Russlands Fehlstart in die Freiheit (2/3)
WM-Dossier“ Russland verstehen“: Als die Sowjetunion zerfällt, reisen westliche Verfassungsrechtler nach Moskau und helfen bei der Formulierung einer demokratischen Verfassung. Leider steht sie nur auf dem Papier. Russland ist heute alles mögliche, nur kein demokratischer Rechtsstaat.
Die Gründung jedes Rechtsstaates beginnt mit einem Stück Papier. Dass Russland heute vieles ist – Autokratie, Oligarchie und kriminelles Schattenreich – aber weder Rechtsstaat noch Demokratie, liegt nicht am Inhalt der Verfassung, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion am 12. Dezember 1993 durch eine Volksabstimmung angenommen wurde. Es liegt vielmehr am Unvermögen oder am Unwillen der Politiker, sie zu verstehen.
Unter Putin verkümmerten Parlament und Parteien, während das staatliche Fernsehen zum wichtigsten Regierungsinstrument wurde.
Während der Ausarbeitung der Verfassung setzte das Lager um Präsident Boris Jelzin auf eine starke Exekutive, um schnell die Marktwirtschaft einzuführen. Die gegnerischen Kräfte um Parlamentspräsident Chasbulatow verstanden sich keineswegs als überzeugte Parlamentarier, pochten jedoch auf den Einfluss des Parlaments, um die Macht des Übergangsparlaments unter allen Umständen zu bewahren. Nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Oktober 1993 wurde die Verfassung fertig gestellt. Auch westliche Experten, darunter Staatsrechtslehrer aus Deutschland, hatten an ihr mitgewirkt.
Eine semi-präsidentielle Verfassung sollte den Übergang erleichtern
Die Verfassung war eine Kopie des Modells der Fünften Französischen Republik. Die Erwartung war, dass die semi-präsidentielle Ordnung – wie einst in Frankreich unter Charles de Gaulle nach dem Militärputsch 1958 – die instabilen Verhältnisse rasch konsolidieren könnte. So weit die Theorie.
Obwohl der demokratische Charakter der Verfassung über jeden Zweifel erhaben ist – sie enthält alle Elemente einer freiheitlich demokratischen Grundordnung und anerkennt den politischen Pluralismus und das Mehrparteiensystem ausdrücklich – setzte sich fatalerweise die irrige Auffassung durch, Russland sei ein Präsidialsystem. Zwar stattet die Verfassung den Präsidenten tatsächlich mit sehr weit reichenden Vollmachten aus. Die checks and balances, darunter ein unabhängiges Parteiensystem, das die Macht des Präsidenten einhegt, übersieht man jedoch.
Von Anfang an grassiert ein Antiparteienaffekt. Viele Russen befürchten, dass eine neue Regierungspartei früher oder später der KPdSU ähnelt. Doch ohne sichtbare Übernahme von Regierungsverantwortung verkümmern die Parteien zu einem schwebenden Parteiensystem ohne partizipativen Unterbau. An Präsidialkabinetten, die in parlamentarischen Demokratien immer die Ausnahme sind, stört sich in Russland bis heute niemand.
Technokraten und Oligarchen geben anstelle der Parteien den Ton an
Der Grund ist, dass gleich nach der ersten Wahl 1993 die Parteien von der politischen Macht abgeschnitten worden sind. Das Parlament dominierten Kommunisten und Nationalisten, die demokratischen Parteien waren hingegen in der Minderheit. Ohne Aussicht auf eine demokratische Mehrheit in der Duma bildete Präsident Jelzin deshalb ein Präsidialkabinett aus Technokraten und Ökonomen – ein Modell, das Schule machen sollte. Noch heute, da Putin über eine Dreiviertelmehrheit in der Duma verfügt, macht er sich nicht die Mühe, Vertreter der förmlich „regierenden Partei“ „Einiges Russland“ in sein Kabinett zu holen.
Anstelle der Parteien etablieren sich informelle oligarchische Cliquen, die im geheimen einen politischen Interessenabtausch suchen und ein technokratischer Apparat, der die Staatsgeschäfte führt. In der Bevölkerung hat ein technokratisches Politikverständnis Hochkonjunktur – wie schon zur Zeit der Sowjetunion. Als ideale Politiker gelten Verwaltungsspezialisten, im Russischen Professionaly genannt. Als Jelzin etwa im März 1998 den langjährigen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin entlässt, gibt er bekannt, dass sich Kabinettsmitglieder in Zukunft weniger um Politik und mehr um die Lösung konkreter Probleme konzentrieren müssten. Als Nachfolger propagiert Jelzin den jungen Sergej Kirienko und lobt ihn als „Verwaltungsspezialisten“, der keine Beziehungen zu Parteien pflege, was Kirienko öffentlich bestätigt: „Die Regierung muss aus Fachleuten bestehen und darf nicht nach dem Parteiprinzip gebildet werden.“
Während Russland unter Jelzin immerhin eine defekte Demokratie war und der Zivilgesellschaft Luft zum Atmen ließ, nahm unter Putin die Repression durch Sicherheitsorgane und Justiz zu. Parlament und Parteien verkümmerten, während das staatliche Fernsehen zum wichtigsten Regierungsinstrument aufgebaut und das Land in einen nationalen Rauschzustand versetzt wurde.
Im nächsten Beitrag erklärt Margareta Mommsen, wie das marode Russland eine verheißungsvolle Erzählung für die Zukunft sucht . Von ihr erschien im Verlag C.H. Beck „Das Putin Syndikat – Russland im Griff der Geheimdienstler“ (2017).
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