Heiligt der Zweck die Mittel? – Das Dilemma der Regierung Tusk
Entmachtetes Parlament, politisierte Justiz – in Polen hat die PiS de facto weiterhin die Macht. Muss sich Donald Tusk der Methoden seiner Vorgänger bedienen, um das Land redemokratisieren zu können? Klaus Bachmann über das Dilemma der neuen Regierung im ersten Teil unserer dreiteiligen Reihe „Polen: Demokratie im Dilemma“.
In den letzten acht Jahren hat die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ in Polen eine politische Ordnung aufgebaut, die zwar nach außen hin demokratisch aussieht, aber nach innen autokratisch ist. Wie kann ein Land, in dem die Regierung die Wahlen verloren und die Macht an die Opposition abgegeben hat, undemokratisch oder gar eine Autokratie sein?
Doch es ist so – und es hat sehr weit reichende Folgen für den Spielraum der neuen Regierung und das Dilemma, in dem sie steckt: Wie macht man ein Land wieder demokratisch, ohne dabei gegen demokratische und rechtsstaatliche Grundregeln zu verstoßen?
Wahlen, aber trotzdem eine Autokratie?
Wahlen an sich machen noch keine Demokratie aus. Denn wenn eine Regierung den Abstimmungsprozess, die Wahlbehörde, den Auszählungsprozess und das Gericht kontrolliert, das über die Gültigkeit der Wahlen entscheidet, wenn sie die Opposition abhört und beliebig manipulieren kann und es Landesteile gibt, in denen sie ein Medienmonopol hat und dieses Monopol missbraucht, kann man von „kompetitiver Autokratie“ oder einem „hybriden System“ – irgendetwas zwischen Demokratie und Diktatur – reden, aber nicht mehr von Demokratie.
Aufhebung der Gewaltenteilung
Doch das ist nicht das einzige Argument, das der politischen Ordnung, die in den letzten acht Jahren in Polen entstanden ist, das Recht abspricht, sich Demokratie nennen zu dürfen. Denn eine solche ist ohne Gewaltentrennung nicht denkbar, und genau diese wurde aufgehoben.
Entmachtung des Parlaments
Nach und nach wurde zuerst die erste Gewalt, das Parlament, entmachtet. Es wurde umfunktioniert zu einer Abstimmungsmaschine der Regierung, es gab zwar noch eine Opposition, aber sie hatte nichts mehr zu sagen. PiS änderte die Geschäftsordnung, machte Schnellverfahren und Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Parlaments zum Regelfall, um so die Redezeit und die Beratungszeit der Opposition einzuschränken und baute die Position des Sejm-Marschalls zu einer Bastion aus, von der aus er entscheiden kann, was, wann und wie abgestimmt wird – und was unter den Tisch fällt.
Große Teile der Medien unter Regierungskontrolle
Dann besetzte die Partei die Leitungsgremien der öffentlich-rechtlichen Medien ohne den in der Verfassung vorgesehenen Landesrundfunk- und Fernsehrat. Und als das, damals noch unabhängige, Verfassungstribunal dies untersagte, schuf sie einen eigenen „Nationalen Medienrat“, der danach das Gleiche tat. Das konnte das Verfassungstribunal dann nicht mehr untersagen, weil es da bereits unter Bruch der Verfassung mit zu vielen PiS-Parteigängern besetzt worden war.
PiS nutzte auch den Regierungseinfluss auf die Staatsbetriebe – insbesondere auf den Treibstoffkonzern Orlen SA – dazu, einem deutschen Investor seine Regional- und Lokalmedien abzukaufen und diese zu säubern. Große Teile der vierten Gewalt waren damit unter Regierungskontrolle.
Justiz unter Druck
Die dritte Gewalt, die Justiz, wurde mit Disziplinarmaßnahmen und der Entsendung von immer mehr PiS-getreuen Staatsanwälten in die Richterschaft und die justiziellen Aufsichtsgremien unter Druck gesetzt. Mehrere Kammern des Obersten Gerichtshofs und das Verfassungstribunal wurden mit Parteigängern besetzt. Mit entsprechenden Verordnungen und Gesetzen sorgten Regierung und Präsident dafür, dass die Präsidentinnen beider Gerichte die Möglichkeit erhielten, willkürlich über das Funktionieren der Spruchkammern und des Plenums zu entscheiden. Es wäre falsch, das nur als Stärkung der Exekutive zu betrachten – die Position des Präsidenten wurde dadurch nämlich schwächer.
