Moderne Freiheit
Karen Horn erinnert an einen vergessenen Vordenker der Freiheit und arbeitet den Widerspruch heraus, in dem sich ein moderner Liberalismus bewegt: die Spannung zwischen Begrenzung der Staatstätigkeit und ihrer Anerkennung als notwendige Bedingung der Freiheit aller. Die Parteienkonkurrenz um die Wählergunst und die zahlreichen Interessengruppen, die in einer pluralistischen Demokratie für ihre Anliegen kämpfen, führen zur permanenten Ausweitung der staatlichen Sphäre. Das gefährdet den Raum individueller Autonomie und marktwirtschaftlicher Selbstorganisation. Zugleich braucht eine freiheitliche Gesellschaft öffentliche Institutionen zur Regelung ihrer gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Subsidiarität und demokratische Partizipation sind zwei komplementäre Prinzipien, mit diesem Widerspruch produktiv umzugehen.
Da wir in der modernen Zeit leben,
will ich auch eine Freiheit,
die zu eben dieser Zeit paßt.
– Benjamin Constant (1819)
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland schätzt den Wert der Freiheit und fühlt sich frei. So beruhigend dieser Umfragebefund auch erscheinen mag, so wenig kann man mit ihm konkret anfangen: Die Vorstellungen darüber, worin Freiheit besteht, gehen weit auseinander. Für manche Leute hat Freiheit mehr mit ihren realen materiellen Möglichkeiten zu tun als mit ihren bürgerlichen Rechten, die sie als gesichert betrachten; für andere ist sie mehr das Ergebnis innerer, geistiger Anstrengungen als äußerer, politisch beeinflussbarer Bedingungen. Solche Anschauungen mögen zwar den konzeptionellen Ansprüchen der politischen Philosophie nicht genügen, welche die „positive“ Freiheit „wozu“ von der „negativen“ Freiheit im Sinne eines individuellen Abwehrrechts unterscheidet und sich für das Seelenleben nicht zuständig fühlt. Doch immerhin führt schon diese hartnäckige Dissonanz vor Augen, dass ein Fokus auf das Zurückdrängen des immer weiter ausgreifenden Staats, obschon wichtig, in der lange praktizierten Mischung aus Ausschließlichkeit und Undifferenziertheit genauso ungenügend ist wie die Engführung des Freiheitsbegriffs auf das Wirtschaftliche.
Im politischen Leben besteht der Imperativ der Freiheit wesentlich darin, das kollektive Handeln vor gefährlichen Übergriffen zulasten der individuellen Initiative und der spontanen gesellschaftlichen Koordination zu bewahren. Er äußert sich auch, aber nicht allein in Steuersätzen, die den Bürgern finanziellen Spielraum für die eigenverantwortliche Gestaltung ihres Lebens lassen und mit dem grundsätzlichen Schutz des Privateigentums vereinbar sind. Der Imperativ der Freiheit richtet sich zunächst darauf, was der Staat nicht tun soll. Zugleich richtet er sich ausdrücklich auch darauf, was der Staat tun soll, wie er dies tun soll und welche Verfahren dabei zur Anwendung kommen.
Es kann nicht darum gehen, den Staat „abzuschaffen“, wie es sich versprengte Anarchisten wohl noch immer wünschen. Kollektives Handeln der Bürger innerhalb der historisch gewachsenen, mühsam erkämpften rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen, die wir „Staat“ nennen, ist unabdingbar vor dem Hintergrund der Komplexität der gesellschaftlichen Realität auf der Stufe der zivilisatorischen Entwicklung, auf der wir im 21. Jahrhundert stehen. Die Moderne mit ihrem aufklärerischen Erbe, dem Appell an den Verstand, dem Vorrang des Individuums vor dem nicht mehr organisch gedachten Kollektiv, der Offenheit für Fortschritt, der bunt ausdifferenzierten Gesellschaft und der arbeitsteiligen globalen Wirtschaft besteht nicht unabhängig von staatlichen Institutionen. Die Freiheit, die zu dieser Moderne passt, ist ihrerseits komplex. Sie umfasst neben der Einhegung der kollektiven Gewalt und dem Schutz des einzelnen vor staatlicher Willkür gleichzeitig auch die politische Freiheit, das in seinen Grundzügen aus der Antike überkommene und heute verallgemeinerte Recht der Bürger zur Beteiligung am kollektiven Entscheidungsprozess.
