Wie Russland den Einmarsch in Afgha­ni­stan verklärt

© Shut­ter­stock

Ein Film über den Abzug der sowje­ti­schen Truppen aus Afgha­ni­stan sorgt in Russland für eine heftige Debatte über das Erbe des zehn­jäh­rigen Krieges. Einige Politiker wollen die Invasion am Hindu­kusch umdeuten.

Als die Vorfüh­rung zu Ende ist und die Zuschauer – Staats­be­diens­tete, Armee­an­ge­hö­rige und hoch­de­ko­rierte Veteranen – zusam­men­pa­cken, greift Pawel Lungin zum Mikrofon. Gerade ist sein neuer Film „Bruder­schaft“ („Bratstwo – Leaving Afgha­ni­stan“) über die Leinwand gelaufen, ein brutaler Anti­kriegs­film über den Abzug der sowje­ti­schen Truppen aus Afgha­ni­stan im Jahr 1989. Lungin spricht ruhig und sagt, an die Ex-Soldaten gerichtet: 

Portrait von Inna Hartwich

Inna Hartwich ist freie Jour­na­listin und lebt in Moskau.

„Hört doch auf zu verlangen, dass man euch in den Hintern kriecht!“

„Es darf nicht sein, dass die Jugend so wird wie ihr!“

„Schluss mit den Lobes­hymnen auf eure Taten!“

Kurz zuvor hat Russlands Kultur­mi­nister Wladimir Medinski erklärt, er halte den Film für einen Fehler, aus dem Bildungs­mi­nis­te­rium hat es geheißen, das Werk wider­spreche den Anfor­de­rungen der patrio­ti­schen Erziehung. „Solche Filme braucht man nicht“, schimpften einige Veteranen. Der Film sei russ­land­feind­lich, stelle den Einsatz falsch dar, zeige keinen Heroismus, und überhaupt sei alles ganz anders gewesen, so lautete die Kritik der Behörden und Verbände.

„Geschichts­fäl­schung und prowest­liche Propaganda“

Der 69-jährige Regisseur Lungin, der inter­na­tional vor allem mit seinem Film „The Island“ über einen zurück­ge­zogen lebenden Mönch bekannt geworden ist, sagt, der Afgha­ni­stan-Einsatz sei wie ein Geschwür in der russi­schen Gesell­schaft: Es eitere immer weiter, weil man nicht darüber rede. Einen Tag nach dem „Tag des Sieges“ am 9. Mai, an dem Russland den Sieg über Nazi-Deutsch­land und das Ende des Zweiten Welt­krieges feiert, lief sein Film nach anfäng­li­chen Problemen mit den Behörden schließ­lich an – aller­dings nur für drei Tage und nur in ausge­wählten Kinos.

Die Kontro­verse um Lungins Film zeigt, wie Russland heute mit dem 30 Jahre zurück­lie­genden Einsatz der Sowjets in Afgha­ni­stan umgeht. Legenden und Pathos domi­nieren, die negativen Erin­ne­rungen werden verdrängt. Damit ist auch zu erklären, warum eine Gruppe russi­scher Abge­ord­neter sich für eine Revision des Geschichts­bildes einsetzt.

Im Dezember 1989, auf dem Höhepunkt der Pere­stroika Michail Gorbat­schows, verur­teilte der Kongress der Volks­de­pu­tierten der UdSSR die Trup­pen­ent­sen­dung nach Afgha­ni­stan als mora­li­sche und poli­ti­sche Fehl­ent­schei­dung. Es ist ein einzig­ar­tiges Dokument, das die Nieder­lage der Sowjet­union einge­steht. Für viele in Russland ist das das einzig richtige Urteil über diesen „schreck­li­chen poli­ti­schen Fehler“, der 15.000 sowje­ti­sche Tote und 1,5 Millionen afgha­ni­sche Opfer gefordert hat. Einige Abge­ord­nete aber, darunter vor allem die Vertreter der Kommu­nisten, sehen in der damaligen Reso­lu­tion eine „histo­risch unge­rechte Beur­tei­lung“ und finden eine Neube­wer­tung der Lage „uner­läss­lich“. Sie betrachten den damaligen Beschluss als „Geschichts­fäl­schung und prowest­liche Propa­ganda“. Ein Vorwurf, der im heutigen Russland schnell zur Hand ist, weil der Westen für vielerlei Übel im Land verant­wort­lich gemacht wird.

Die vom Staat betrie­bene Umdeutung der Ereig­nisse ist eine Abrech­nung mit den früheren Reformen und wird gern zur Legi­ti­ma­tion aktueller russi­scher Politik heran­ge­zogen. Der Afgha­ni­stan-Einsatz soll nicht als etwas gesehen werden, das den Zusam­men­bruch der Sowjet­union beschleu­nigt hat. Schon gar nicht soll die poli­ti­sche Tragödie Afgha­ni­stans als von sowje­ti­scher Politik provo­ziert betrachtet werden. Präsident Wladimir Putin verklärte die Afgha­ni­stan-Soldaten, die in Russland „Afganzy“ genannt werden, bereits im Tsche­tsche­nien-Krieg zu Vorbil­dern in Sachen Wider­stands­kraft und patrio­ti­scher Selbstlosigkeit.

Das Geschwür eitert nicht mehr still vor sich hin

Russland besinnt sich in den vergan­genen Jahren immer stärker auf das Erbe aus der Sowjet­zeit und glori­fi­ziert die Invasion in Afgha­ni­stan, die 1979 ohne Konsul­ta­tion mit Experten von der obersten sowje­ti­schen Führung beschlossen wurde. Beim Einsatz, der laut Leonid Breschnew auf drei Monate angelegt war, sei es lediglich darum gegangen, die Sicher­heit zu wahren und stra­te­gi­sche Inter­essen der Sowjet­union in der Region zu verfolgen. Das ist auch das Narrativ, das in aktuellen Konflikten, an denen Russland beteiligt ist, zum Einsatz kommt.

Mitt­ler­weile ist der mili­ta­ris­ti­sche Patrio­tismus zum Grund­pfeiler der poli­ti­schen Identität des Landes geworden. Die aufop­fe­rungs­volle Pflicht­er­fül­lung gegenüber dem Vaterland gilt als zentraler mora­li­scher Wert. Da wird ein Film wie der von Pawel Lungin schnell als anti-patrio­tisch einge­stuft, weil er die Jugend abschreckt, statt diese für den heroi­schen Kampf zu begeis­tern. Die Argu­men­ta­tion, die Sowjet­union habe 1979 gemäß Völker­recht und lediglich auf Einladung der damaligen afgha­ni­schen Regierung gehandelt, setzt Moskau auch in heutigen Konflikten ein – in Syrien werden nahezu die gleichen Worte für die Recht­fer­ti­gung des russi­schen Einsatzes verwendet. Die jugend­po­li­ti­schen Anstren­gungen von heute zielen darauf ab – nicht zuletzt mit der 2016 nach einem Präsi­den­ten­er­lass gebil­deten, mili­tä­risch ausge­rich­teten Kinder- und Jugend­or­ga­ni­sa­tion „Junarmija“ (Junge Armee) – , die „Liebe zum Mann mit Gewehr“ (Swetlana Alexi­je­witsch) zu stärken. Dabei sollen auch „echte Patrioten“ wie die „Afganzy“ geehrt werden.

Erfreu­lich für den Regisseur: Die Debatte dürfte ganz in seinem Sinn sein. Über Afgha­ni­stan wird nun geredet. Das Geschwür eitert – zumindest für ein paar Wochen – nicht mehr still vor sich hin.

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