Die PiS-Regierung dominierte die anderen Gewalten
Seit die Regierung das Verfassungstribunal und seine Rechtsprechung kontrolliert, ist das Recht des Präsidenten, ein Gesetz dem Tribunal zur Prüfung vorzulegen, obsolet geworden. Will er ein Gesetz blockieren, muss er sein Veto einlegen – aber das kann der Sejm mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit überstimmen. Ein vernichtendes Urteil des Verfassungstribunals, initiiert durch den Präsidenten, kann niemand überstimmen. Nicht die Exekutive, sondern die Regierung ist in den letzten acht Jahren immer stärker geworden und hat die anderen Gewalten dominiert. Das ging etwas unter, weil die Regierenden oft dilettantisch agierten oder beim Regieren über ihre eigenen Füße fielen.
Machtausbau für Geheimdienste und Staatsanwaltschaften
Das ändert nichts daran, dass die Geheimdienste nun jeden fast unbegrenzt abhören können, dass die Polizei willkürlich festnehmen kann, wen sie will, und die Staatsanwaltschaften, die politisch gesteuert sind, das Strafrecht so selektiv anwenden können, wie man das früher nur aus der Ukraine und Belarus kannte: Wen die Regierung mag, der kann sich alles erlauben, wen die Regierung nicht mag, der kann sich nichts mehr erlauben. Grenzen bestehen nur noch da, wo unabhängige Richter entscheiden – aber ungefähr ein Viertel aller Richter ist inzwischen nicht mehr unabhängig.
Die Regierung kann de facto per Dekret regieren
Seit der Pandemie kann die Regierung de facto per Dekret regieren, es genügt eine Verordnung. Gibt es für sie keine gesetzliche Grundlage oder verstößt sie gegen die Verfassung, genügt es, zu warten, bis jemand sie vor das Verfassungstribunal bringt. Das Gericht winkt sie durch, und alles ist in Ordnung. Und der Präsident kann Verordnungen weder blockieren noch ans Tribunal überweisen – er bekommt sie gar nicht erst. Die Regierung ist die Herrin der Verwaltung, und die ist in Polen zentralistisch. Sie ist auch Herrin des Haushalts und entscheidet, wer Geld bekommt und wer nicht, und sie schickt die Polizei los, gibt den Beamten Anweisungen.
Ein Un-Rechts-Staat
Der Staat war ein Obrigkeitsstaat, ein Polizeistaat, der nicht sehr effektiv war und den viele derer, die ihn lenkten, selbst nicht recht verstanden. Es gab nur deshalb keine politischen Gefangenen, weil die politisch gelenkte Staatsanwaltschaft dilettantisch vorging, die Polizei den Betreffenden nicht finden konnte oder weil sich nicht alle Richter gängeln ließen. So sieht ein Staat aus, der mit einem stumpfen Schwert wild um sich schlägt – dass er keinen trifft, ist nicht unbedingt dem guten Willen der Machthaber zu verdanken.
„Diesen Staat hat jetzt die Opposition geerbt“
Und diesen Staat hat jetzt die Opposition geerbt, eine Koalition aus elf Parteien, organisiert in drei Parlamentsfraktionen, von denen eine aus Abgeordneten zweier Parteien besteht. Auf der anderen Seite steht eine Opposition aus einer winzigen rechtsradikalen, rabiat-wirtschaftsliberalen Partei und einem von PiS geführten Block, der gar nicht daran denkt, die Macht abzugeben.
PiS hat weiterhin die Macht im Staat
Es mutet paradox an: PiS hat die Wahlen verloren und die Regierung abgegeben – nicht aber die Macht im Staate. Der Nationalbankpräsident und der Nationalbankrat sind fest in PiS-Hand, für den Präsidenten ist das Wort von Jaroslaw Kaczynski wichtiger als die Verfassung, alle Richter des Verfassungstribunals wurden von PiS nach Loyalitätskriterien ernannt. Mehrere Kammern des Obersten Gerichtshofs – einschließlich der Präsidentin – sind auch so besetzt, darunter mit drei Richtern, die nie hätten ernannt werden dürfen. Zwei andere, die Präsident Duda nach der Verfassung hätte ernennen müssen, fehlen dafür.
Die von PiS gesäuberten und dominierten Gerichtskammern und Gerichte werden vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof – und den von PiS nicht majorisierten Kammern des Obersten Gerichtshof – nicht als Gerichte anerkannt.
