Kompli­zierte Rückab­wicklung: Polen nach acht Jahren PiS

Welcher Methoden bedient sich die Regierung Tusk, um Polen vom Vermächtnis der PiS zu befreien? Klaus Bachmann im zweiten Teil unserer dreitei­ligen Reihe „Polen: Demokratie im Dilemma“ über Fehler der PiS, juris­tische Kniffe und eine Art Waffenstillstand.

Die neue Regierung in Polen steht vor einem drama­ti­schen Dilemma. Die Vorgän­ger­re­gierung hat sich überall in den Insti­tu­tionen verschanzt, um die Re-Demokra­ti­sierung des Landes zu verhindern. Sie dominiert das Verfas­sungs­tri­bunal, das jedes Gesetz kassieren kann, und verfügt in Staats­prä­sident Andrzej Duda über einen Gefolgsmann, der jedes Gesetz per Veto blockieren kann.

Also kann die Regierung Tusk entweder nur herrschen, aber nicht regieren – oder sie kann den Obrig­keits­staat, den ihr die PiS hinter­lassen hat, gegen diese wenden und mit Hilfe von Dekreten und Verord­nungen am Präsi­denten vorbei regieren und das Verfas­sungs­tri­bunal ignorieren. Für welchen Weg hat sie sich entschieden? Die ersten Schritte der aller­jüngsten Vergan­genheit zeigen, wohin die Reise geht.

PiS gründete vor den Wahlen noch rasch eine „Unter­su­chungs­kom­mission“

Als der Führung der PiS klar wurde, dass sie die Wahlen so klar verlieren würde, dass auch Manipu­la­tionen oder Wahlfäl­schungen keinen Sinn mehr machten, gründete sie per Gesetz eine Unter­su­chungs­kom­mission zur Bloßstellung „russi­scher Einflüsse“ in Polen. Eine Gruppe vom Parlament gewählter, externer Experten sollte russische Einfluss­agenten bloßstellen und ihnen das Ausüben öffent­licher Ämter verbieten können. Und obwohl bis heute nicht einmal klar ist, ob es sich bei dem Gremium um ein Verwal­tungs­organ oder ein Gericht handelt, sollten seine Entschei­dungen unanfechtbar und endgültig sein, seine Mitglieder dagegen niemandem Rechen­schaft schulden.

Diese moderne Form der Inqui­sition tagte ein paarmal vor der Wahl und veröf­fent­lichte dann – unmit­telbar bevor die neue Parla­ments­mehrheit die Kommis­si­ons­mit­glieder abberief – einen Bericht, der Tusk und einigen anderen promi­nenten Opposi­ti­ons­po­li­tikern beschei­nigte, russische Einfluss­agenten zu sein. Der Bericht sollte, so kurios er auch war, offenbar als Vorwand für Präsident Duda dienen, die Verei­digung Tusks als Minis­ter­prä­sident abzulehnen: nach dem Verdikt hätten Tusk und einige seiner Mitstreiter kein öffent­liches Amt ausüben dürfen. Damit hätte Polen mit einer neuen Regierung auch gleich eine neue Verfas­sungs­krise bekommen.

„Eine Art Waffen­still­stand mit Präsident Duda“

Was die PiS offenbar nicht bedacht hatte: die neue Regierung konnte es ihr heimzahlen. Die neue Parla­ments­mehrheit könnte die Kommission mit eigenen Mitgliedern besetzen und dann einen ähnlichen Bericht erstellen – dieses Mal aber gegen die PiS-Führung, die dann für zehn Jahre von allen Ämtern ausge­schlossen worden wäre. Das lehnte Tusk ab. Und so gab es eine Art Waffen­still­stand mit Präsident Duda. Dieser erklärte, er ignoriere den Kommis­si­ons­be­richts und verei­digte Tusk. Tusk wiederum verzichtete darauf, PiS in die Grube zu stoßen, die ihm PiS gegraben hatte.

Neutrale staat­liche Medien: Kultus­mi­nister Sienkiewicz nutzt juris­ti­schen Ausweg

Dann gab es kurz vor den Weihnachts­fei­er­tagen einen Donner­schlag, der darauf hindeutete, dass sich in der neuen Regierung die Hardliner durch­ge­setzt hatten. Zum ersten Mal legte die neue Regierung der PiS die Daumen­schrauben an, die die PiS selbst entwi­ckelt hatte. Deren Partei­gänger saßen noch immer in den Leitungs­gremien des „Rats der Natio­nalen Medien“, der nach einem, gegen die Verfassung versto­ßenden Gesetz einzig berechtigt war, den Vorstand des staat­lichen Fernsehens und des Rundfunks zu besetzen.

