Keine Grauzonen, bitte!
Weshalb ein NATO-Beitritt der Ukraine
auch in unserem Interesse liegt

Foto: Imago Images

Warum nur ein NATO-Beitritt der Ukraine die Situation an der Ostflanke des Bünd­nisses stabi­li­sieren und zugleich für verläss­liche poli­ti­sche, mili­tä­ri­sche und recht­liche Standards in der Ukraine sorgen kann, analy­siert Edward Lucas vom Center for European Policy Analysis.

Mit Blick auf den NATO-Gipfel in Vilnius Mitte Juli gewinnt eine Idee an Boden. Anstelle einer Bünd­nis­mit­glied­schaft sollten der Ukraine starke Sicher­heits­ga­ran­tien und mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung angeboten werden, wie sie die Verei­nigten Staaten Israel gewähren.

Ein nament­lich nicht genannter hoher Regie­rungs­be­amter sagte dem Wall Street Journal, dass die USA etwas in Erwägung ziehen würden, das „lose“ auf diesem Modell basiert. Der fran­zö­si­sche Präsident Emmanuel Macron sagte letzte Woche auf der Sicher­heits­kon­fe­renz GLOBSEC in Bratis­lava, die NATO müsse „etwas zwischen der Israel gewährten Sicher­heit und einer voll­wer­tigen Mitglied­schaft aufbauen“. Sein polni­scher Amts­kol­lege Andrzej Duda stimmt dem zu.

Mehr Waffen für die Ukraine, eine engere Zusam­men­ar­beit der Geheim­dienste und Tech­no­lo­gie­transfer sind will­kommen. Aber es wäre ein großer Fehler, wenn sich die Ukraine (und ihre Verbün­deten) mit weniger als einer vollen NATO-Mitglied­schaft zufrie­den­geben würden. Die geogra­fi­schen, histo­ri­schen und poli­ti­schen Bedin­gungen Israels lassen sich nicht auf die Ukraine übertragen.

Die Ukraine (40 Mio. Einwohner) hat einen schlechten Nachbarn, Israel (10 Mio.) hat keine guten Nachbarn. Israel hat nur einen einzigen Freund, der von Bedeutung ist: die weit entfernten Verei­nigten Staaten. Die Ukraine hat viele, die meisten davon in der Nähe. Ja, in beiden Ländern gibt es interne Strei­tig­keiten, aber sie haben ein anderes Ausmaß. Der Krieg hat die nationale Einheit der Ukraine gestärkt. In Israel nimmt die Pola­ri­sie­rung zu. Es ist höchst unwahr­schein­lich (Gott sei Dank), dass eine terri­to­riale Regelung in der Nach­kriegs-Ukraine das Äqui­va­lent zum Gaza­streifen und zum West­jor­dan­land schaffen würde.

Es stimmt, dass beide Länder exis­ten­zi­ellen Bedro­hungen ausge­setzt sind, und zwar von Nachbarn, die munter die Rhetorik der Ausrot­tung verwenden. Im Falle Israels hat dies zur Folge, dass das Land sein eigenes Ding macht. Es verfügt über ein nicht dekla­riertes Atom­waf­fen­ar­senal. Sein mächtiger Geheim­dienst Mossad spioniert jeden und überall aus. Es behält sich die exter­ri­to­riale Elimi­nie­rung von Nazi-Kriegs­ver­bre­chern und paläs­ti­nen­si­schen Terro­risten bis hin zu irani­schen Nukle­ar­wis­sen­schaft­lern vor. Wenn nötig, atta­ckiert Israel seine Feinde aus der Luft, zu Lande und zur See. Ist es wirklich das, was die NATO in der Nach­kriegs-Ukraine sehen will?

Die NATO-Erwei­te­rung garan­tiert in erster Linie die mili­tä­ri­sche Vertei­di­gung ihrer neuen Mitglieder. Ein weiterer, oft über­se­hener Vorteil besteht jedoch darin, dass sie auch die innere Sicher­heit der neuen Mitglieder stärkt. In den ersten zehn Jahren ihrer wieder­erlangten Unab­hän­gig­keit mangelte es den balti­schen Staaten beispiels­weise nicht an Einfalls­reichtum und Entschlos­sen­heit, wenn es darum ging, äußeren und inneren Bedro­hungen zu begegnen. Doch die Ergeb­nisse waren manchmal haar­sträu­bend. Geheim­nisse sickerten durch. Äußerst unge­eig­nete Personen gelangten in hohe Posi­tionen. Die Grenzen zwischen Politik, Wirt­schaft, öffent­li­cher Verwal­tung und nach­rich­ten­dienst­li­cher Arbeit verwischten.

Um den NATO-Standards gerecht zu werden, musste man sich diese schlechten Ange­wohn­heiten abge­wöhnen und sich einige gute Gewohn­heiten aneignen. Das Leben nach dem Beitritt im Jahr 2004 wurde infol­ge­dessen lang­wei­liger, auch wenn es weiterhin viele unan­ge­nehme Aufre­gungen gab. Der estnische Beamte, der für Vertei­di­gungs­ge­heim­nisse (und die Einhal­tung der NATO-Standards im Umgang damit) zuständig war, war ein ehema­liger Poli­zei­be­amter namens Herman Simm. Er wurde 2008, vier Jahre nach dem NATO-Beitritt Estlands, als russi­scher Spion verhaftet, und zwar nur aufgrund eines Hinweises aus einem anderen Land.  In den wilden 1990er Jahren war er einer Über­prü­fung entgangen.

Wie auch immer der Krieg endet, er wird die Ukraine in einem Zustand von post­trau­ma­ti­schem Stress und Schock zurück­lassen. Russland, ob siegreich, besiegt oder erschöpft, wird sich in einem noch schlim­meren Zustand befinden. Diese gefähr­liche, düstere Land­schaft wird die Nerven, die Geschlos­sen­heit und das diplo­ma­ti­sche Geschick des Westens auf die Probe stellen. Die NATO-Mitglied­schaft ist die beste Garantie dafür, dass die Verteidigungs‑, Sicher­heits- und Nach­rich­ten­dienste der Ukraine unter ange­mes­sener poli­ti­scher Kontrolle stehen – und dass die Politiker ihnen die richtigen Weisungen erteilen. Spek­ta­ku­läre Opera­tionen halb-autonomer Split­ter­gruppen über die russische Grenze hinweg mögen in Kriegs­zeiten als verwegene Manöver gerecht­fer­tigt sein, die den Feind ablenken und demo­ra­li­sieren. In Frie­dens­zeiten haben sie keinen Platz.

Zwei­deu­tig­keit und Halb­heiten sind immer verlo­ckend. Aber das Aufschieben schwie­riger Entschei­dungen macht diese selten leichter. Der sicherste Weg für die NATO, die Ukraine und alle anderen besteht darin, das Land so schnell wie möglich in das Bündnis aufzunehmen.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen bei Center for European Policy Analysis (CEPA).

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