„Es gibt uns!“

© Shut­ter­stock

Die Moskauer Stadtduma ist nicht sonder­lich bedeutend. Aber indem die Wahl­kom­mis­sion unab­hän­gigen Kandi­daten die Teilnahme an der bevor­ste­henden Wahl verwei­gerte, kata­pul­tierte sie die Bedeutung des Stadt­par­la­ments in ungeahnte Höhen. Wie aus Apathie ein Aufstand wurde.

Plötzlich gab es da einen Sergej Serge­jewtsch. Oder einen Wladmir Wkto­ro­witsch. Der eine hatte ein Geburts­datum, das keine Nullen aufwies, der andere eine Pass­nummer, die es nicht gab. Lauter offen­sicht­lich fehler­hafte Angaben, die angeblich auf Unter­schrif­ten­listen standen und nicht stimmen konnten – weil ein Buchstabe im Vornamen fehlte oder weil einer im Nachnamen zu viel war. Es waren Unter­schrif­ten­listen, die unab­hän­gige Kandi­daten für die Wahl des Moskauer Stadt­par­la­ments einge­reicht hatten. Listen, die die Wahl­kom­mis­sion schnell für ungültig erklärte. Sie verwei­gerte den unab­hän­gigen Kandi­daten, die gern Abge­ord­nete im Moskauer 45-Kopf-Gremium geworden wären, die Teilnahme an der Wahl. Mani­pu­lierte Unter­schrif­ten­listen, so sieht es die Wahlkommission. 

Portrait von Inna Hartwich

Inna Hartwich ist freie Jour­na­listin und lebt in Moskau.

57 solcher Kandi­daten – „Nicht-System-Oppo­si­tion“, wie diese Oppo­si­tio­nellen in Russland genannt werden – hat sie nicht zur Wahl am 8. September zuge­lassen, etwa Ilja Jaschin, Konstantin Jank­auskas und Julia Galjamina. Diese drei Kandi­daten sind seit 2017 bereits Stadträte in Moskauer Bezirken und kümmern sich zuweilen auch um kaputte Glüh­birnen in Häuser­auf­gängen. Was ein Moskauer Stadtrat eben so tut. Abge­ord­nete im Stadt­par­la­ment aber sollen sie nicht werden. Die Angst vor unan­ge­passten Köpfen hat zu einer Reaktion der Stadt­re­gie­rung geführt, die das Gegenteil bewirkt hat: Plötzlich weckt die stets als lang­weilig verschriene Wahl zur Stadtduma auch das Interesse derje­nigen, die unter anderen Umständen womöglich gar nicht erst zur Wahl gegangen wären.

Bei der letzten Wahl 2014 lag die Wahl­be­tei­li­gung bei lediglich 21 Prozent. Aber diesmal wurde aus dem Versuch, das Risiko zu mini­mieren, eine haus­ge­machte Krise und ein Aufstand der Unzu­frie­denen. Der Staat griff zum Schlag­stock, wie sich bei der nicht geneh­migten Demons­tra­tion am vergan­genen Samstag zeigte. Mit brachialer Gewalt trieben Poli­zisten in voller Montur die friedlich demons­trie­renden Männer und Frauen ausein­ander und nahmen mehr als 1.300 von ihnen fest. Eine Rekord-Zahl. Die demons­tra­tive Härte, die Einschüch­te­rung und die Bestra­fung sollen den Menschen den Glauben nehmen, es könne sich politisch etwas ändern im Land.

Menschen, die es angeblich gar nicht gibt, demons­trieren nun in Moskau

Am 8. September sollen in 16 Regionen Russlands neue Gouver­neure und in mehr als 30 Regionen neue Parla­mente und Stadträte gewählt werden. Ein Ereignis, das in den vergan­genen Jahren stets geräuschlos und für die Regie­rungs­partei „Einiges Russland“ äußerst erfolg­reich über die Bühne gelaufen ist. In Moskau aber bröckeln nun die Gewissheiten.

Denn all die Sergej Serge­jewtschs und Wladmir Wkto­ro­witschs, Menschen also, die es angeblich gar nicht gibt, weil die Kontrol­leure der Unter­schrif­ten­listen in ihren Namen fehlende Buch­staben ausmachten, sie nicht an der ange­ge­benen Adresse regis­triert fanden oder sie gar für tot erklärten, melden sich nun bei Demons­tra­tionen in der russi­schen Haupt­stadt zu Wort. Tag für Tag kommen mehrere Hundert Menschen zusammen und stehen für ihre Kandi­daten und ihre Rechte ein. Mitte Juli versam­melten sich auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt mehr als 20.000 Demons­tranten, so viel wie seit den Anti-Regie­rungs­de­mons­tra­tionen im Winter 2011 nicht. Der Protest wird zu einer Mani­fes­ta­tion der eigenen Existenz. „Es gibt uns!“, rufen die Unzu­frie­denen bei ihren Aktionen.

