Brexit: So pola­ri­siert die britische Presse

Ilove­theeu [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons

Leave or remain: Ohne Rücksicht auf Verluste haben sich die briti­schen Zeitungen in eines der Lager geschlagen. Statt Aufklä­rung zu leisten, vertieft die Presse die gesell­schaft­liche Spaltung. Insbe­son­dere der Boulevard schreckt vor wilden Schlag­zeilen und selbst vor Fake News nicht zurück. Was ursprüng­lich im liberalen Verständnis vom Wett­streit der Argumente gründet, bedroht heute die Presse in ihrem Auftrag einer an den Tatsachen orien­tierten Bericht­erstat­tung und damit auch in ihrer Glaubwürdigkeit.

Der fran­zö­si­sche Präsident Emmanuel Macron und EU-Rats­prä­si­dent Donald Tusk mit Maschi­nen­pis­tolen, dazu die Schlag­zeile: „Dreckige EU-Ratten. Die Euro-Gangster locken May in einen Hinter­halt“ – so sah die Titel­seite der briti­schen Boule­vard­zei­tung „The Sun“ im September nach dem EU-Gipfel­treffen in Salzburg aus. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Jour­na­listin und Studentin am King’s College London. 

Ja, die briti­schen Boulevard-Zeitungen sind für ihre derbe Sprache bekannt. Die „Sun“ titelte etwa nach dem Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 trium­phie­rend: „Das ist für Lockerbie.“ Doch mit der Brexit-Bericht­erstat­tung hat die Diskus­sion um den Ton und die Genau­ig­keit der Boulevard-Blätter im Umgang mit Fakten eine neue Bedeutung gewonnen.

Die Fragen lauten: Hat die pola­ri­sie­rende und emotio­nale Bericht­erstat­tung vor dem Brexit-Refe­rendum die Wähler beein­flusst? Und welche Folgen hat eine solche Bericht­erstat­tung für eine liberale Demokratie?

Medien defi­nieren die Grenzen des Sagbaren

Die „EU-Ratten“-Schlagzeile ist nicht das erste Beispiel dafür gewesen, dass britische Medien in der Bericht­erstat­tung rund um den Brexit große Geschütze auffahren. Vor zwei Jahren zum Beispiel bezeich­nete das Boule­vard­blatt „Daily Mail“ die Richter des High Court als „Volks­feinde“, nachdem sie geurteilt hatten, dass die Regierung für den Brexit einen Parla­ments­be­schluss braucht.

Doch nun, nach der „EU-Ratten“-Schlagzeile, regte sich in Brüssel Protest. EU-Justiz­kom­mis­sarin Věra Jourová rief die Medien zu mehr Verant­wor­tungs­be­wusst­sein auf. „Medien können eine Dialog­kultur aufbauen oder Spal­tungen säen, Desin­for­ma­tion verbreiten und Ausgren­zung bewirken“, sagte sie. Ihr Argument: Die Freiheit der Presse ist unan­tastbar. Aber die Medien sind dafür verant­wort­lich, die Grenzen des Sagbaren zu definieren.

Die „Sun“ reagierte prompt und warf der EU-Kommis­sarin vor, die Medien für kritische Bericht­erstat­tung „bestrafen“ zu wollen. „Es sind nicht unsere Schlag­zeilen oder Titel­seiten, die die Menschen dazu bringen, sich von der EU abzu­wenden. Die EU macht das selbst gut genug“, schrieb das Blatt.

Tatsäch­lich hat die Brexit-Debatte das Land und seine Medien tief gespalten. Bei den Print­me­dien haben sich zwei Lager gebildet. Die Entschei­dung über die Haltung einer Zeitung wurde in den meisten Fällen alleine von der jewei­ligen Chef­re­dak­tion getroffen, was erklärt, warum Schwes­ter­blätter wie die „Times“ und die „Sunday Times“ oder die „Daily Mail“ und „Mail on Sunday“ unter­schied­liche Posi­tionen vertraten. Die BBC war – wie andere Fern­seh­sender – per Gesetz dazu verpflichtet, unpar­tei­lich zu bleiben und ermög­lichte es beiden Seiten, zu Wort zu kommen.

