Liberalismus muss heute vor allem eins sein: inklusiv
Politik muss den Menschen mit seinen Alltagsnöten wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nur ein inklusiver Liberalismus kann es mit dem Populismus von rechts und links aufnehmen.
Marktwirtschaft und freier Wettbewerb haben es derzeit wieder einmal schwer in Deutschland. „Deutsche Wohnen enteignen“, „Mieten deckeln“ und „BMW verstaatlichen“ sind nur ein paar Schlagworte der vergangenen Monate. Kevin Kühnert (SPD), Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und Katja Kipping (Die Linke) werden von Talkshow zu Talkshow gereicht, um dort ihre Utopien einer gerechteren, weil staatlich eingehegten Wirtschaftsordnung zu verkünden. Der Sündenbock für soziale Schieflagen jeglicher Art steht dabei schon vorher fest: Es ist der „Neoliberalismus“ (wahlweise auch als „Turbokapitalismus“ bezeichnet), der Ungerechtigkeit, prekäre Verhältnisse und ein immer stärkeres Gefälle zwischen Arm und Reich über die Gesellschaft habe hereinbrechen lassen. Das gelte es nun zu korrigieren – und da sei jetzt der Staat am Zug.
Woran liegt es, dass diese Hypothese, wonach das freie Spiel der Kräfte die Ursache allen Elends sei, inzwischen zum Gemeingut gehört?
Unbestritten hat der Liberalismus im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 einen immensen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten. Bis heute gelten die liberalen, marktorientierten Reformen der Neunziger- und frühen Nullerjahre – Deregulierung der Finanzmärkte, Steuersenkungen auf Unternehmensverkäufe, allgemeiner Rückzug des Staates – als Ursache für die Exzesse im Investmentbanking, den Zusammenbruch der Finanzmärkte und die Existenzkrise der Eurozone. Damit nicht genug, habe der sogenannte Neoliberalismus, so seine Kritiker, vor allem in den südlichen Regionen Europas für explodierende Jugendarbeitslosigkeit, hohe Staatsverschuldung sowie die Verarmung ganzer Landstriche gesorgt. Apostel wie Yanis Varoufakis, Thomas Piketty und Jeremy Corbyn bedienen geschickt dieses Narrativ, demzufolge Marktwirtschaft und Kapitalismus „die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer“ machten.
Wir stehen vor zunehmend gespaltenen Gesellschaften
Vor diesem Hintergrund ringen der politische Liberalismus und bürgerlich-liberale Parteien in ganz Europa um ihre strategische Positionierung. Dabei ist die Versuchung, angesichts sich eintrübender Konjunkturprognosen zum Bewährten zu greifen und doch wieder nach Steuersenkungen, Bürokratieabbau und „mehr Markt“ zu rufen, groß. Aber ist dieser Reflex noch zeitgemäß? Sicher, in den Neunzigerjahren, nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus, war „weniger Staat“ das Maß aller Dinge und Motor für den Umbau Mittel- und Osteuropas – mit nicht unerheblichen Wohlstandszuwächsen für zigmillionen Menschen. Heute aber, angesichts dramatisch gestiegener Komplexitäten und Fragilitäten in Ökonomie, Technologie und Gesellschaft, müssen nicht nur die Unternehmen – Stichwort purpose– , sondern auch die Parteien sich etwas Neues einfallen lassen.
Heute geht es zentral darum, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Wir stehen vor zunehmend gespaltenen Gesellschaften: Hier die vielfliegenden citizens of nowhere, die auf der Welle des Niedrigzinses surfen, zwischen diversen Wohnsitzen pendeln und die Globalisierung als Goldrausch erfahren. Dort die schlecht ausgebildeten, in ihren Existenzen gefangenen, um ihre Rente bangenden left behinds. Und während Erstere sich mit Politik möglicherweise gar nicht mehr aufhalten, laufen Letztere Gefahr, den billigen Lockrufen der Populisten und Neonationalisten auf den Leim zu gehen. Ein Politikansatz, der dies verhindern will, muss heute vor allem eins sein: inklusiv. Politik – auch liberale Politik – muss die Menschen mit ihren Alltagsnöten wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, und dabei auch eigene Einstellungen kritisch hinterfragen.
