Joachim Gauck: ein linker, liberaler Konservativer
Als Freigeist steht Joachim Gauck für das große Geschenk der DDR-Opposition an die alte Bundesrepublik: Der ehemalige Bundespräsident – im Januar feierte er seinen 80. Geburtstag –, bewegt sich quer zu allen politischen Lagern, eckt an und ist doch anschlussfähig. Sein linker, liberaler Konservatismus, wie er sagt, ist Ausdruck eines widerständigen, beweglichen Geistes, der sich unter Bedingungen politischer Freiheit endlich ausleben durfte. Ein Portrait.
Am 24. Januar 2020 feierte Joachim Gauck seinen 80. Geburtstag. Wenn man sich seine Biographie vor Augen ruft, scheint es fast so, als sei seine Zeit als Bundespräsident die logische Vollendung seines Lebenswegs. Das ist natürlich eine Konstruktion vom Ende her. Aber man kann die Person Gauck wie seine langjährige Präsenz in der politischen Öffentlichkeit wohl nur verstehen, wenn man sie als die Summe der Prägungen liest, die er bis zum Fall der Mauer erfahren und erworben hat: Seine robuste, erfahrungsgesättigte Abneigung gegen autoritäre Beglückungssysteme, seine Liebe zur Freiheit, seine Wertschätzung für den Rechtsstaat, sein Plädoyer für Toleranz und Pluralismus und seinen Sinn für eine aktive Bürgergesellschaft. All das sitzt bei ihm tiefer als bei vielen Westdeutschen, die allenfalls vom Hörensagen wissen, was es bedeutet, in einem Unrechtsstaat zu leben und wieviel Anstand und Mut es braucht, sich nicht mit ihm gemein zu machen.
Evangelische Kirche als Gegenwelt
Dass der Vater im Sommer 1951 – Gauck war damals 11 Jahre alt – plötzlich spurlos verschwand und die Familie erst zwei Jahre später erfuhr, dass er von einem geheimen sowjetischen Militärgericht zu zweimal 25 Jahren Straflager wegen „Spionage und antisowjetischer Hetze“ verurteilt worden war, ist eine solche Prägung. Ebenso die gegenkulturelle Welt der Evangelischen Kirche in der DDR, die kritischen Geistern einen Raum geistiger Autonomie und gelebter Distanz zum SED-Regime bot. Wenn Gauck in seinem Vorwort zur Neuausgabe von Heinrich Heines „Wintermärchen“ vom „geistigen Exil“ spricht, in das Heine schon früh gedrängt wurde, von einem Leben im „halb-drinnen, halb-draußen“, klingen seine eigenen Erfahrungen an.1
Für ihn war 1989 ein Weckruf und eine Chance, die er mit beiden Händen ergriff. Seine Arbeit als Pfarrer ließ er ruhen, um sich voll und ganz der Bürgerbewegung zu widmen, die täglich selbstbewusster den Parteistaat herausforderte. Als Kirchenmann hatte er kritischen Abstand zum Regime gehalten. Die Stasi hatte ihn als Gegner im Visier. Gauck ging bis an den Rand der Freiräume, die ihm sein Amt bot, beteiligte sich aber nicht an Aktivitäten der versprengten Gruppen, die mit einem Bein in der Illegalität standen. Umso entschlossener stürzte er sich in die Bürgerbewegung, die im Herbst 1989 aus den kleinen Zirkeln ausbrach und in eine Massenbewegung mündete: „Wir sind das Volk!“ Der Traum von der Freiheit war jetzt zum Greifen nah. Gauck fasste die Stimmung des Tages in Worte: „Wir sagen unserer Angst ‚Auf Wiedersehen‘.“
1989 – Jahr des Aufbruchs
Der Weg vom Pfarrhaus in die Politik war jetzt frei. Im März 1990 wurde Gauck als Mitglied des „Neuen Forums“ Rostock in die Volkskammer gewählt. Dort widmete er sich vor allem der Auflösung des Unterdrückungs- und Spitzelapparats der SED. Im September 1990 wurde er „Sonderbeauftragter für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdiensts der DDR“. Als kurz darauf die deutsche Einheit über die Bühne ging, wurde er in dieser Funktion bestätigt. Sie wurde zu seiner Berufung für das nächste Jahrzehnt. Er führte das Amt des Leiters der Stasi-Unterlagenbehörde so souverän, dass alle Welt von der „Gauck-Behörde“ sprach. Sein Auftrag war rechtlich genau umschrieben und zugleich hoch politisch. Er verstand es, die Aufarbeitung eines perfiden Unterdrückungssystems voranzutreiben, ohne in Jakobinertum zu verfallen. Das Erinnern an Täter und Opfer war ein Angebot an eine traumatisierte und gespaltene Gesellschaft, mit sich ins Reine zu kommen. In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit wurden 420.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt.