Nach der Verfassung hatte dieses Recht der Landes­rundfunk- und Fernsehrat, aber den hatte PiS 2016 verfas­sungs­widrig entmachtet. Auch dort hat PiS eine Mehrheit. Während in allen staat­lichen Fernseh- und Rundfunk­ka­nälen die gleiche Propa­ganda über Tusk, „den deutschen Agenten, der unser Land mit Migranten überfluten wird“ weiterlief, als sei nichts geschehen, nutzte der neue Kultus­mi­nister Bartłomej Sienkiewicz eine juris­tische Finte.

Als Minister war er zugleich die General­ver­sammlung der Fernseh- und Rundfunk AG, die nach polni­schem Aktien­recht den Aufsichtsrat besetzen durfte. Also besetzte der Minister den Aufsichtsrat mit einem Gefolgsmann, der sofort den alten Vorstand feuerte und seinen eigenen einsetzte. Damit nichts schieflief, wurde kurz der Sende­be­trieb unter­brochen, dann wurde den ersten leitenden Angestellten gekündigt.

Recht­zeitig zu Weihnachten gab es zum ersten Mal wieder propa­ganda-freie Nachrichten zur Haupt­sen­dezeit, mit neuen Gesichtern und neutralen Inhalten. PiS-Abgeordnete versuchten, die Ereig­nisse aufzu­halten, indem sie Räume in den Fernseh­an­stalten und bei der staat­lichen Nachrich­ten­agentur PAP besetzten, gaben aber über die Feiertage auf.

Die neue Regierung bedient sich des Werkzeug­koffers der PiS

Inter­essant dabei: das Verfas­sungs­tri­bunal hat solche Verän­de­rungen per einst­wei­liger Verfügung untersagt, die Regierung hatte das Urteil veröf­fent­licht (aber mit dem Hinweis versehen, dass ein daran Betei­ligter kein unabhän­giger Richter gewesen war) – und es dann ignoriert. Auf einmal verwan­delten sich nun Präsident Duda und ein Großteil der PiS-Führung in inbrünstige Vertei­diger von Demokratie, Rechts­staat, Verfas­sungs­treue und Medienpluralismus.

Staats­an­walt­schaft: Ankläger unter Anklage

PiS hat acht Jahre lang auch die Justiz, Richter­schaft und Staats­an­wälte, auf Linie ihrer Partei­in­ter­essen gebracht. Das Problem bei der Rückab­wicklung der politi­sierten Justiz: der Präsident und sein Veto.

Eine der ersten Maßnahmen, die PiS nach den gewon­nenen Wahlen von 2015 unternahm, war die Verschmelzung der Posten des General­staats­an­walts mit dem des Justiz­mi­nisters. Unter dem Justiz­mi­nister Zbigniew Ziobro wurde die Staats­an­walt­schaft zu einem Amt für selektive Justiz: wer mit dem Justiz­mi­nister gutstand, konnte sich alles erlauben – die Staats­an­walt­schaft ermit­telte einfach nicht gegen ihn. Wer ihm zu nah kam, den traf die ganze Härte des Gesetzes, das Ziobro noch dazu ständig verschärfte.

Ex nihilo geschaf­fener „Landes­staats­anwalt“ sollte PiS dauerhaft die Macht sichern

Als klar war, dass PiS die Wahlen verlieren würde, ließ sich Ziobro vom Parlament noch ein Gesetz absegnen, das fast die gesamte Macht des General­staats­an­walts auf den neuge­schaf­fenen Landes­staats­anwalt übertrug. Nun konnte die neue Regierung einen neuen Justiz­mi­nister ernennen und vom Posten des General­staats­an­walts abtrennen – die Leitung der Staats­an­walt­schaft würde einem vor der Wahl übertra­genen Vertrauten Ziobros gehören, den die neue Regierung nur mit Zustimmung des Präsi­denten auswechseln konnte.

Neuer Justiz­mi­nister findet juris­ti­schen Ausweg

Der neue Justiz­mi­nister Adam Bodnar, früher Bürger­om­budsmann, fand einen Ausweg: er schickte Ziobros Vertrauten zurück in den Ruhestand, aus dem ihn Ziobro 2022 in den aktiven Dienst geholt hatte. Dabei hatte sich Ziobro jedoch in seinen eigenen Vorschriften verheddert, wodurch seine Berufung nichtig wurde und Bodnar zu seiner Rückver­setzung in den Ruhestand die Zustimmung des Präsi­denten nicht brauchte. Duda gefiel das gar nicht, aber außer protes­tieren konnte er nichts tun. Eine einst­weilige Verfügung (kurio­ser­weise extrem schnell und im Nachhinein erlassen) des Verfas­sungs­tri­bunals ignorierte die Regierung erneut.