Bildung, Wohnen, Pflege: Wie könnte ein inklusiver Liberalismus aussehen?
Wie könnte ein inklusiver Liberalismus aussehen? Drei Beispiele: Bildung, Wohnen, Pflege. Beginnen wir mit der Schule: Natürlich ist es wichtig und legitim, dass besonders begabte Schülerinnen und Schüler sich – bei gleichen Ausgangsbedingungen für alle – so entfalten können, dass sie in ihren späteren Berufen kraftvoll durchstarten und damit auch einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Liberale Schulpolitik stand immer zur Elitenförderung und sollte das auch künftig tun. Ebenso wichtig ist es aber, denen, die weniger begabt sind, die aus minder begüterten, bildungsfernen Haushalten kommen, mindestens dasselbe Maß an Zuwendung und Förderung zukommen zu lassen wie den Überfliegern. Das gilt in besonderem Maße für Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen: Wer hier nicht mitgenommen wird, hat später keine Chance. Hinzu kommt die Herausforderung der Inklusion: Gerade das humanistische Menschenbild des Liberalismus verlangt es, im Maße des Möglichen auch Jungen und Mädchen mit erhöhtem Förder- oder Betreuungsbedarf einen Platz in der Mitte gewöhnlicher Schulklassen einzuräumen – natürlich unter Bereitstellung zusätzlichen Lehrpersonals.
Thema Wohnen: Das bürgerlich-liberale Mantra zur Wohnungsnot lautet: „Bauen, bauen, bauen“. Natürlich muss mehr gebaut werden. Ein bloßer Freifahrtschein für Investoren jedoch ist gerade nicht dazu geeignet, die soziale Hitze abzukochen, die sich in den urbanen Ballungsgebieten angestaut hat. Inklusiver Liberalismus muss vielmehr, neben Anreizen für eine erhöhte Bautätigkeit, stärker auch die berechtigten Anliegen der Mieter, zumal der geringverdienenden, in den Blick nehmen. Mietpreisbremsen haben zwar nichts mit Marktwirtschaft zu tun. Aber wenn behutsame ordnungspolitische Leitplanken geeignet sind, renditegetriebenen Exzessen am Wohnungsmarkt Einhalt zu gebieten und ein Stück Fairness wiederherzustellen, dann muss man sie auch als Liberaler nicht kategorisch ablehnen. Die „unsichtbare Hand“ allein wird die Wohnungsmärkte zumindest kurzfristig nicht in die Balance bringen.
Ein drittes Beispiel: Pflege. Mehr noch als die Rente, ist die Pflege unserer Älteren die zentrale soziale Frage unserer Zeit. Noch verdrängen wir dieses Thema oder verengen es auf die Frage eines angemessenen Verdienstes für Pflegerinnen und Pfleger. Derweil wird die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit über drei Millionen auf absehbar vier Millionen Menschen steigen. Haben wir die Heim- und Hospiz-Infrastruktur dafür? Sind Geringverdiener für den Pflegefall hinreichend abgesichert? Inklusiver Liberalismus bedeutet, sein Augenmerk nicht nur auf die hippen Start-ups zu richten, sondern die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu nehmen. Staatlich geförderter Pflegeheimbau und mehr Anreize für private Vorsorge könnten geeignete Instrumente sein.
Schule, Wohnen und Pflege, drei Felder, auf denen der Liberalismus sich eine neue, soziale Glaubwürdigkeit erwerben kann. „Steuern runter“ als Slogan geht immer. Aber sind Steuersenkungen wirklich das, was unsere tief verunsicherten westlichen Gesellschaften derzeit brauchen? Wer in die Schulen hineinschaut, der stellt fest, wo die eigentlichen, die tieferliegenden Probleme liegen. Ein zeitgemäßer, inklusiver Liberalismus sollte sich viel stärker diesen Themen zuwenden. Dann gewinnt er seine Überzeugungskraft und das Vertrauen der Menschen zurück. Und dann kann er den Kühnerts, Habecks und Kippings dieser Republik die Stirn bieten.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.