Das Vertrauen der Öffent­lich­keit hat Schaden genommen

Der Ton vieler Brexit-Berichte war selbst für britische Verhält­nisse rau. Als „scharf und spaltend“ bezeichnen Medi­en­for­scher vom King’s College London die Bericht­erstat­tung. Für ihre Studie haben die Wissen­schaftler mehr als 15.000 Artikel analy­siert. Die beiden Lager hätten einander regel­mäßig vorge­worfen, Ängste zu schüren, zu lügen und die Öffent­lich­keit in die Irre zu führen, so die Forscher. Das habe Auswir­kungen auf die poli­ti­sche Kultur. „Ange­sichts des Ausmaßes, in dem jede Seite der anderen Unehr­lich­keit und Panik­mache vorwarf, sowie des Ausmaßes, in dem diese Behaup­tungen von den Medien aufge­griffen und oft verstärkt wurden, wäre es eine Über­ra­schung, wenn nach der Abstim­mung am 23. Juni 2016 das poli­ti­sche Vertrauen der Öffent­lich­keit nicht nach­lassen und die Ängste nicht größer würden“, schluss­fol­gern die Autoren der Studie.

Zwei Themen seien während der Brexit-Debatte am häufigsten vorge­kommen: Wirt­schaft und Migration. Und obwohl rein quan­ti­tativ mehr Artikel über Wirt­schafts­themen verfasst worden seien, so die Forscher, hätten die Geschichten über Migration häufiger auf Titel­seiten gestanden, vor allem bei den Boule­vard­blät­tern aus dem „Leave“-Lager. Insgesamt sei Einwan­de­rung über­wie­gend negativ beschrieben worden. Die Migranten seien für viele der wirt­schaft­li­chen und sozialen Probleme Groß­bri­tan­niens verant­wort­lich gemacht worden. Bestimmte Natio­na­li­täten seien dabei besonders häufig in negativem Kontext erwähnt worden – etwa Türken, Albaner, Polen und Rumänen. Einige Schlag­zeilen hätten Migration sogar auf dras­ti­sche Weise mit Krimi­na­lität in Verbin­dung gebracht. Zwei Beispiele: „Mörder und Verge­wal­tiger aus der EU, die wir nicht depor­tieren konnten.“ („Daily Mail“) und „Euro­päi­sche Verbre­cher dürfen frei in Groß­bri­tan­nien leben.“ („Daily Telegraph“)

Fake News statt Fakten

Es ist kaum möglich zu messen, ob und wie diese Bericht­erstat­tung die Entschei­dung der Wähler beein­flusst hat. Und es wäre zu einfach, nur die Medien für die Ergeb­nisse des Refe­ren­dums verant­wort­lich zu machen. Die Spaltung der Tories in der EU-Frage, die Unzu­frie­den­heit der Arbei­ter­klasse und des unteren Teils der Mittel­schicht, der Verlauf der Kampagne und letzt­end­lich auch die Entschei­dungen einzelner Politiker – all das spielt eine Rolle. Aber die Medien haben zwei­fels­ohne oft die bestehenden Vorur­teile verstärkt und die Spaltung vertieft.

Ein anderes Problem, das nicht nur für Groß­bri­tan­nien relevant ist, ist der Umgang mit Fakten. Während der Kampagne wurden viele zwei­fel­hafte oder gar falsche Behaup­tungen aufge­stellt und verbreitet. Ein bekanntes Beispiel ist das falsche Verspre­chen der „Leave“-Kampagne, wonach nach dem Brexit zusätz­li­ches Geld nicht in das EU-Budget, sondern in das Gesund­heits­system NHS fließen werde, und zwar in Höhe von 350 Millionen Pfund pro Woche. Eine glatte Lüge.

