Libera­lismus muss heute vor allem eins sein: inklusiv

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Politik muss den Menschen mit seinen Alltags­nöten wieder ins Zentrum der Aufmerk­samkeit rücken. Nur ein inklu­siver Libera­lismus kann es mit dem Populismus von rechts und links aufnehmen.

Markt­wirt­schaft und freier Wettbewerb haben es derzeit wieder einmal schwer in Deutschland. „Deutsche Wohnen enteignen“, „Mieten deckeln“ und „BMW verstaat­lichen“ sind nur ein paar Schlag­worte der vergan­genen Monate. Kevin Kühnert (SPD), Robert Habeck (Bündnis 90/​Die Grünen) und Katja Kipping (Die Linke) werden von Talkshow zu Talkshow gereicht, um dort ihre Utopien einer gerech­teren, weil staatlich einge­hegten Wirtschafts­ordnung zu verkünden. Der Sündenbock für soziale Schief­lagen jeglicher Art steht dabei schon vorher fest: Es ist der „Neoli­be­ra­lismus“ (wahlweise auch als „Turbo­ka­pi­ta­lismus“ bezeichnet), der Ungerech­tigkeit, prekäre Verhält­nisse und ein immer stärkeres Gefälle zwischen Arm und Reich über die Gesell­schaft habe herein­brechen lassen. Das gelte es nun zu korri­gieren – und da sei jetzt der Staat am Zug. 

Portrait von Hans Bellstedt

Hans Bellstedt arbeitet seit 1999 als Kommu­ni­ka­ti­ons­un­ter­nehmer in Berlin.

Woran liegt es, dass diese Hypothese, wonach das freie Spiel der Kräfte die Ursache allen Elends sei, inzwi­schen zum Gemeingut gehört?

Unbestritten hat der Libera­lismus im Zuge der Finanz- und Wirtschafts­krise 2008 einen immensen Glaub­wür­dig­keits­verlust erlitten. Bis heute gelten die liberalen, markt­ori­en­tierten Reformen der Neunziger- und frühen Nuller­jahre – Deregu­lierung der Finanz­märkte, Steuer­sen­kungen auf Unter­neh­mens­ver­käufe, allge­meiner Rückzug des Staates – als Ursache für die Exzesse im Invest­ment­banking, den Zusam­men­bruch der Finanz­märkte und die Existenz­krise der Eurozone. Damit nicht genug, habe der sogenannte Neoli­be­ra­lismus, so seine Kritiker, vor allem in den südlichen Regionen Europas für explo­die­rende Jugend­ar­beits­lo­sigkeit, hohe Staats­ver­schuldung sowie die Verarmung ganzer Landstriche gesorgt. Apostel wie Yanis Varou­fakis, Thomas Piketty und Jeremy Corbyn bedienen geschickt dieses Narrativ, demzu­folge Markt­wirt­schaft und Kapita­lismus „die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer“ machten.

Wir stehen vor zunehmend gespal­tenen Gesellschaften

Vor diesem Hinter­grund ringen der politische Libera­lismus und bürgerlich-liberale Parteien in ganz Europa um ihre strate­gische Positio­nierung. Dabei ist die Versu­chung, angesichts sich eintrü­bender Konjunk­tur­pro­gnosen zum Bewährten zu greifen und doch wieder nach Steuer­sen­kungen, Bürokra­tie­abbau und „mehr Markt“ zu rufen, groß. Aber ist dieser Reflex noch zeitgemäß? Sicher, in den Neunzi­ger­jahren, nach dem Zusam­men­bruch des Sowjet­kom­mu­nismus, war „weniger Staat“ das Maß aller Dinge und Motor für den Umbau Mittel- und Osteu­ropas – mit nicht unerheb­lichen Wohlstands­zu­wächsen für zigmil­lionen Menschen. Heute aber, angesichts drama­tisch gestie­gener Komple­xi­täten und Fragi­li­täten in Ökonomie, Techno­logie und Gesell­schaft, müssen nicht nur die Unter­nehmen – Stichwort purpose– , sondern auch die Parteien sich etwas Neues einfallen lassen.

Heute geht es zentral darum, das Vertrauen der Menschen zurück­zu­ge­winnen. Wir stehen vor zunehmend gespal­tenen Gesell­schaften: Hier die vielflie­genden citizens of nowhere, die auf der Welle des Niedrig­zinses surfen, zwischen diversen Wohnsitzen pendeln und die Globa­li­sierung als Goldrausch erfahren. Dort die schlecht ausge­bil­deten, in ihren Existenzen gefan­genen, um ihre Rente bangenden left behinds. Und während Erstere sich mit Politik mögli­cher­weise gar nicht mehr aufhalten, laufen Letztere Gefahr, den billigen Lockrufen der Populisten und Neona­tio­na­listen auf den Leim zu gehen. Ein Politik­ansatz, der dies verhindern will, muss heute vor allem eins sein: inklusiv. Politik – auch liberale Politik – muss die Menschen mit ihren Alltags­nöten wieder ins Zentrum der Aufmerk­samkeit rücken, und dabei auch eigene Einstel­lungen kritisch hinterfragen.

