Georgien: too close to call
Seit den US-Präsidentschaftswahlen sind wir Twitter Nachrichten zu Wahlmanipulationen und Fälschungen durch den noch amtierenden Präsidenten Trump gewöhnt. Andere Stimmen jedoch mahnen zur Vernunft: Wahlen sind das Hochamt der Demokratie. Jede Stimme zählt. Niederlagen müssen anerkannt werden und selbst nach einem harten Wahlkampf sollte es versöhnliche Worte geben.
Für die demokratische Partei in den USA erwies sich der Bundesstaat Georgia als angenehme Überraschung, aber es wird noch einmal per Hand nachgezählt. Auch in dem kleinen EU-Assoziierungsland Georgia tobt seit zwei Wochen der Kampf um den Ausgang der Parlamentswahlen. Dieses Land im Südkaukasus scheint auf seinem langen Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu straucheln.
Am 31. Oktober 2020 hat der georgische Souverän zum zehnten Mal das Parlament gewählt. Diese Wahlen sind durchaus historisch zu nennen. Zum ersten Mal wurde überwiegend das proportionale Wahlsystem angewandt. Es gab einen Mix aus 120 Listenmandaten und 30 Direktmandaten.
Georgien hat es der internationalen Gemeinschaft zu verdanken, dass es überhaupt zu einer Wahlreform kam. Mit Geschick und Engagement wurde der Oligarch Bidzina Ivanishvili zu diesem Schritt gebracht. Erst 2024 wird das Wahlsystem vollständig auf eine reine Verhältniswahl umgestellt.
Trotz der dramatischen epidemiologischen Lage war die Wahlbeteiligung hoch. In der Bevölkerung hoffte man auf eine Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse, z.B. durch die Ablösung der Alleinregierung des Ivanishvili Lagers zugunsten einer Koalitionsregierung.
Laut internationalen Beobachtern waren die Wahlen verhältnismäßig frei, aber es gab auch Verstöße. Nach offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission (ZWK) hat die Regierungspartei 48 Prozent erreicht und sich damit zwar eine knappe, aber ausreichende Mehrheit im Parlament für eine Alleinregierung gesichert. Acht Parteien bilden die Opposition.
Die geeinigte Opposition droht nun damit, die Mandate gar nicht erst anzunehmen. Sie nennt die Wahl eine Farce und verlangt Neuwahlen. Die zentrale Wahlkommission soll neu zusammengesetzt werden. Alle politischen Gefangenen sollen vor einer Neuwahl freigelassen werden.
In der Tat hat die Regierung alle in ihrer Hand befindlichen Instrumente uneingeschränkt eingesetzt. Das betrifft die Anwendung der sogenannten administrativen Ressourcen. Dazu gehört: Druck auf Beamte und Angestellte, massive Wählerbestechung, Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für den “Georgischen Traum” in den Wahlkommissionen, organisierte Provokationen in den Wahllokalen und umfangreiche Unregelmäßigkeiten in den Wahlprotokollen.
Trotz der genannten erheblichen Wahlverstöße weigert sich die zentrale Wahlkommission stichhaltig dokumentierte Beschwerden anzunehmen. Damit entfällt jede Chance auf Klärung des Umfangs des Wahlbetrugs.
Die Oppositionspolitikerin Tamar Kordzaia von der Republikanischen Partei, die heute dem Wahlbündnis „Geeinigte Opposition – Zusammen sind wir stark“ angehört, äußerte die Vermutung, dass etwa 31 Prozent und damit 597.633 der abgegebenen Stimmen gefälscht worden seien. Sie bezog sich hierbei auf eine selbst angestellte Hochrechnung von Unregelmäßigkeiten in einem Teil der Wahlbezirke, für die es entsprechende Belege gebe. Diese Vorwürfe lassen sich derzeit nicht überprüfen. Aber auch unabhängige Experten der einheimischen Wahlbeobachtung bewerten diese Wahl als die am meisten manipulierte in den letzten 8 Jahren.
In Georgien gibt es derzeit keine Chance auf die Überprüfung der Wahlen durch unabhängige Gerichte. Deswegen hat die Opposition mit der Unterstützung von 35.000 Bürgern den Protest auf die Straße getragen.