Die Kandi­daten müssen Unter­schriften von drei Prozent aller Wähler in ihrem Wahlkreis sammeln. Das sind bis zu 6.000 Unter­schriften pro Bewerber. In einem Land, in dem kaum jemand seine Pass­nummer und sonstige Daten an Unbe­kannte preisgibt, gingen Frei­wil­lige von Tür zu Tür und trotzten Wind und Wetter, nur um an die begehrten Unter­schriften zu kommen. Auch die Kandi­daten, die vom Bürger­meis­teramt unter­stützt wurden, mussten das tun, weil jeder unab­hän­gige Kandidat diese Unter­schriften nach­weisen muss. Da die Repu­ta­tion der Regie­rungs­partei darnie­der­liegt und ihr Name mitt­ler­weile als Bürde empfunden wird, lassen sich viele partei­nahe Kandi­daten als angeblich Partei­lose aufstellen. Die Hürde der Unter­schrif­ten­listen nahmen diese Pseudo-Unab­hän­gigen freilich problemlos. Die Unge­reimt­heiten waren lediglich bei den „Nicht-System-Oppo­si­tio­nellen“ aufgetaucht.

Den Menschen bleibt nur der unge­neh­migte Protest

Die Unter­schriften-Barriere beruhigt das Bürger­meis­teramt seit jeher. Die Ablehnung der Regis­trie­rung als Kandidat war in der Vergan­gen­heit stets ein probates Mittel – und für die Mächtigen nur logisch. Nun aber hebt die unge­schickte Weigerung der Wahl­kom­mis­sion, die 57 Bewerber als Kandi­daten überhaupt zu regis­trieren, die Stadtduma auf ein poli­ti­sches Niveau, das ihr kaum jemand zugetraut hätte. Die Wahl wird so zu einem Symbol für die poli­ti­sche Erschöp­fung der Menschen, die oft zu Apathie führt, aber derzeit in Moskau das Gegenteil befördert: den Aufstand.

Die lokale Unzu­frie­den­heit wächst in Russland seit Monaten. Einmal haben es die Menschen satt, dass ohne ihre Mitsprache eine Kirche in einem Park gebaut werden soll. Ein anderes Mal wollen sie keine Müll­de­ponie in ihrem Wald entstehen lassen. Hier wie da gingen mehrere Wochen lang Menschen, zum Teil mir radikalen Mitteln, für ihre Rechte auf die Straße – und erreichten Über­ra­schendes: Die Baupläne für Kirche und Müll­de­ponie liegen – vorerst – auf Eis. Die Mächtigen machten Zuge­ständ­nisse, nahmen dem Protest den Druck, zumal auch die Umfra­ge­werte für Russlands Präsi­denten Wladimir Putin stetig am Sinken sind.

Der Moskauer Protest aber ist anders. Er ist nicht sozialer oder ökolo­gi­scher Natur. Er ist politisch. Poli­ti­sche Zuge­ständ­nisse aber sind für den Kreml ein Zeichen der Schwäche. Schwäche, die er nicht zulassen kann. Deshalb kommt es zur Konfron­ta­tion zwischen der Wahl­kom­mis­sion und den nicht zuge­las­senen Kandi­daten, deshalb kommt es zum 30-tägigen Arrest für den Anti-Korrup­ti­ons­blogger und Regie­rungs­kri­tiker Alexej Nawalny, deshalb kommt es zu Haus­durch­su­chungen bei manchen nicht zuge­las­senen Kandi­daten. Deshalb hat die Ermitt­lungs­be­hörde auch ein Straf­ver­fahren gegen eine Gruppe ange­strebt, die laut Behörde zu Demons­tra­tionen vor der Wahl­kom­mis­sion aufge­rufen habe. Der Vorwurf: Druck auf die Wahl­kom­mis­sion. Der Protest gegen die Entschei­dung der Wahl­kom­mis­sion wird so kriminalisiert.

Das rigorose Vorgehen der Behörden zeigt, dass die Situation sich verschärft und weder die Moskauer Stadt­re­gie­rung noch der Kreml bereit ist, den Druck aus der Protest­be­we­gung zu nehmen. Den Menschen bleibt nur noch der unge­neh­migte Protest. Protest, bei dem sie wissen, dass der Schlag­stock des Staates sie treffen kann.

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