Juris­tische Möglich­keiten, Duda und das Verfas­sungs­ge­richt zu umgehen

Langsam wird deutlich, wohin hier die Reise geht: die Regierung vermeidet es, sich eindeutig festzu­legen und sucht pragma­tisch nach juris­ti­schen Möglich­keiten, um Duda und das Tribunal zu umgehen. Nach acht Jahren PiS ist es nicht mehr so wichtig, was in der Verfassung steht und was das Verfas­sungs­ge­richt entscheidet – wichtig ist, wer die Macht hat. Und das ist die Regierung. An deren Ermäch­tigung und an der Schwä­chung des Parla­ments und seines eigenen Amtes im Insti­tu­tio­nen­gefüge hat der Präsident parado­xer­weise jahrelang eifrig mitgearbeitet.

Politische Gefangene?

2015 hatte ein Warschauer Gericht zwei hohe PiS-Politiker, den früheren Chef des „Zentralen Anti-Korrup­ti­ons­büros“ und seinen Stell­ver­treter (sowie zwei weitere Agenten des Büros) wegen Dokumen­ten­fäl­schung, Amtsmiss­brauch und Überschreitung ihrer Kompe­tenzen zu einer Gefäng­nis­strafe verur­teilt. PiS wollte die beiden aber wieder in der Regierung haben, weshalb Duda sie begna­digte, noch bevor das Urteil rechts­kräftig geworden war.

Damit hatte er juris­tisch betrachtet zwei Unschuldige begnadigt, was in den folgenden Jahren zu einer juris­ti­schen Ausein­an­der­setzung führte, die kurz nach der Wahlnie­derlage von 2023 zu einem rechts­kräf­tigen Urteil in der zweiten Instanz führte, mit dem beide erneut zu einer Gefäng­nis­strafe verur­teilt wurden. Jetzt hätte Duda sie rechts­kräftig begna­digen können, aber dann hätte er zugeben müssen, dass die erste Begna­digung unwirksam gewesen war. Also weigerte er sich.

Das Amtsge­richt ließ die beiden festnehmen, sie kamen in Justiz­voll­zugs­an­stalten in der Provinz, traten in den Hunger­streik. Der Parla­ments­prä­sident verkündete die Aufhebung ihrer Parla­ments­mandate und ließ ihre Ausweise entwerten. Seither behaupten die PiS-Führung und Duda, die beiden seien politische Gefangene.

Am 23. Januar gab Duda dann nach und begna­digte die beiden dann noch einmal, womit er zugleich implizit die Rechts­un­wirk­samkeit seiner ersten Begna­digung einge­stand. Den beiden Freige­las­senen (und vielen anderen PiS-Vertretern) drohen in den nächsten Monaten aber Strafverfahren.

Rückab­wicklung der politi­sierten Richterschaft

Im Verfas­sungs­tri­bunal hatte die Regierung 2016 die Mehrheits­ver­hält­nisse zu ihren Gunsten verändert, wenig später brachte Justiz­mi­nister Zbigniew Ziobro zwei wichtige Gesetz­ent­würfe ins Parlament.

Der erste ermög­lichte es der Regie­rungs­mehrheit im Parlament und dem Präsi­denten, die Mehrheit der Mitglieder des Landes­jus­tizrat zu ernennen – statt der in der Verfassung vorge­se­henen maximal 8 von 25 Mitgliedern. Der zweite Gesetz­entwurf schickte die Richter des Obersten Gerichtshof vorzeitig in eine Art Zwangs­pension, wodurch der Landes­jus­tizrat dann die freige­wor­denen Posten mit regie­rungs­nahen Juristen auffüllen konnte.

Das Ergebnis:  Parla­ments­mehrheit, Justiz­mi­nister und Präsident konnten fortan mit Hilfe ihrer Vertreter im Landes­jus­tizrat unbequeme Richter buchstäblich heraus­filtern: acht Jahre lang konnten sie nicht aufsteigen und wurden nicht in den Obersten Gerichtshof oder andere Höchst­ge­richte entsandt.

Das eigent­liche Problem ist aber der Landes­jus­tizrat, der immer noch von PiS-Vertretern dominiert ist und dem Präsi­denten weiterhin Kandi­daten zur Richter­er­nennung vorschlägt, die nach Entschei­dungen des Europäi­schen Menschen­rechts­ge­richtshofs und des Europäi­schen Gerichtshofs sowie des Obersten Gerichtshofs Polens keine unabhän­gigen Richter sind, weil sie unter Verletzung der polni­schen Verfassung ernannt wurden. Ungefähr ein Viertel aller Richter sind inzwi­schen auf diesem Weg an ihre Posten gekommen.