Das Interesse war riesig. Aber die Wirkung der Gauck-Behörde blieb begrenzt – sie konnte weder die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts noch eine breit angelegte politische Bildungsarbeit ersetzen. Heute zeigt sich, dass es nach wie vor eine doppelte Erinnerungslücke in Ostdeutschland gibt. Weder wurde die Verstrickung großer Teile der Aufbaugeneration der DDR in den Nationalsozialismus aufgearbeitet noch die folgende Kombination von „stalinistischem Terror und selektivem Antifaschismus“ (J. Gauck). Das ist der Boden für DDR-Nostalgie wie für den besonderen Widerhall völkisch-nationalistischer Einstellungen im Osten.
Ein „linker liberaler Konservativer“
Als Gauck nach zwei Amtsperioden die Stasi-Unterlagenbehörde verließ, war er eine feste Größe in der deutschen Öffentlichkeit, ein Mann des Wortes, sprachmächtig und meinungsfreudig. Gauck kam fast übergangslos in der wiedervereinigten Bundesrepublik an, er lernte schnell auf der für ihn neuen Klaviatur der Institutionen, Parteien und Medien zu spielen und folgte doch seiner eigenen Partitur. Auch ohne exponiertes Amt blieb er präsent, hielt Vorträge, veröffentlichte seine Erinnerungen2 und setzte Akzente in der politischen Debatte. Er bewegte sich quer zu den politischen Lagern, eckte immer wieder an und war doch anschlussfähig zu allen demokratischen Parteien. In einem Gespräch mit dem „Spiegel“ bezeichnete er sich als „linken, liberalen Konservativen“. Auch bei den Grünen war er überwiegend wohl gelitten. Seine erstaunliche Fähigkeit, zwischen allen Stühlen zu sitzen und zugleich parteiübergreifend gemocht oder zumindest respektiert zu werden, verlieh ihm eine präsidiale Aura.
Es war deshalb keine Überraschung, dass ihn SPD und Grüne nach dem Rücktritt von Horst Köhler im Frühjahr 2010 als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten auf das Schild hoben. Überraschend war eher, dass die Union einen eigenen Kandidaten gegen Gauck aufbot. Christian Wulff setzte sich im dritten Wahlgang knapp durch. Als aber auch er seinen vorzeitigen Rücktritt einreichte, führte kein Weg mehr an Joachim Gauck vorbei. Am 18. März 2012 wurde er mit großer Mehrheit gewählt. Die Republik hatte ihren ersten Präsidenten ostdeutscher Herkunft – mehr noch: ihr erstes gesamtdeutsches Staatsoberhaupt. Gauck hatte 40 Jahre in der DDR gelebt und war eng mit der Gegend um Rostock verbunden, gehörte dort aber zu einer gesellschaftlichen Minderheit. Für ihn war die deutsche Einheit ein persönlicher und historischer Glücksfall. Er suchte nicht – wie viele ehemalige Bürgerrechtler – nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern war in der Bundesrepublik mit ihrer Kombination von liberaler Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zuhause. Sie galt es gegen Anfechtungen von innen und außen zu verteidigen.