Der vor 250 Jahren in Lausanne geborene Denker Benjamin Constant, der sich als Politiker im postnapoleonischen Frankreich für ein liberales Repräsentativsystem eingesetzt hat, mahnte 1819 in einer berühmten Rede in Paris, dass diese beiden Aspekte einander ergänzen müssen, wenn kollektives Handeln in der modernen Großgesellschaft nicht totalitär werden soll. Nach seiner Analyse kann unter diesen Bedingungen die Genugtuung, welche die politische Freiheit vermittelt, keine Kompensation für erlittene Willkür mehr sein. In der persönlichen Kleingruppe mag man es noch hinnehmen, wenn man überstimmt wird und infolge dessen ungewollte Lasten zu schultern hat; in der Anonymität der Großgesellschaft bleibt nur das bittere Empfinden von Fremdbestimmung und Ohnmacht. „In der Menge verloren, nimmt der einzelne von dem Einfluss, den er ausübt, nichts mehr wahr. Niemals prägt sich sein Wille der Gesamtheit auf, nichts führt ihm seine Mitwirkung spürbar vor Augen.“ Dieses Gefühl ist die Grundmelodie aller Politikverdrossenheit, jüngst zum Ausdruck gekommen in der Wählerschar, die sich, um das Gegenteil zu beweisen, den Extremen zuwendet.
Der eine Ausweg besteht in der Beschränkung der Zugriffsrechte des Kollektivs auf das Individuum. Der andere, nicht weniger wichtige Ausweg liegt darin, die politische Teilhabe zu stärken. Dazu reicht es freilich nicht, die Bürger mit Worten „dazu an[zu]feuern, durch ihre Beschlüsse und ihre Stimmabgabe an der Ausübung der Macht teilzunehmen“, wie Constant meinte. Vielmehr bedarf es, wo dies nur irgend möglich ist, institutioneller Korrekturen im Geiste des Subsidiaritätsprinzips, um die in modernen komplexen Großgesellschaften notwendigen kollektiven Entscheidungen wieder näher an die Bürger heranzuführen und ihnen so „ihren Einfluß auf das öffentliche Wohl erstrebenswert [zu] machen“.
Das aber setzt voraus, die politische Freiheit des Individuums nicht insgesamt zu beargwöhnen, wie es jene Kritiker der Demokratie tun, die gern ganz ohne Staat und ohne große allgemeinverbindliche Kollektiventscheidungen auskämen. Vielmehr gilt es die politische Freiheit als wesentliche liberale Forderung im Hier und Jetzt zu begreifen und ihrer Ausübung neuen Schwung zu verleihen. Dafür ist es angebracht, den Gegenstand, auf den sich dieser Mitbestimmungsanspruch richtet, bei aller notwendigen Kritik auch zu schätzen: den modernen, partizipativen, eingehegten Staat, gebunden an Recht und Gesetz. Er ist im Kern zu denken als gemeinschaftliche Unternehmung aller Bürger zum gegenseitigen Vorteil. Dagegen spricht nicht, dass die staatlichen Aktivitäten, vom Tatendrang der mit politischer Freiheit ausgestatteten Bürger getrieben, erfahrungsgemäß immer weiter wachsen und die Privatsphäre überwuchern, wenn man den kollektiven Zugriff nicht hin und wieder zurechtstutzt. Denn auch dieses Stutzen ist eine Aufgabe, für die es der politischen Freiheit bedarf. Ja, der Staat bedroht in seiner Eigendynamik regelmäßig die Freiheit, zugleich aber sollte er ihr systematischer Ort und idealerweise ihr Diener sein. Dieses komplizierte Spannungsverhältnis heißt es aushalten und zu moderieren: Das ist die fortlaufende Herausforderung der modernen Freiheit.
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