Thesen zur Krise und Erneue­rung der liberalen Demokratie

© Bundes­kanzler-Willy-Brandt-Stif­tun­g/­Jens Jeske

Von AfD über Wladimir Putin bis hin zu Donald Trump: Wir befinden uns in einer Phase der „demo­kra­ti­schen Rezession“. Wenn wir die liberale Demo­kratie wieder­be­leben wollen, dürfen wir Freiheit und Sicher­heit nicht gegen­ein­ander ausspielen. Wir müssen frei­heit­liche Antworten auf konser­va­tive Bedürf­nisse finden und den Fort­schritt als poli­ti­sche Kategorie wieder­ent­de­cken. Ein Thesenpapier.

  1. Der Siegeszug der liberalen Demo­kratie ist einst­weilen vorbei. Wir befinden uns in einer Phase der „demo­kra­ti­schen Rezession“. Sie trägt Züge einer anti­li­be­ralen Konter­re­vo­lu­tion – also einer Gegen­re­ak­tion auf die lange Welle der Libe­ra­li­sie­rung, die in den Sech­zi­ger­jahren einge­setzt und die west­li­chen Gesell­schaften wie die inter­na­tio­nale Landkarte drama­tisch verändert hat. Ob aus dieser Schub­um­kehr ein lang­fris­tiger Trend wird, ist noch nicht entschieden.
  2. Die liberalen Demo­kra­tien sehen sich einer doppelten Heraus­for­de­rung gegenüber: Von außen durch selbst­be­wusst auftre­tende auto­ri­täre Mächte, die sich als Gegen­spieler und Alter­na­tive zur offenen Gesell­schaft verstehen. Von innen durch anti­li­be­rale Gegen­strö­mungen, popu­lis­ti­sche Bewe­gungen und Parteien, deren gemein­samer Nenner die Abwehr von Einwan­de­rung, Globa­li­sie­rung und vertiefter euro­päi­scher Inte­gra­tion ist. Sie protes­tieren gegen die Auflösung der patri­ar­chalen Familie und die Gleich­stel­lung sexueller Minder­heiten, sie verbreiten Verschwö­rungs­theo­rien und ziehen eine scharfe Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“, Einhei­mi­schen und Auslän­dern, „Volk“ und „Eliten“.
  3. Außen­po­li­tisch verbindet sie in der Regel die Gegner­schaft zur trans­at­lan­ti­schen Allianz und die Sympathie für Putin-Russland. Moskau ist das neue Mekka der anti­li­be­ralen Inter­na­tio­nale – mit weit gespannten Netz­werken im Westen, von ganz rechts bis ganz links. Mit China ist dem Westen zudem ein neuer Typ von Gegen­spieler erwachsen: Peking kombi­niert auto­ri­täre Herr­schaft mit einer dyna­mi­schen, inno­va­tiven Ökonomie. Das chine­si­sche Regime steht für das Verspre­chen auf Wohlstand und Stabi­lität ohne Demo­kratie. Wir befinden uns in einer neuen System­kon­kur­renz. Sie wird macht­po­li­tisch, wirt­schaft­lich und auf dem Feld der Ideen, Werte und Infor­ma­tionen ausgetragen.
  4. Ein spezi­fi­sches (und alar­mie­rendes) Merkmal ist die poli­ti­sche Regres­sion, die in einer ganzen Reihe alter wie neuer Demo­kra­tien zu beob­achten ist. Die Wende zur „illi­be­ralen Demo­kratie“ (ein Euphe­mismus) hat die USA ebenso erfasst wie Italien, Polen und Ungarn; man findet sie in unter­schied­li­chen Ausprä­gungen auch in Israel und den Demo­kra­tien des globalen Südens (Phil­ip­pinen, Brasilien). Dabei mischt sich der Ruf nach dem „starken Mann“ mit dem Zorn auf die alten poli­ti­schen Eliten. Ein zentraler Grund für den Vertrau­ens­ver­lust in die liberale Ordnung ist der verbrei­tete Eindruck von Kontroll­ver­lust, insbe­son­dere mit Blick auf ökono­mi­sche Globa­li­sie­rung und Migration. Nicht von ungefähr lautete die zentrale Parole der Brexit-Kampagne „Let’s take back control“. Rechts- wie Links­po­pu­listen propa­gieren den Rückzug auf den Natio­nal­staat als Schutz­macht vor den Stürmen der Globa­li­sie­rung und Gehäuse sozialer Sicher­heit. Das ist ein ebenso trüge­ri­sches wie massen­wirk­sames Versprechen.