Freiheit und Verantwortung
Die Markierungen, die Gauck als Bundespräsident setzte, finden ihren Zusammenhang in seinem Verständnis der Freiheit. Mit Hannah Arendt gilt sie ihm als Sinn und Ziel aller Politik. Er wäre allerdings kein „liberaler Konservativer“, wenn er Freiheit als bloße negative Freiheit – die Freiheit von Zwang – und als Freibrief für unumschränkte Selbstentfaltung deuten würde. Für Gauck bedeutet politische Freiheit in erster Linie die Ermächtigung der Bürgerinnen und Bürger, ihr individuelles und gesellschaftliches Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur. Freiheit ohne Verantwortung ist das Privileg von Kindern. Für Gauck gilt: „Freiheit für Erwachsene heißt Verantwortung.“
Diesen Maßstab legt er auch an die wirtschaftliche Freiheit an. Zwar weist er – eher eine Ausnahme in der Reihe der Bundespräsidenten – auf den inneren Zusammenhang von politischer Freiheit und einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung hin: Es gibt zwar ökonomische Freiheit ohne Demokratie, aber keine Demokratie ohne ökonomische Freiheit. Privateigentum, Marktwirtschaft und freies Unternehmertum sind konstitutiv für offene Gesellschaften. Gleichzeitig betont Gauck aber die Notwendigkeit staatlicher Regulierung von Märkten, um dem Prinzip Verantwortung auch in der Wirtschaft Geltung zu verschaffen. Die Finanzkrise von 2008ff. hat seine Wendung zu einem ordoliberalen Freiheitsbegriff maßgeblich befördert.
Interessierte Zeitgenossen behalten Joachim Gauck als einen dezidiert politischen Präsidenten in Erinnerung. Er nutzte die Spielräume für politische Interventionen, die das Amt des Staatsoberhaupts lässt, bis zum Rand. Das löste in der Bundesregierung und im Bundestag nicht immer ungeteilte Freude aus. Ich will drei Beispiele hervorheben, die Gaucks in der DDR erprobten Mut dokumentieren, gegen den Strom zu schwimmen.
Außenpolitische Neuorientierung
Das erste Beispiel steht für seinen geschärften Sinn für die Bedrohung der Freiheit durch autoritäre Mächte. In seiner Rede zur Gedenkveranstaltung „1914 – 2014: Hundert europäische Jahre“ am 27. Juni 2014 reagierte Gauck mit deutlichen Worten auf die militärische Intervention Russlands gegen die Ukraine und die Annexion der Krim: „Der Widerstand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denk- und Verhaltensmustern konfrontiert, die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einflusssphären – bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien.“
Das war ebenso hellsichtig wie ungewöhnlich angesichts der Schönfärberei gegenüber dem Kreml, die in Deutschland auf der Linken wie der Rechten gepflegt wird. Gauck bekräftigte seine Kritik in seiner Danziger Rede zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September: Russland habe die Partnerschaft mit dem Westen faktisch aufgekündigt. Und er fügte hinzu: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern.“
Debattenmut in der Sicherheitspolitik
Schon bei der Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 hatte Gauck neue, für manche Ohren unerhörte Töne angeschlagen. Er forderte nichts weniger als eine Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die deutsche historische Schuld begründe kein „Recht auf Wegsehen“. Die Kultur militärischer Zurückhaltung dürfe nicht dazu führen, Hilfe zu versagen, „wenn Menschenrechtsverletzungen in Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit münden“. Das Prinzip der staatlichen Souveränität und der Grundsatz der Nichteinmischung dürften gewalttätige Regime nicht unantastbar machen. Als „äußerstes Mittel“ sei auch der Einsatz von Militär gerechtfertigt. Die Bundesrepublik müsse mehr Verantwortung für den Ordnungsrahmen aus EU, NATO und Vereinten Nationen übernehmen. Sie müsse „dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“.
Dass dieser Vorstoß von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier unterstützt wurde, weist auf eine konzertierte Aktion hin. Politische Naivität kann man Joachim Gauck nicht unterstellen. Wohl aber gehörte dazu Mut in dem Wissen, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung damals wie heute eine aktivere sicherheitspolitische Rolle und ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands ablehnt. Betrachtet man die seitherige Politik der Großen Koalition, muss man nüchtern konstatieren, dass Gaucks Appell trotz aller verbalen Unterstützung weder im Kabinett noch im Parlament auf fruchtbaren Boden fiel. Richtig bleibt er trotzdem.