Wenn John Lloyd, ein Jour­na­list der „Financial Times“ und Mitbe­gründer des Reuters Institute for Study of Jour­na­lism an der Oxford Univer­sität, über die Lehren aus der Brexit-Debatte nachdenkt, kommt deswegen die Notwen­dig­keit des Fact­che­cking an erster Stelle. Neben dem Prüfen von Fakten sei es außerdem wichtig, kompli­zierte poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Sach­ver­halte einfach und zugäng­lich zu erklären.

Lloyd arbeitet für eine Zeitung, die vom gebil­deten und wohl­ha­benden Teil der Gesell­schaft gelesen wird. Doch er sieht einiges an der Arbeit von Jour­na­listen aus dem liberalen Lager kritisch. „Wir müssen der Meinung von normalen Menschen mehr Aufmerk­sam­keit schenken“, sagt er. Den Ausgang des Refe­ren­dums hätten viele Politiker und Jour­na­listen in London falsch einge­schätzt. Das zeige auch, dass Haupt­stadt­re­dak­tionen zum Teil das Gefühl dafür verloren hätten, wie die Stimmung in anderen Teilen des Landes sei. Lloyds Tipp: Jour­na­listen sollten stärker auf das Lokale achten, auf die Themen, die Menschen vor Ort bewegen. Leichter gesagt als getan – denn wegen ihrer schlechten finan­zi­ellen Lage können sich viele Zeitungen heute keine regio­nalen Korre­spon­denten mehr leisten.

Die Medien als „Markt­platz der Ideen“

„Kenne deine Fakten, prüfe sie grund­sätz­lich und folge nicht der Masse“, das ist auch die wich­tigste Lehre für Peter Hitchens, Jour­na­list der konser­va­tiven „Mail on Sunday“. Er ist EU-Skeptiker, war aber dagegen, die Frage per Refe­rendum zu klären. Es habe ihn über­rascht, wie schnell sich viele Jour­na­listen und Politiker auf die „Leave“-Seite geschlagen hätten, ohne sich mit den Fakten auszu­kennen. Hitchens sieht sich dem konser­va­tiven Lager verpflichtet. Und er sieht es nicht als seine Aufgabe, die Posi­tionen des eigenen Lagers zu hinter­fragen. „Unser Job ist, das anzu­greifen, was die andere Seite tut“, sagt er. Denn schluss­end­lich, findet er, hätten die Menschen die Wahl, welche Zeitung sie lesen. Der Streit der Argumente, egal ob im Parlament, im Gericht oder in den Medien, diene schließ­lich am besten dem Zweck, die Wahrheit herauszufinden.

Diese Ansicht spiegelt das tradi­tio­nelle britische Verständnis von Pres­se­frei­heit wider. Dieses Verständnis hat seinen Ursprung in der berühmten „Areo­pa­gi­tica“, einer Streit­schrift des Denkers John Milton gegen die Zensur. In ihr argu­men­tiert Milton für einen freien Wett­be­werb der Ideen. Die Wahrheit sei der Lüge immer überlegen, so Milton. Es mache keinen Sinn, die Verbrei­tung von irrtüm­li­chen Ideen einzu­schränken. Denn erst in der Ausein­an­der­set­zung mit der Falsch­heit könne sich die Wahrheit behaupten. Das Konzept des „Markt­platzes der Ideen“ gehört heute zu der Tradition des klas­si­schen Libe­ra­lismus, auf die die Briten so stolz sind.

Gilt das auch für unsere Zeit, die so oft als das „post­fak­ti­sche Zeitalter“ bezeichnet wird? In den letzten Jahren fürchten viele, dass sich die Lüge gegen die Wahrheit durch­setzen könne, wenn sie nur oft genug wieder­holt werde. Dieses Dilemma im liberalen Rahmen zu lösen, ist keine triviale Aufgabe – nicht nur für britische Medien.

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