Bildung, Wohnen, Pflege: Wie könnte ein inklu­siver Libera­lismus aussehen?

Wie könnte ein inklu­siver Libera­lismus aussehen? Drei Beispiele: Bildung, Wohnen, Pflege. Beginnen wir mit der Schule: Natürlich ist es wichtig und legitim, dass besonders begabte Schüle­rinnen und Schüler sich – bei gleichen Ausgangs­be­din­gungen für alle – so entfalten können, dass sie in ihren späteren Berufen kraftvoll durch­starten und damit auch einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Liberale Schul­po­litik stand immer zur Eliten­för­derung und sollte das auch künftig tun. Ebenso wichtig ist es aber, denen, die weniger begabt sind, die aus minder begüterten, bildungs­fernen Haushalten kommen, mindestens dasselbe Maß an Zuwendung und Förderung zukommen zu lassen wie den Überfliegern. Das gilt in beson­derem Maße für Basis­kom­pe­tenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen: Wer hier nicht mitge­nommen wird, hat später keine Chance. Hinzu kommt die Heraus­for­derung der Inklusion: Gerade das humanis­tische Menschenbild des Libera­lismus verlangt es, im Maße des Möglichen auch Jungen und Mädchen mit erhöhtem Förder- oder Betreu­ungs­bedarf einen Platz in der Mitte gewöhn­licher Schul­klassen einzu­räumen – natürlich unter Bereit­stellung zusätz­lichen Lehrpersonals.

Thema Wohnen: Das bürgerlich-liberale Mantra zur Wohnungsnot lautet: „Bauen, bauen, bauen“. Natürlich muss mehr gebaut werden. Ein bloßer Freifahrt­schein für Inves­toren jedoch ist gerade nicht dazu geeignet, die soziale Hitze abzukochen, die sich in den urbanen Ballungs­ge­bieten angestaut hat. Inklu­siver Libera­lismus muss vielmehr, neben Anreizen für eine erhöhte Bautä­tigkeit, stärker auch die berech­tigten Anliegen der Mieter, zumal der gering­ver­die­nenden, in den Blick nehmen. Mietpreis­bremsen haben zwar nichts mit Markt­wirt­schaft zu tun. Aber wenn behutsame ordnungs­po­li­tische Leitplanken geeignet sind, rendi­te­ge­trie­benen Exzessen am Wohnungs­markt Einhalt zu gebieten und ein Stück Fairness wieder­her­zu­stellen, dann muss man sie auch als Liberaler nicht katego­risch ablehnen. Die „unsichtbare Hand“ allein wird die Wohnungs­märkte zumindest kurzfristig nicht in die Balance bringen.

Ein drittes Beispiel: Pflege. Mehr noch als die Rente, ist die Pflege unserer Älteren die zentrale soziale Frage unserer Zeit. Noch verdrängen wir dieses Thema oder verengen es auf die Frage eines angemes­senen Verdienstes für Pflege­rinnen und Pfleger. Derweil wird die Zahl der Pflege­be­dürf­tigen von derzeit über drei Millionen auf absehbar vier Millionen Menschen steigen. Haben wir die Heim- und Hospiz-Infra­struktur dafür? Sind Gering­ver­diener für den Pflegefall hinrei­chend abgesi­chert? Inklu­siver Libera­lismus bedeutet, sein Augenmerk nicht nur auf die hippen Start-ups zu richten, sondern die Gesell­schaft als Ganzes in den Blick zu nehmen. Staatlich geför­derter Pflege­heimbau und mehr Anreize für private Vorsorge könnten geeignete Instru­mente sein.

Schule, Wohnen und Pflege, drei Felder, auf denen der Libera­lismus sich eine neue, soziale Glaub­wür­digkeit erwerben kann. „Steuern runter“ als Slogan geht immer. Aber sind Steuer­sen­kungen wirklich das, was unsere tief verun­si­cherten westlichen Gesell­schaften derzeit brauchen? Wer in die Schulen hinein­schaut, der stellt fest, wo die eigent­lichen, die tiefer­lie­genden Probleme liegen. Ein zeitge­mäßer, inklu­siver Libera­lismus sollte sich viel stärker diesen Themen zuwenden. Dann gewinnt er seine Überzeu­gungs­kraft und das Vertrauen der Menschen zurück. Und dann kann er den Kühnerts, Habecks und Kippings dieser Republik die Stirn bieten.

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