Wie die Tories zu Europaskeptikern wurden
Britische Medien sprechen von einem „Bürgerkrieg“: Der Brexit ist auch das Ergebnis einer Spaltung innerhalb der Tories. Wird die Konservative Partei daran zerbrechen?
Als Stephen Dorrell, ein pro-europäischer Abgeordneter, am vergangenen Sonntag seinen Austritt aus der Konservativen Partei durch einen Gastbeitrag im „Observer“ verkündete, bezog er sich auf die Säulenheiligen der Tories – Benjamin Disraeli, Winston Churchill, Harold Macmillan, Edward Heath. Dorrell schrieb, er sehe sich einen ihrer Erben, einen liberalen Konservativen. Und ausgerechnet deshalb trete er jetzt aus und schließe sich der Change UK an – einer kleinen pro-europäischen Gruppe von Abgeordneten, die den beiden großen britischen Parteien den Rücken kehren. „Die Tories sind zunehmend unter den Einfluss eines nationalistischen, englischen Weltbilds geraten“, kritisierte Dorrell seine alte Partei, während Labour auf eine traditionelle Version des Sozialismus hereingefallen sei.
Tatsächlich wirken die Tories derzeit nicht wie die Partei, die sie traditionell gewesen ist: eine Partei, die den Wählern vorsichtigen Pragmatismus in Kombination mit einer liberalen Wirtschaftspolitik anbietet. Gegenwärtig sieht man eine Partei, die versprochen hat, einen Brexit durchzuführen, doch sich seit zwei Jahren nicht darauf einigen kann, in welcher Form das geschehen soll. Eine Partei, die das Land in die größte politische Krise der Nachkriegszeit geführt hat. Die Tories sind noch stärker gespalten als vor dem Referendum, das David Cameron eigentlich dafür ausrief, um die internen Differenzen in der Europa-Frage zu überwinden. Britische Medien schreiben routiniert von einem „Bürgerkrieg“ unter den Tories.
Die Verlängerung der Brexit-Verhandlungen bis Ende Oktober könnte die Probleme sogar noch weiter verschärfen. Premierministerin Theresa May soll jetzt versuchen, zusammen mit dem Oppositionsführer Jeremy Corbyn eine parteiübergreifende Lösung zu finden. Der Brexit-Aufschub und die Perspektive, möglicherweise einen Kompromiss mit Labour eingehen zu müssen und am Ende einen noch milderen Brexit mit einem Verbleib in der Zollunion zu bekommen, schreckt Euroskeptiker unter den Tories ab. Der ehemalige Parteivorsitzende Iaian Duncan Smith warnte etwa in der Boulevardzeitung „The Sun“, ein Deal mit Corbyn „wird die Konservative Partei zerbrechen“ und rief May zum Rücktritt auf. In den Umfragen ist die Popularität der Tories um mehrere Prozentpunkte gesunken, so dass Labour an die Macht kommen würde, sollte es zu Neuwahlen kommen.
Schwer vorstellbar, aber die Tories waren mal pro-europäischer als Labour
Heute schwer vorstellbar, aber in den Sechzigern und Siebzigern waren die Tories deutlich pro-europäischer eingestellt als Labour. Der konservative Premierminister Harold Macmillan plädierte für einen Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), allerdings eher aus pragmatischen und wirtschaftlichen Gründen. Er sagte aber auch: „Ich glaube, dass unser richtiger Platz in der Avantgarde der Bewegung für die Einigkeit der freien Welt ist und dass wir von Innen besser als von Außen führen können.“ In den Sechzigern scheiterten die beiden britischen Beitrittsanträge am Veto Frankreichs, doch 1972 führte Edward Heath, ebenfalls ein Tory, Großbritannien in die EWG. Euroskeptiker wie Enoch Powell, der mit seiner spaltenden „Ströme von Blut“-Rede gegen die Einwanderung in die Geschichte einging und schließlich wegen ihrer pro-europäischen Position aus der Konservativen Partei austrat, waren in dieser Zeit noch eine Randerscheinung.