  5. Zwei Ereig­nisse haben als Brand­be­schleu­niger für die anti­li­be­rale Gegen­be­we­gung gewirkt: die Finanz­krise von 2008 und die große Flücht­lings­be­we­gung von 2015. Die Finanz­krise verschärfte noch eine zweite Ursache für den Vertrau­ens­ver­lust in die liberale Demo­kratie: die wachsende soziale Ungleich­heit und die Pola­ri­sie­rung zwischen Moder­ni­sie­rungs­ge­win­nern und ‑verlie­rern in den west­li­chen Gesell­schaften. Sie schlägt sich auch in den wach­senden sozi­al­räum­li­chen Diskre­panzen zwischen prospe­rie­renden Metro­polen und zurück­blei­bender Peri­pherie nieder (ein zentraler Faktor für die Gelb­westen-Bewegung in Frankreich).
  6. Wenn wachsende Unsi­cher­heit auf wachsende Ungleich­heit trifft, entsteht eine explosive Gemenge­lage. Moder­ni­sie­rungs­ver­lierer und Verän­de­rungs­ängst­liche finden sich in allen gesell­schaft­li­chen Schichten. Die Anfäl­lig­keit für anti­li­be­rale, popu­lis­ti­sche Politik ist deshalb nicht auf die sozial „Abge­hängten“ begrenzt, sondern zieht sich quer durch die gesell­schaft­li­chen Milieus. Sie hat sozio-ökono­mi­sche wie kultu­relle Gründe.
  7. Bei der Suche nach Erklä­rungen für die Krise der liberalen Demo­kratie stößt man auf ein histo­ri­sches Muster: Phasen beschleu­nigter Moder­ni­sie­rung waren immer auch Phasen poli­ti­scher Krisen. Das gilt insbe­son­dere für den Beginn des letzten Jahr­hun­derts. Das frühe 20. Jahr­hun­dert war ebenfalls eine Periode beschleu­nigter tech­no­lo­gi­scher und kultu­reller Umbrüche und welt­wirt­schaft­li­cher Inte­gra­tion, verschärft durch die Verhee­rungen des ersten Welt­kriegs. Schon lange vor der Welt­wirt­schafts­krise von 1929 entwi­ckelten sich starke geistige und poli­ti­sche Gegen­be­we­gungen zum Libe­ra­lismus. Ihr zuge­spitzter Ausdruck waren Faschismus und Kommu­nismus als tota­li­täre Gemein­schafts­ideo­lo­gien. Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck („Das dritte Reich“), Oswald Spengler, Ernst Jünger und Carl Schmitt hatten enormen Einfluss auf das Denken ihrer Zeit. Die neue Rechte von heute ist nur ein Wieder­gänger dieser geistigen Vorläufer.
  8. Moderne bedeutet perma­nente Verän­de­rung. Nichts bleibt, wie es ist. Sie geht einher mit der Auflösung tradi­tio­neller Bindungen, Gemein­schaften und Sicher­heiten. Dieser Prozess beschleu­nigt sich sei 1990. Seine Treiber sind Globa­li­sie­rung, digitale Revo­lu­tion, globale Migration und die Umwälzung der Geschlech­ter­ver­hält­nisse. Ein Teil unserer Gesell­schaft reagiert auf diese Umbrüche mit Verun­si­che­rung und Angst. Diese Angst ist der mentale Boden für natio­na­lis­ti­sche und auto­ri­täre Gegenbewegungen.
  9. Wer den Gegnern der liberalen Demo­kratie die Schwung­masse entziehen will, muss frei­heit­liche Antworten auf konser­va­tive Grund­be­dürf­nisse finden: Sicher­heit, Zuge­hö­rig­keit, Stabi­lität und Konti­nuität der gesell­schaft­li­chen Struk­turen wie des eigenen Lebens. Demo­kra­tien müssen ange­sichts funda­men­taler Verän­de­rungen, die das bisherige ökono­mi­sche und soziale Gefüge in Frage stellen, ihre Fähigkeit beweisen, diese Prozesse zu steuern, statt ihnen ausge­lie­fert zu sein. Das gilt für die globalen Finanz­märkte wie für den Klima­wandel, aber auch für Flucht und Migration. Das Gerede von der „Alter­na­tiv­lo­sig­keit“ poli­ti­scher Entschei­dungen und die Redu­zie­rung von Regie­rungs­han­deln auf die bloße Anpassung an vermeint­liche Sach­zwänge unter­gräbt die Demo­kratie. Demo­kra­ti­sche Politik dreht sich immer um Alter­na­tiven, um wider­strei­tende Werte und Ziele. Demo­kratie ist das Verspre­chen auf indi­vi­du­elle Selbst­be­stim­mung und gemein­same Gestal­tung der öffent­li­chen Angelegenheiten.