Urteil des EuGH: Die tatsächliche Unabhängigkeit von 25 % der Richter muss untersucht werden
Wegen des fröhlichen Ernennungszirkus, den der Präsident, der Justizminister und der Oberste Justizrat – auch er von der PiS unter Verletzung der Verfassung majorisiert – in den letzten Jahren aufgeführt haben, arbeiten an Polens ordentlichen Gerichten inzwischen 25 Prozent Richter, die nach einem Urteil des EuGH nicht automatisch als unabhängige Richter gelten können. Ihre Unabhängigkeit muss, bevor sie urteilen dürfen, erst untersucht werden. Sie wissen, was ihnen nun blüht: so regelmäßig, wie sie bis zu den Wahlen für die PiS-Regierung entschieden haben, entscheiden sie seither gegen die Regierung Tusk. Und, was für die Bevölkerung gravierender ist: kein Mensch kann sich darauf verlassen, dass ihre Urteile in der höheren Instanz Bestand haben werden.
„Acht Jahre wurde, was Unrecht war, zu Recht erklärt“
Man kann es auch umdrehen: acht Jahre wurde, was Unrecht war, zu Recht erklärt. Diese Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken, ist so gut wie unmöglich. Zumal Präsident Duda und die PiS bereits angekündigt haben, ihre gesamte Macht dafür einzusetzen, das zu verhindern.
Ein politisches Dickicht
Wenn Polen also nach acht Jahren PiS-Herrschaft eine Autokratie, ein Polizeistaat ist, dann, so sollte man meinen, wäre es die Aufgabe der neuen Regierung, das Land wieder demokratisch zu machen – was ihre Vertreter auch bei jeder Gelegenheit betonen. Und es beruhigt auch erst einmal: Alles wird gut und Polen wieder eine Demokratie. So klingt es unter ihren Anhängern, so klingt es in den ausländischen Medien.
Der Präsident kann jedes Gesetz per Veto blockieren
Es funktioniert nur leider nicht. Für jedes Gesetz, das die Regierung Tusk im Parlament verabschieden lassen will, braucht sie die Zustimmung des Präsidenten. Er kann jedes Gesetz per Veto blockieren, dann braucht die neue Regierung zumindest einen Teil der PiS-Stimmen, um das Veto mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit zu überstimmen.
Der Präsident kann Gesetze aber auch an das Verfassungstribunal zur Überprüfung schicken. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Das Gericht entscheidet schnell und kassiert das Gesetz, dann ist es vom Tisch. Oder die Richter fallen übereinander her, wie sie das inden letzten Monaten getan haben, und bekommen kein Urteil zustande, dann liegt das Gesetz auf Eis, bis sie es sich anders überlegen.
Kann sein, dass Tusk und Duda es schaffen, sich zusammenzuraufen und Kompromisse zu schließen. Aber auch eine kleine Gruppe Abgeordneter kann auf eigene Faust jedes Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit untersuchen lassen. Dann wird ein solcher Kompromiss zwischen den Elefanten der polnischen Politik von deren Ameisen konterkariert.
Bis 2027 ist das Verfassungstribunal mehrheitlich mit PiS-Parteigängern besetzt
Dass Dudas zweite Amtszeit im August 2025 endet, ist da kein Trost. Bis 2027 – also während ihrer gesamten Amtszeit – wird es die Regierung Tusk mit einem Verfassungstribunal zu tun haben, in dem PiS-Parteigänger die Mehrheit haben. Bis dahin ist er also aus, der Traum vom Regieren und Demokratisieren.
Soll sich die Regierung Tusk des geerbten Vermächtnisses bedienen?
Es sei denn, die Regierung Tusk, die angetreten ist, mehr Demokratie zu wagen, bedient sich dabei der ganzen Wucht des Polizeistaats, den sie von PiS geerbt hat, und kehrt ihn gegen seine Erfinder. PiS erließ Verordnungen, die gesetzwidrig und verfassungswidrig waren? Das kann Tusk auch. Eine Verordnung kann der Präsident nicht blockieren. Das könnte das Verfassungstribunal zwar tun, aber hat es PiS nicht seit 2016 zur Gewohnheit gemacht, unbequeme Urteile des Tribunals gar nicht erst zu veröffentlichen?