Humanistischer Realismus
Das dritte Beispiel fällt in die Hochzeit der großen Flucht, die seit dem Sommer 2015 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland führte – Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderen vom Krieg zerrütteten Ländern, aber auch viele Migranten, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg nach Westeuropa gemacht hatten. Es war die Zeit einer berührenden, fast märchenhaften „Willkommenskultur“ in Deutschland. Wer über den Tag hinausblickte, konnte aber die Probleme nicht übersehen, die mit der Aufnahme einer so großen Zahl von Menschen anderer Religion, Lebensweise und politischen Kultur in so kurzer Zeit einhergehen. Auch zeichnete sich bereits die Polarisierung der Gesellschaft entlang der Flüchtlingsfrage ab. Die Bundesregierung tat ihr Bestes, um gemeinsam mit Ländern, Gemeinden und einer großen Zahl freiwilliger Helfer die Situation zu bewältigen. Aber außer dem berühmten „Wir schaffen das!“ der Kanzlerin gab es wenig an politischer Kommunikation mit der Bevölkerung. Wie sollte es weitergehen? Sollte Deutschland weiterhin faktisch unbegrenzt als Aufnahmeland offenstehen, während selbst Schweden von einer Politik der offenen Grenze auf eine restriktive Linie umschwenkte?
Politik der Mitte muss weder kleinmütig noch langweilig sein
In dieser Situation ergriff Gauck Ende September 2015 das Wort. Er zollte den vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern Dank und Anerkennung und verwies auf die historische Verantwortung Deutschlands, Zuflucht vor Verfolgung und Krieg zu gewähren. Dann aber kamen Sätze, die wie politische Ausrufezeichen wirkten: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Um die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewahren, müssten „Staaten und ein Staatenverbund wie die Europäische Union ihre äußeren Grenzen schützen.“ Gauck stellte sich der Spannung zwischen universellen humanitären Prinzipien und dem Recht auf Zuflucht einerseits, den materiellen und politischen Grenzen der Aufnahmefähigkeit andererseits. Er machte deutlich, dass wir einen Weg zwischen offenen Grenzen für alle und Abschottung finden müssen, möglichst im europäischen Verbund. Er hat damit einen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik angemahnt, der von der Bundesregierung faktisch vollzogen, aber nur spärlich kommuniziert wurde – siehe das Abkommen mit der Türkei, die faktische Schließung der Balkanroute, die verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen, die diversen Anläufe, „sichere Herkunftsländer“ zu definieren sowie die Erweiterung der Möglichkeiten legaler Arbeitsmigration. In einer kritischen Situation erwies sich Gauck als der humanistische Realist, der er ist. Statt bloßer moralischer Appelle forderte er politisches Handeln, das Mitgefühl und politische Ratio zur Deckung bringt. Statt die Polarisierung der Gesellschaft zu forcieren, suchte er nach einem tragfähigen Konsens der Demokraten. Er tat genau das, was sein Amt forderte.
Heute ist Joachim Gauck wieder das, als was er seine politische Laufbahn begonnen hat: ein Bürger im besten Sinn. Einer, der sich in die öffentlichen Angelegenheiten einmischt – mit der Zurückhaltung, die einem ehemaligen Bundespräsidenten ziemt, aber mit dem Gewicht seiner langen Erfahrung und politischen Urteilskraft. Er hat das Kunststück fertiggebracht, ein höchst wirkungsvoller Freigeist zu sein. Und er hat gezeigt, dass eine Politik der demokratischen Mitte weder kleinmütig noch langweilig sein muss. Danke dafür!
[1] Heinrich Heine, „Deutschland. Ein Wintermärchen“, Hamburg 2019.
[2] „Winter im Sommer, Frühling im Herbst“, München 2009.
Das Portrait erschien zunächst auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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