  10. Wenn die These zutrifft, dass wir es mit einem Gemisch aus Zukunfts­pes­si­mismus, Verun­si­che­rung, Abstiegs­ängsten und Ohnmachts­ge­fühlen zu tun haben, dann liegt eine zentrale Heraus­for­de­rung für liberale Demo­kra­tien darin, „Sicher­heit im Wandel“ zu gewähr­leisten. Nicht durch Abschot­tung, durch Zäune gegen Migranten und Zölle gegen inter­na­tio­nale Konkur­renz, sondern durch eine Stärkung der Resilienz offener Gesell­schaften gegenüber funda­men­talen Verän­de­rungen. Resilienz bedeutet eine Kombi­na­tion aus Wider­stands­kraft, Anpas­sungs­fä­hig­keit und Innovationsfähigkeit.
  11. Wir dürfen Freiheit und Sicher­heit nicht gegen­ein­ander ausspielen. Gelebte Freiheit erfordert ein Mindestmaß an Sicher­heit: Rechts­si­cher­heit, soziale Sicher­heit, Sicher­heit im öffent­li­chen Raum. Die „Freiheit von Furcht“ ist die Mutter aller Frei­heiten. „Sicher­heit im Wandel“ erfordert die Befä­hi­gung jedes Einzelnen, mit sozialen, tech­ni­schen und kultu­rellen Verän­de­rungen Schritt zu halten. Bildung und Weiter­bil­dung (lebens­langes Lernen) spielen dafür eine Schlüs­sel­rolle. Außerdem neue Formen sozialer Teilhabe, etwa die Betei­li­gung breiter Schichten am Produk­tiv­ver­mögen (Eigentum für alle), eine aktive Bürger­ge­sell­schaft (gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt kann nicht allein durch den Staat gewähr­leistet werden), flexible Übergänge zwischen kommer­zi­eller und gemein­nüt­ziger Tätigkeit (Sabba­ti­cals, Bürger­ar­beit) und starke öffent­liche Insti­tu­tionen als Stabi­li­täts­anker in Zeiten stür­mi­scher Verän­de­rung. Schulen, Theater, Museen und öffent­liche Verkehrs­mittel sind repu­bli­ka­ni­sche Insti­tu­tionen, die Zuge­hö­rig­keit und Gemein­sam­keit vermitteln.
  12. Wer die Demo­kratie stärken will, muss die kommunale Selbst­ver­wal­tung, also die poli­ti­schen Entschei­dungs­kom­pe­tenzen und finan­zi­ellen Hand­lungs­mög­lich­keiten vor Ort, stärken. Vor dem Hinter­grund von Globa­li­sie­rung und euro­päi­scher Inte­gra­tion wächst die Bedeutung der Kommunen als Zentrum demo­kra­ti­scher Betei­li­gung. Wir müssen Demo­kratie im 21. Jahr­hun­dert als „Mehre­benen-Demo­kratie“ denken.
  13. Wider die Verzagt­heit: Wir müssen die Zuver­sicht zurück­ge­winnen, dass wir die großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit erfolg­reich bewäl­tigen können, vom Klima­wandel und der digitalen Revo­lu­tion bis hin zur tief­grei­fenden demo­gra­phi­schen Verän­de­rung unserer Gesell­schaft. Dazu gehört die Wieder­ent­de­ckung des Fort­schritts als poli­ti­sche Kategorie: Was ist unsere Fort­schritts­er­zäh­lung für die kommenden Jahr­zehnte? Wir können und müssen darauf bauen, dass die liberale Demo­kratie auch in Zukunft die bessere Alter­na­tive zu allen auto­ri­tären Regie­rungs­formen ist, weil sie das größte Maß an Freiheit und Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit bietet.

Ralf Fücks präsen­tierte dieses Thesen­pa­pier beim Willy-Brandt-Gespräch 2019 der Bundes­kanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Das Thema des Abends lautete: „Demo­kratie in der Defensive – Gehört den Auto­kra­tien und Dikta­turen die Zukunft?“ Sehen Sie hier den einfüh­renden Vortrag von Ralf Fücks sowie die anschlie­ßende Diskus­sion mit Rolf Mützenich (MdB, SPD), Sevim Dagdelen (MdB, Die Linke) und Nadine Godehardt (Stiftung Wissen­schaft und Politik):

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