Die Spaltung der Tories über der Europa-Frage vollzog sich in den späten Achtzigern, der Zeit von Margaret Thatcher und den Debatten über eine immer engere Integration mit dem Kontinent. Thatcher, die noch vor dem Referendum über die EWG-Mitgliedschaft 1975 eine proeuropäische Kampagne anführte, sprach sich später zunehmend gegen einen stärkeren politischen Zusammenschluss aus. 1988 kritisierte sie in einer Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge einen „europäischen Superstaat“. Ihre euroskeptischen Ansichten führten zu einem parteiinternen Machtkampf, den die Premierministerin verlor.
Ihr Nachfolger John Major musste im Parlament einen harten Kampf mit Euroskeptikern über die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags austragen. Die anti-europäische Stimmung und das Misstrauen in die Fähigkeiten seiner Regierung wurde vom „Schwarzen Mittwoch“ verstärkt, als das britische Pfund im September 1992 stark an Wert verlor und Großbritannien aus dem Europäischen Währungssystem austreten musste. Für viele war das ein traumatischer Moment. In dieser Zeit formierte sich ein Flügel der Euroskeptiker, eine Minderheit noch, allerdings eine, die nicht zu ignorieren war. Um die Abstimmung über den Maastricht-Vertrags zu gewinnen, musste Major sie sogar mit einem Misstrauensvotum verknüpfen.
Im Parlament gibt es keine Mehrheit für eine Lösung
Mit der Ausrufung des Brexit-Referendums wollte David Cameron eigentlich die Europa-Debatte in der Konservativen Partei beenden und die gespaltenen Tories wieder vereinen. Der Druck auf Cameron wurde vom Aufstieg der rechtspopulistischen Partei UKIP verstärkt, die drohte, den Tories Stimmen abzunehmen. Cameron war zuversichtlich, dass er diese Abstimmung gewinnen würde. Das dürften auch einige seiner Gegner gedacht haben, die die Leave-Kampagne anführten, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie sie im Fall des Erfolgs den Brexit durchsetzen würden. Euroskeptische Ansichten wurden durch opportunistische politische Überlegungen verstärkt.
Ein Beispiel dafür ist Boris Johnson, der drei Jahre vor dem Referendum noch sagte, es sei besser für Großbritannien, in der reformierten EU und auf jeden Fall im EU-Binnenmarkt zu bleiben. Dass er sich nach einer langen Überlegung der Leave-Kampagne anschloss, war für Cameron eine unangenehme Überraschung. Kritiker werfen ihm vor, Johnson habe sich bei dieser Entscheidungen lediglich von seinen politischen Ambitionen leiten lassen. Sein Parteikollege Alan Duncan sagte der BBC am Tag vor der Abstimmung, Johnson habe das Referendum knapp verlieren wollen, um seine Positionen in der Partei zu stärken und sich als den nächsten Parteichef zu positionieren.
Theresa May übernahm von Cameron eine zerrissene Partei, samt der schier unerfüllbaren Aufgabe, einen Brexit durchzuführen, der Großbritannien möglichst wenig schaden würde. Vor dem Referendum war sie fest im Remain-Lager, jetzt musste sie plötzlich ganz andere Ansichten vertreten. Statt den Wählern ehrlich zu sagen, dass die Brexit-Kampagne auf falschen Versprechungen basierte, versuchte sie zwei Jahre lang, eine Lösung zu finden, die den Abstimmungsergebnissen möglichst gerecht wird. Doch im Parlament gibt es derzeit keine Mehrheit für irgendeine Lösung.
Die Spaltung in der Konservativen Partei verheißt für die kommenden Monate nichts Gutes. Von den Europawahlen im Mai, an den Großbritannien sehr wahrscheinlich teilnehmen wird, dürfte Labour profitieren sowie die neue Brexit-Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage. Das würde aber dazu führen, dass sowohl die Tories als auch Labour noch weniger an einem Kompromiss um den Brexit interessiert sein werden. Der harte Brexiteer und konservative Parlamentsabgeordnete Jacob Rees-Mogg rief schon dazu auf, Großbritannien solle in der EU „so schwierig wie möglich“ sein.
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