Zwick­mühle für die neue Regierung

Bisher ist noch völlig unklar, wie die neue Regierung damit umgehen will: Einer­seits muss sie die entspre­chenden Urteile umsetzen (um an die ausste­henden EU-Gelder zu kommen), anderer­seits kann sie das nicht, weil sie damit rechnen muss, dass der Präsident jedes entspre­chende Gesetz blockieren wird, da er sich als Schutzherr dieser rechts­widrig ernannten Richter empfindet. Ähnlich ist die Lage beim Obersten Gerichtshof, wo manche dieser PiS-Richter bereits einzelne Kammern majori­siert haben und beim Verfas­sungs­tri­bunal, das nur aus PiS-Vertretern besteht.

Neue Unter­su­chungs­kom­mis­sionen der Regierung Tusk

Die neue Regierung hat bislang ihre Übergangs­justiz auf Bereiche beschränkt, in denen der Präsident kein Vetorecht hat und drei Unter­su­chungs­kom­mis­sionen im Sejm einge­richtet, die Zeugen vorführen lassen, mit Zwangs­geldern belegen und verei­digen können.

Eine Kommission beschäftigt sich mit der israe­li­schen Pegasus-Abhör­software, die die Geheim­dienste im Wahlkampf 2019 gegen die Opposition einsetzte. Sie wurde illegal erworben, illegal betrieben und illegal verwendet, wobei beim illegalen Abhören gewonnene Infor­ma­tionen an regie­rungsnahe Medien geleakt (und gefälscht) wurden, um damit einzelne Opposi­ti­ons­po­litik zu diskreditieren.

Die zweite Kommission beschäftigt sich mit der Organi­sation der Briefwahl von 2020. Um den Wahltermin einzu­halten, hatte die Regierung versucht, Wahlen an der staat­lichen Wahlkom­mission vorbei und mit Hilfe der Post zu organi­sieren – und war dabei krachend gescheitert.

Die dritte Kommission arbeitet einen Visa-Skandal auf, in dessen Rahmen das Außen­mi­nis­terium die Visavergabe outsourcte und es Krimi­nellen ermög­lichte, Migranten ungeprüft mit polni­schen Schengen-Visa in den Schen­genraum (und in außer­eu­ro­päische Länder, die Besitzer von Schengen-Visa visafrei einreisen lassen) zu schmuggeln.

Dazu hat der konser­vative Abgeordnete und Anwalt Roman Giertych, den die PiS in ihrer Regie­rungszeit vergeblich hinter Gitter zu bringen versuchte, noch eine Abgeord­ne­ten­gruppe gegründet, die eigene Ermitt­lungen anstellt und ihre Ergeb­nisse dann den Staats­an­walt­schaften übergibt. Auch hier stoßen die neuen Macht­haber auf Wider­stände: manche Staats­an­walt­schaften, die in den letzten acht Jahren mit PiS-Günst­lingen besetzt wurden, lassen die Straf­an­zeigen einfach liegen.

Darüber hinaus laufen in fast jedem, von den neuen Macht­habern übernom­menen Minis­terien und den entspre­chenden Staats­be­trieben Ermitt­lungen über Unregel­mä­ßig­keiten, Finanz­af­fären und Vetternwirtschaft.

Kein Unter­su­chungs­aus­schuss zu den Pushbacks an der belarus­si­schen Grenze

Keinen Unter­su­chungs­aus­schuss gibt es für die Unter­su­chung der massiven Menschen­rechts­ver­let­zungen durch polnische Behörden an der polnisch-belarus­si­schen Grenze, wo seit 2021 tausende vom Lukaschenko-Regime aus dem Irak, Afgha­nistan und Afrika einge­flogene Migranten von polni­schen Grenz­be­amten zurück­zu­trieben wurden – wobei nach bishe­rigen Erkennt­nissen eine zweistellige Zahl ums Leben kam. Diese Pushbacks laufen auch nach dem Macht­wechsel in Warschau weiter. Im Koali­ti­ons­vertrag findet sich dazu nichts, Regie­rungs­po­li­tiker schweigen zu dem Thema eisern. Ein Konzept, wie man das Problem angehen könnte, hat bisher niemand.

Betrachtet man, welche Bereiche die neue Regierung durch­leuchtet und welche nicht, ergibt sich ein klares Muster: Vergehen der alten Regierung gegen Vertreter der neuen Regierung werden unter­sucht. Wo die Betrof­fenen und Opfer außerhalb der politi­schen Eliten (oder, wie bei der Visaaffäre, sogar im Ausland) angesiedelt sind, geschieht zumindest vorerst, nichts.

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