Georgien ist nicht Weißrussland und Bidzina Iwanishvili ist klug genug Wahlmanipulationen so zu verbergen, dass internationale Beobachter die Wahlen nicht massiv in Frage stellen. Der weißrussische Diktator kann für ein EU-Assoziierungsland aber nicht die Benchmark sein. Die georgische Regierung sollte auf ihre internationalen Partner hören und die Ausschöpfung der rechtlichen Mittel zur Klärung der Unregelmäßigkeiten erlauben. Aber da es keine unabhängige Justiz gibt, schwindet die Hoffnung in der Bevölkerung auf eine Korrektur der Auszählung.
Die georgische Regierung ist nicht bereit zu deeskalieren. Am 9. November 2020 ließ die Regierung friedliche Demonstranten mit Wasserwerfern auseinandertreiben. Ab 22 Uhr gab es eine Ausgangssperre, die Demonstranten von ihrem Grundrecht abhielt. Mit Verweis auf “die gesellschaftliche Gesundheit” ist es laut Gesetz möglich, die Freizügigkeit einzuschränken, aber das Grundrecht auf Meinungsäußerung darf auch nach der georgischen Verfassung nicht angetastet werden.
Die georgische Verfassung legt fest, dass eineRegierungspartei mit 91 Mandaten das Parlament konstituieren kann und auch beschlussfähig ist. Für eine Verfassungsänderung bedarf es 113 Stimmen. Ohne die 59 Mandate der vereinigten Opposition kann es nicht zu einer Verfassungsänderung kommen.
Demonstrationen und Proteste oppositioneller Parteien sind inGeorgien fast eine Selbstverständlichkeit. Aber noch nie war die Opposition so einig und entschlossen wie jetzt. Sie vertritt die Auffassung, dass das Land von einer entscheidenden Wende stehe und jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, die Ära der informellen Regierung des Oligarchen zu beenden. Außerdem ist die Opposition tief davon überzeugt, dass es früher oder später zu Neuwahlen kommen muss. Das Hauptargument des Mandatsboykotts lautet, dass die Opposition als Vertreter des Volkes verpflichtet sei, die Stimmen ihrer Wähler zu verteidigen. Deswegen wollen die gewählten Abgeordneten ein vermeintlich gesetzwidrig gewähltes Parlament nicht legitimieren. Es gehe um Werte und Prinzipen, die die Grundlage für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie darstellen. Die Opposition sieht Recht und Moral auf seiner Seite.
Bisher hat das diplomatische Korps die Lage beobachtet und am 12. November doch geschafft, eine Vermittlungsrolle zu übernehmen und die beiden Parteien an einem Verhandlungstisch zu bringen. Die oppositionellen Kräfte hoffen auf Unterstützung durch das Ausland. Das Agieren der Zentralen Wahlkommission und der Gerichte soll einer transparenten Analyse unterzogen werden.
Obwohl von den europäischen und transatlantischen Politikern immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Hilfe aus Westen nur für Selbsthilfe gedacht ist, ist deren Gewicht in dieser brisanten politischen Krise in Georgien äußerst groß. Georgien steht heute vor einer anderen Realität, als in der Nacht des Wahltages. Zudem liegt Georgien in einer krisenbehafteten Region, in der die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder zu einem heißen Konflikt geführt hat.
Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass insbesondere die EU über die Ressourcen verfügt, um die innere Transformation eines Staates von außen zu beeinflussen. Daher sollte die EU von diesem Potenzial verstärkt Gebrauch machen und klar erläutern, dass freie und faire Wahlen eine Voraussetzung für eine glaubwürdige und stabile Partnerschaft mit der EU sind.
Die friedlichen Proteste gehen trotz der Pandemie und eisigen Temperaturen weiter. Alles oder nichts lautet das Motto. Diesmal sind für diese Protestwelle die Einigkeit und Entschlossenheit prägend, die der georgischen Opposition seit langer Zeit gefehlt haben. Wie es weitergeht? Es hilft eine Phrase aus der US-Wahlnacht: too close to call…
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