Israels Demokratie muss erwachsen werden
Der abgewählte Premier Netanjahu macht keine Anstalten, seine Dienstvilla zu räumen und soll überdies Akten vernichtet haben, die seinem Nachfolger zustehen. Die extrem breite Achtparteienkoalition unter dem neuen Premier Bennett muss nicht weniger als das demokratische Experiment Israels retten, analysiert Richard C. Schneider.
Ich erinnere mich gut an die Fernsehbilder aus der ehemaligen Stasi-Zentrale in Ostberlin nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Tausende von Akten waren geschreddert worden. Ein Aufschrei ging durch die Republik, die dennoch nicht wirklich überrascht war über das Vorgehen des Terrorregimes DDR am Ende seiner Existenz. Beweise mussten vernichtet werden, so viel wie möglich. Beweise, die noch besser hätten belegen können, wie schrecklich das Regime gegen seine eigenen Bürger vorgegangen ist, als man es ohnehin schon wußte. Zum Glück schafften die Stasi-Offiziere und Beamte es nur noch, einen kleinen, aber sicher nicht unwichtigen Teil der Akten zu vernichten. Genutzt hat es ihnen nicht viel. Dass Honecker & Co. ein Unrechtsregime betrieben, das seine Bürger drangsalierte, bedrohte, einsperrte, war wahrlich kein Geheimnis.
An diese Bilder musste ich jetzt denken, als israelische Medien meldeten, dass Israels Premier Netanyahu möglicherweise Akten und Unterlagen im Prime Minister Office vor der Übergabe der Amtsgeschäfte an den neuen Premier Naftali Bennett geschreddert haben könnte. Nein, Netanyahu ist nicht Honecker, das Land ist, wie schlecht auch immer, eine Demokratie. Aber es ist ja nun hinlänglich bekannt, dass „Bibi“, wie Benjamin Netanyahu in Israel genannt wird, in den letzten Jahren zunehmend autokratische Züge angenommen, dass er politische Entscheidungen an sich gerissen und die eigentlich dafür zuständigen Ministerien außen vor gelassen hatte. Und ja, er hatte mit vielen ausländischen Politiker Deals ausgehandelt, Dinge, die Staatsmänner und ‑frauen auch schon mal im Vier-Augen-Gespräch vereinbaren, die aber nicht in offiziellen Communiqués auftauchen, sondern höchstens in privaten Notizen. Nach dem israelischen Gesetz gehören alle Unterlagen im Büro des Premiers dem Staat, selbst die privaten Aufzeichnungen. Selbst diese werden – gesondert ausgezeichnet – in Archiven gelagert. Hat Netanyahu also gegen das Gesetz verstoßen? Hat er tatsächlich Unterlagen, offizielle und private, vernichtet, Informationen dem neuen Premier verheimlicht, die möglicherweise von höchstem Sicherheitsinteresse für den Staat sein könnten? Es wäre Netanyahu zuzutrauen. Die Art und Weise, wie er in den Tagen des Übergangs geredet und gehandelt hat, zeigt einmal mehr, dass Bibi allen Ernstes glaubt, dass ihm und nur ihm allein das Amt des Premiers zusteht. Und ja, er hockt mit seiner Familie immer noch im Amtssitz des Premiers in der Balfour-Straße in Jerusalem, er hatte auch nach der Vereidigung Bennetts dort noch offizielle Treffen, zum Beispiel mit der ehemaligen UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley abgehalten. Das liegt auch daran, dass Bennett erklärt hatte, er werde mit seiner Familie weiterhin im Tel Aviver Vorort Raanana wohnen bleiben. Aber es hat vor allem damit zu tun, dass Netanyahu die Insignien der Macht nicht wirklich abgeben will, da er ja eine rasche „Rückkehr“ an die Macht plant. Dass er, der abgewählte Premier, immer noch in Balfour residiert, ist ein Affront gegenüber Bennett. Dieser hat nun endlich reagiert. Netanyahu und seine Familie müssen bis zum 10. Juli den Amtssitz verlassen haben und dürfen dort auch keine offiziellen Treffen mehr abhalten. Mit anderen Worten: noch etwa drei Wochen kann Bibi so tun, als sei er „Herr im Hause“, wenngleich ihm alle finanziellen Bezuschussungen, die einem Premier zustehen, unmittelbar nach der Vereidigung seines Nachfolgers bereits gekappt worden sind.
Wie tief die Krise der israelischen Demokratie sich inzwischen in das System eingefressen hat, ist allein durch die Tatsache deutlich geworden, dass der Verdacht besteht, Netanyahu könnte Unterlagen geschreddert haben. Möglicherweise werden jetzt die Polizei und der Inlandsgeheimdienst Shin Bet eine offizielle Untersuchung einleiten. Netanyahu hat in den letzten Jahren systematisch das Vertrauen in die staatlichen Institutionen geschwächt. Verbal, in dem er immer öfter vom „Tiefen Staat“ sprach, von einer Kabale, einer Verschwörung dunkler Mächte gegen ihn. Zu diesen gehörten die Polizei, die Justiz, die Medien und alles, was er als „links“ diffamieren wollte. Doch in der Praxis sah es noch schlimmer aus. In zahlreichen Ministerien hatten hochrangige Beamte, Experten auf ihrem Gebiet, nichts mehr zu sagen, ob das im Gesundheitsministerium war, im Finanz- oder Außenministerium: Netanyahus Vorgehen hatte Methode.
Die neue Regierung hat nun also eine schwierige, geradezu heroische Aufgabe zu bewältigen. Sie muss den Staat wieder funktionsfähig machen, sie muss den Bürgern das Gefühl geben, dass der Staat wieder für sie da ist, dass es ab jetzt wieder in der Politik um die Interessen der Bürger geht und nicht um die eines einzigen Mannes – Netanyahu. Die Schwierigkeiten, der sich diese eigenartige Koalition gegenübersieht, sind enorm. Sie hat gerade mal eine Mehrheit von einer einzigen Stimme in der Knesset. Und schon jetzt gibt es mindestes drei Politiker, die ständig drohen, bei der nächsten Gelegenheit gegen ihre eigene Regierung abzustimmen, Bennett, Lapid und all die anderen der „Regierung des Wandels“ zu düpieren und impotent dastehen zu lassen. Warum? Weil diese drei Politiker ihr eigenes Süppchen kochen wollen, weil eine Koalition mit nur einer Stimme Mehrheit leicht erpressbar ist. Und das bei einer Koalition, die „diverser“ nicht sein könnte. Muslimbrüder, ultranationale Siedlerbefürworter, Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung, Befürworter eines Groß-Israel, Homophobe und Homosexuelle – sie alle sitzen an einem Tisch zusammen. Und scheinen sich offensichtlich sogar zu mögen. Ein Israeli tweetete ein Foto von Politikern der neuen Regierung, die bei einer Sitzung schallend lachen. „Das Lachen ist in die israelische Politik zurückgekehrt“, schrieb er dazu.
Alle spüren, etwas Neues könnte da entstehen. Doch es gibt genug Kräfte von innen und außen, die alles versuchen, um den Keim der Hoffnung so schnell wie möglich zu zerstören. Israels junge und fragile Demokratie ist noch lange nicht gerettet. Vielleicht ist dies jetzt der Moment, in dem sie beweisen muss, dass sie nach 73 Jahren erwachsen geworden ist.
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