Ich bleibe also Jude – Jüdischer Wider­stand ohne Waffen

In Zeiten des sich Bahn brechenden Antise­mi­tismus strömen Juden überall auf der Welt zu den Hohen Feier­tagen in die Synagogen. Nicht nur aus Glaubens­gründen, sondern auch als politi­sches Statement, schreibt unser Kolumnist Richard C. Schneider.

Manchester. Es war also Manchester, wo Terro­risten an Jom Kippur eine Synagoge angriffen und Juden ermor­deten. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, aber ganz besonders seit diesem Datum, wissen Juden überall auf der Welt, dass sie eine Zielscheibe sind. Für Links- und Rechts­extre­misten, für Islamisten jeder Art, für alle, die Juden einfach hassen. Das ist in der Geschichte der Menschheit nichts wirklich Neues. Aber für viele Juden heute ist es insofern neu, als dass sich der Judenhass seit dem Holocaust zumindest in vielen Teilen der Welt sozusagen „in Grenzen“ hielt. Es gab Antise­mi­tismus, natürlich, es gab auch Angriffe, sogar Morde, aber alles in allem haben vor allem die liberalen westlichen Gesell­schaften Antise­mi­tismus geächtet. Nach Auschwitz.

Manchester ist überall

Das ist nun vorbei. Jeder kann es sehen. Überall. Jederzeit. Immer. Und so wussten Juden überall auf der Welt, dass sie in diesen Tagen ein großes Risiko eingehen, wenn sie in die Synagoge gehen, wenn sie ihre Hohen Feiertage – Rosh Hashana, Jom Kippur, Sukkot – begehen und sich als Juden zum Gebet versammeln. Sie wussten, dass sie sich zur Zielscheibe machen, wenn sie ein jüdisches Gotteshaus aufsuchen. Bereits auf dem Weg dorthin oder von dort auf dem Weg zurück nach Hause riskierten sie ihr Leben. Überall auf der Welt. Und doch gingen sie. Und doch gehen sie. Und doch werden sie gehen. Auch in Zukunft.

Es ist müßig, den nicht­jü­di­schen Menschen erklären zu wollen, dass ein deutscher, franzö­si­scher, briti­scher oder US-ameri­ka­ni­scher Jude Staats­bürger seines jewei­ligen Landes ist und eben kein Israeli. Dass er in seinen Heimat­ländern Politiker wählt und nicht in Israel. Für dieje­nigen, die alle Juden in einen Topf werfen wollen, sind solche Argumente irrelevant. Sie machen alle Juden für alles auf der Welt verant­wortlich. Ob für Gaza oder den Klima­wandel, ob für Covid oder irgendein anderes Übel dieser Welt. Der Jude ist schuld.

Nichts als betroffene Lippenbekenntnisse

Insofern sind die üblichen Sprüche all der „betrof­fenen“ Politiker so unglaublich langweilig. Keir Starmer sagte als briti­scher Premier die richtigen Worte, natürlich auch King Charles. Natürlich kommen jetzt mal wieder aus aller Welt die üblichen Verur­tei­lungen und der schönste, weil eigentlich zynischste Spruch lautet in so einem Fall dann: „Antise­mi­tismus hat keinen Platz in unserer Gesell­schaft“. Nun denn, wer’s glauben mag. All diese Worte bewirken: gar nichts.

In diesen Tagen sind viele Juden in die Synagoge gegangen, die sonst nie zum Gebet gehen, weil sie schlicht nicht gläubig sind und mit den Tradi­tionen nichts anfangen können. Doch diesmal gingen viele säkulare Juden in die Synagogen dieser Welt als politi­sches Statement. Überall verfolgt auch sie der Judenhass. Und so ist der Gang ins Gotteshaus eine Ansage, die Selbst­be­hauptung der eigenen Identität, die man sich von niemanden nehmen lassen will. Ja, es gibt auch solche, die nach Jahren der Abwendung vom Glauben sich gerade jetzt wieder Gott zuwenden, weil sie verzweifelt sind, Angst haben und hoffen, dass der Glaube und das Ritual ihnen Kraft geben werden, um den Irrsinn und die Bedrohung um sie herum irgendwie auszu­halten. Wer das braucht, der hat jedes Recht der Welt, die alten Gebete zu beschwören, um Halt zu finden. Andere nehmen Tranqui­lizer. In diesen Zeiten ist alles legitim.

„Dafka“: Jetzt erst recht

Doch die politi­schen Juden, die „dafka“ in die Synagogen gehen, sind die entschei­denden Figuren in diesem Drama, das sich seit zwei Jahren vor unseren Augen entfaltet. Sie befinden sich auf den Spuren des deutsch-jüdischen Philo­sophen Franz Rosen­zweig, der zu Beginn des 20. Jahrhun­derts vom Chris­tentum so faszi­niert war, dass er konver­tieren wollte. Doch 1913 besuchte er an Jom Kippur die Synagoge. Und er war so beein­druckt und bewegt von diesem Gemein­schafts­er­lebnis, dass er für sich begriff, dass das Judentum lebendig ist. Er gab die Idee der Konversion auf und schrieb seinem Cousin einen Brief, in dem er ihm erklärte: „Ich bleibe also Jude“. Für ihn war es eine religiöse Erfahrung, aber es war auch ein klares politi­sches Statement. Denn Jude sein oder – wie im Fall Rosen­zweigs – „bleiben“, heißt immer auch, sich als Teil der Schick­sals­ge­mein­schaft zu sehen, sich bewusst für eine Identität zu entscheiden, die Verfolgung und Vernichtung bedeuten kann.

„Ich bleibe also Jude“ – das haben in diesen Tagen Juden in aller Welt mit ihrem Gang in die Synagoge millio­nenfach einer Welt ins Gesicht gerufen, die ihnen genau dieses Recht absprechen will, die sie vertilgen will. „Ich bleibe also Jude“ – das war auch das Credo der Betenden an Jom Kippur in Manchester. Es ist ein Bekenntnis und eine Kampf­ansage an die Welt. Eine Kampf­ansage ohne Waffen. Denn außerhalb von Israel hat die jüdische Gemein­schaft nur das Wort als Waffe. Und die eigene Kultur und Tradition. Sie hält daran fest. Und sie wird sich wehren. Kampflos unter­gehen wie während der Shoah? Das wird nicht mehr geschehen. Das ist das jüdische „Nie wieder“. Es ist gewich­tiger als das „Nie wieder“ der nicht­jü­di­schen Gesell­schaften, auf das man sich als Jude spätestens seit dem 8. Oktober 2023 nicht mehr verlassen kann.

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