als ehrliche Selbstkritik verstehen, indes: für diejenigen, die ihren besserwissenden Präsidenten als arroganten Elitenvertreter abgehakt haben, dürfte das Gelöbnis der Besserung zu spät kommen.
Trotz eines präzedenzlosen Reformtempos und kleinerer Verbalausfälle, trotz Eisenbahnerstreik und Gelbwesten hat Emmanuel Macron die Legitimität für sein „Transformationsprojekt“ zur Halbzeit noch nicht verspielt. Das kann man als beachtlichen Erfolg werten.
Rentenreform provoziert Protest
Dennoch droht auch in den kommenden zweieinhalb Jahren Legitimationsverlust. Da sind zum Beispiel die zahlreichen Übergriffe einer erstaunlich überforderten Polizei, die nur unzureichend aufgearbeitet werden und ein diffuses Gefühl staatlicher Willkür hinterlassen. Da ist der schmerzhafte Niedergang des hochgradig identitätsstiftenden Gesundheitssystems, das an allen Ecken und Enden unter dem auferlegten Spardiktat ächzt. Da ist die Schul- und Abiturreform, die seit langem nötig war und das Potential hat, lokale Energien freizulegen, die aber von einer zentralistisch-egalitär sozialisierten und skandalös unterbezahlten Lehrerschaft kaum mitgetragen wird.
Und über allem schwebt das Damoklesschwert der angedachten Rentenreform. Sie zielt darauf ab, das System zu retten, und wird doch von vielen als existentielle Bedrohung empfunden. Die mittlerweile unvermeidlichen Gerüchte und Verschwörungstheorien in den sozialen Netzwerken werden ihren Teil dazu beitragen, die nationale Debatte zu vergiften.
Auch in den nächsten zweieinhalb Jahren wird Frankreich ein merkwürdig verletzliches, fragiles Land bleiben, in dem die Nerven permanent blank liegen. Ein gesellschaftliches und kulturelles Umfeld, in dem demokratisch gewählte Regierungschefs normalerweise vor Reformzumutungen aller Art zurückschrecken. Man kann Emmanuel Macron vieles nachsagen, aber an Mut mangelt es ihm nicht.
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