Jede Regierung hat nun eine Menge Beinfreiheit
Seit die Kontrolle über die Druckerei im Ministerratsgebäude wichtiger ist als der Inhalt von höchstrichterlichen Urteilen, hat jede Regierung in Polen eine Menge Beinfreiheit. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, aber man könnte ja auch auf die Idee kommen, im Parlament ganz reguläre Gesetze zu verabschieden, sie aber so schnell zu veröffentlichen, dass sie in Kraft treten, bevor sie der Präsident mit seinem Veto blockieren kann. Falls er sie an das Verfassungstribunal schickt, wird dann eben wieder ein Urteil nicht veröffentlicht.
Re-Demokratisierung: Mit welchen Mitteln?
Natürlich wäre das nicht rechtsstaatlich und auch nicht demokratisch, aber es wäre effektiv. Sollten der Präsident und die PiS-Abgeordneten dagegen Sturm laufen – nun ja, die Regierung mit ihrer Parlamentsmehrheit ist auch Herr über den Staatshaushalt, über den der Präsident sein Amt finanziert. Und der Sejm-Marschall hat dank der von PiS vorgenommenen, recht undemokratischen Geschäftsordnungsänderungen nun jede Macht, um randalierende Oppositionsvertreter in die Schranken zu weisen.
Sollte die Regierung dabei etwas Ungesetzliches tun, kann sie sich damit trösten, dass sie dank der PiS-Justizreform die Staatsanwaltschaften so steuern kann, dass diese nur gegen Regierungsgegner, aber auf keinen Fall gegen Regierungsmitglieder vorgehen.
Wie eng die Daumenschrauben werden können, die die neue Regierung ihren Vorgängern anlegen kann, zeigt das Beispiel Ausnahmezustand: PiS hat die Vorschriften dafür – die früher Verfassungsrang hatten – per Gesetz an den Innenminister delegiert, der sie dann per Verordnung an der belarussischen Grenze anwandte. Ausnahmezustand per Verordnung, ohne Kontrolle durch Parlament und Gerichte – ist das nicht der Traum eines jeden Diktators?
Das Dilemma der neuen Regierung
Und was, wenn man so die Widerstände gegen eine Re-Demokratisierung Polens beseitigt? Das ist das Dilemma, vor dem die neue Regierung steht: Sie kann streng nach Vorschrift vorgehen und über jedes neue Gesetz wochen- und monatelang mit dem Präsidenten und dem Verfassungstribunal Kompromisse aushandeln, brav dessen Urteile drucken, selbst wenn sie ihr das Regieren unmöglich machen.
Dann behält PiS die Macht und die Pfründe, die sich die Partei in acht Jahren größtenteils widerrechtlich angeeignet hat und Polen wird nicht demokratischer, als es unter PiS-Herrschaft war und viele der Bedingungen, die die EU für die Auszahlung des Wiederaufbaufonds und der Struktur- und Kohäsionsmittel aufgestellt hat, bleiben unerfüllt.
Da PiS aber sehr großzügig war, wenn es darum ging, Steuergelder an seine Bonzen und Unterstützer zu verteilen und darüber hinaus zum Stimmenkauf jede Menge Subventionen mit der Gießkanne verteilt hat, braucht die neue Regierung das Geld aus Brüssel dringender als je zuvor.
Die Alternative: Die Regierung zeigt ihren Vorgängern, wo der Bartel den Most holt. Dann regiert sie mit Dekreten, kürzt dem Präsidenten für jedes Veto den Haushalt zusammen (einzelne Oppositionsabgeordnete haben ihm das bereits angedroht), druckt nur die Urteile des Verfassungstribunals, die ihr gefallen, und legt der PiS alle Daumenschrauben an, die sich die Partei in den letzten acht Jahren für die Opposition ausgedacht hat. Dann gibt es vielleicht mehr Geld aus Brüssel, aber demokratischer wird Polen dadurch auch nicht.
Die Langzeitwirkungen rechtspopulistischer Regierungen
Das sind die Langzeitwirkungen, wenn rechtspopulistische Parteien, die sich gegen demokratische Ordnungen und Rechtsstaatlichkeit auflehnen, an die Macht kommen. Entweder sie bleiben da sehr, sehr lange, wie in der Türkei und Ungarn. Oder sie verlieren die Wahlen, geben die Regierungsgeschäfte und die Verantwortung ab, behalten aber die Macht und zwingen ihre Nachfolger, die gleichen Methoden wie sie anzuwenden – oder machtlos zu bleiben.
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