Zukunft wird nicht aus Kleinmut gemacht
Jamaika als Bündnis von Parteien ist schwer genug, aber noch schwieriger scheint die Bereitschaft von gesellschaftlichen Gruppen, sich auf andere einzulassen. Das aber ist die Voraussetzung für Zukunft.
Deine Zeit bricht erst an. Denkst du. Jahr für Jahr. Und dann ist sie abgelaufen. Zack. Aus die Maus. So ist es den Grünen in Österreich gegangen, die sich über Jahrzehnte redlich untereinander gestritten haben und dabei die klassischen Phasen 1 und 2 der Partei-Entwicklung durchlaufen, wie sie der europäische Grünen-Chef Reinhard Bütikofer zu skizzieren pflegt. Phase 1: Man ist neu und haut auf alles drauf. Phase 2: Man trägt konstruktiv etwas bei als kleine Öko‑, Bürgerrechte- und Gender-App einer Regierung, im österreichischen Falle sind das Landesregierungen. Für mehr hat es nie gereicht, aber trotzdem machen wir unseren moralisch und emanzipatorisch hochwertigen Stiefel immer weiter. Gerade in nationaler und autoritärer werdenden europäischen Gesellschaften, das ist das trutzige Ausrufezeichen, braucht es doch die Grünen!
Und plötzlich ist man weg. Was „es“ braucht und was eine Demokratie bewegt, sind zwei Dinge. Man kann das anders sehen, aber meine These lautet, dass auch die deutschen Grünen am Ende diesen Jahres näher an ihrem Scheidepunkt sind, als viele wahrhaben wollen. Entweder sie schaffen den kulturellen Sprung in die dritte Phase einer – horribile dictu – staatstragenden europäischen Verantwortungspartei oder die Zeiten, die sich ändern, wie Joschka Fischer sagt, ändern sich ohne sie.
Selbstverständlich kann man in ein kompliziertes Bündnis aus CDU, CSU, FDP und Grünen kein „Projekt“ reinfantasieren, dass sich so stringent ergäbe wie die nachholende Modernisierung von Rot-Grün 1998. Schon damals trennten SPD und Grüne Welten, mittlerweile hat die Partikularisierung der Gesellschaft noch eine ganz andere Dimension und die auseinanderdriftenden Milieus sind längst nicht mehr deckungsgleich mit den Parteien. Von „Lagern“ ganz zu schweigen. Selbst wenn man die soziale Frage ausnähme, wären drei von vier zentralen politischen Zukunftsthemen (Digitalisierung, Klimawandel, Einwanderung) nicht mehr im Links-Rechts-Schema zu verstehen und zu bearbeiten und weitgehend auch nicht nationalstaatlich.
Es ist indes nicht zu ignorieren, dass die Sehnsucht nach einem verteilenden und ordnenden Nationalstaat alten Ideals derzeit noch stärkere emotionale Kraft hat als die Vernunftvision eines starken und schützenden Europas – und das längst nicht nur bei Wählern der autoritären AfD. Um das zu ändern reicht es nicht, wenn die gut gebildete, kosmopolitan orientierte Bürgerschaft alle paar Wochen zum Berliner Gendarmenmarkt rennt, um den „Puls of Europe“ zu beschwören. Ohne sich darüber zu verständigen, was das eigentlich genau meint. Und dann auseinander läuft und wieder zetert über die machtgeilen Grünen Spitzenkandidaten und die Egoisten von der FDP und die Dumpfbacken von der CSU und so weiter.
Das Problem sind eben nicht nur die Vertreter der Parteien, die ihre eigenen Interessen verfolgen und sich gegenseitig nicht über den Weg trauen. Die Politiker haben Angst, vor der eigenen Kundschaft und den Medien als „Verlierer“ dazustehen, wenn sie einen Schritt auf die anderen zugehen, um etwas möglich zu machen. Es war bizarr zu sehen, wie der Grüne Robert Habeck vor Beginn der Sondierungen in einer Talkshow versuchte, mit Vertretern von FDP und CSU ernsthaft zu reden. Sie schauten ihn an, als käme er vom Mond. Und das tat er in gewissem Sinne auch.
Mit anderen ernsthaft reden: So etwas tut man bei uns nicht. Hinterher musste sich Habeck deshalb auch noch von manchen Medien als Anschleimer beschimpfen lassen.
Will sagen: Das kulturelle und mediengesellschaftliche Klima ist die Hölle für jeden, der etwas hinbekommen will und also neu denkt, weil das zwar immer gefordert wird, aber in Wahrheit eben nicht vorgesehen ist. Das ist keine große Verschwörung, aber im Endeffekt läuft gerade die sich progressiv nennende Kultur darauf raus, darauf zu insistieren, dass etwas nicht geht – so dass alle in ihre Ecken zurückrennen können und sagen, dass sie das ja schon immer gewusst haben.
Das ist der Fluch von Rot-Grün, der von den meisten – wohlweislich – ignoriert wird. Es war nicht das Scheitern eines Projekts, es war das erbärmliche Scheitern einer linksliberalen Gesellschaft (mich ausdrücklich eingeschlossen), die sich kulturell als Kraft, die stets verneint, positioniert hatte, nach Kohls Abwahl einmal kurz „Jetzt geht’s los“ rief und sich dann im Angesicht der Realität von Krieg, Globalisierung und Ende der nationalen Industriegesellschaft schnell wieder in ihre bequeme Ecke des selbstgefälligen Ausrufezeichen-Kritisierens verdrückte.
Wenn man die Unterschiede zwischen FDP und Grünen in der Klima- und Wirtschaftspolitik sieht und wir noch im fröhlichen 20. Jahrhundert wären, dann könnte man damit durchkommen und sich saturiert in seiner Abgrenzung spiegeln und dadurch identifizieren. So wie die globale Lage ist, ist es weder ein sinnvoller, noch ein moralischer Ansatz, darauf zu bestehen, dass selbst gutgebildete, ordentlich verdienende liberale Deutsche auf unterschiedlichen Planeten leben. Wenn die sich als Citoyens verstehenden Wähler von FDP, Grüne und Merkel keinen gemeinsamen Nenner finden, wie soll das europäisch und global gehen?
Die neue Polarisierung besteht zwischen liberaler und illiberaler Gesellschaft, zwischen Nationalismus und offener europäischer Gesellschaft. Der Konflikt zwischen den Kräften des Festhaltens an etwas, was so gar nicht mehr existiert, und den Kräften des Überwindens eines lieb gewordenen Status quo tobt in der Gesellschaft und in den Sondierern. Deshalb ist es wichtig, das Pendel Richtung Europa zu bewegen. Die Frage ist, das sehe ich wie Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Ralf Fücks und Jürgen Habermas, ob wir Deutsche der europäischen Verantwortung gerecht werden können, die plötzlich als Chance existiert, da Emmanuel Macron und nicht Marine Le Pen und auch nicht ein Vertreter des alten Rechts-Links-Regimes die Wahl in Frankreich gewonnen hat.
Gerechtigkeit, Freiheit, Offenheit, Frieden, Wohlstand – alles ist eine Frage künftiger europäischer Politik. Das gilt umso mehr für die Gestaltung der Digitalisierung, Modernisierung der Wirtschaft, Energiewende und Einwanderung. Jetzt ist dank Macron die Chance da, anders weiterzumachen und damit weiter zu kommen.
Jetzt kann man, wie der Spiegel, mit einem gewissen Recht, aber eben auch zynisch behaupten, die Jamaika-Konstellation habe „keine Überschrift“. Oder man gibt ihnen eine. Darum geht es jetzt für jene Milieus der Gesellschaft, die gerne progressiv sein möchten und liberal und zur Not auch ökologisch. Es geht darum, für sich selbst zu klären, was prioritär ist.
Nur wenn die offene, gerechtere europäische Gesellschaft aus der Gesellschaft heraus eingefordert wird, wird eine Jamaika-Regierung einen Schritt in diese Richtung machen können.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Autor.
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