Russlands Fehlstart in die Freiheit (2/​3)

Quelle: Farhad Sadykov /​ Flickr

WM-Dossier“ Russ­land ver­ste­hen“: Als die Sowjet­union zerfällt, reisen westliche Verfas­sungs­rechtler nach Moskau und helfen bei der Formu­lie­rung einer demo­kra­ti­schen Verfas­sung. Leider steht sie nur auf dem Papier. Russland ist heute alles mögliche, nur kein demo­kra­ti­scher Rechtsstaat.

Die Gründung jedes Rechts­staates beginnt mit einem Stück Papier. Dass Russland heute vieles ist – Auto­kratie, Olig­ar­chie und krimi­nelles Schat­ten­reich – aber weder Rechts­staat noch Demo­kratie, liegt nicht am Inhalt der Verfas­sung, die nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union am 12. Dezember 1993 durch eine Volks­ab­stim­mung ange­nommen wurde. Es liegt vielmehr am Unver­mögen oder am Unwillen der Politiker, sie zu verstehen.

Unter Putin verküm­merten Parlament und Parteien, während das staat­liche Fernsehen zum wich­tigsten Regie­rungs­in­stru­ment wurde. 

Während der Ausar­bei­tung der Verfas­sung setzte das Lager um Präsident Boris Jelzin auf eine starke Exekutive, um schnell die Markt­wirt­schaft einzu­führen. Die gegne­ri­schen Kräfte um Parla­ments­prä­si­dent Chas­bu­latow verstanden sich keines­wegs als über­zeugte Parla­men­ta­rier, pochten jedoch auf den Einfluss des Parla­ments, um die Macht des Über­gangs­par­la­ments unter allen Umständen zu bewahren. Nach den gewalt­samen Ausein­an­der­set­zungen im Oktober 1993 wurde die Verfas­sung fertig gestellt. Auch westliche Experten, darunter Staats­rechts­lehrer aus Deutsch­land, hatten an ihr mitgewirkt.

Eine semi-präsi­den­ti­elle Verfas­sung sollte den Übergang erleichtern

Die Verfas­sung war eine Kopie des Modells der Fünften Fran­zö­si­schen Republik. Die Erwartung war, dass die semi-präsi­den­ti­elle Ordnung – wie einst in Frank­reich unter Charles de Gaulle nach dem Mili­tär­putsch 1958 – die insta­bilen Verhält­nisse rasch konso­li­dieren könnte. So weit die Theorie. 

Portrait von Margareta Mommsen

Margareta Mommsen ist emeri­tierte Profes­sorin für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Ludwig-Maxi­mi­lians-Univer­sität München

Obwohl der demo­kra­ti­sche Charakter der Verfas­sung über jeden Zweifel erhaben ist – sie enthält alle Elemente einer frei­heit­lich demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung und anerkennt den poli­ti­schen Plura­lismus und das Mehr­par­tei­en­system ausdrück­lich – setzte sich fata­ler­weise die irrige Auffas­sung durch, Russland sei ein Präsi­di­al­system. Zwar stattet die Verfas­sung den Präsi­denten tatsäch­lich mit sehr weit reichenden Voll­machten aus. Die checks and balances, darunter ein unab­hän­giges Partei­en­system, das die Macht des Präsi­denten einhegt, übersieht man jedoch.

Von Anfang an grassiert ein Anti­par­tei­en­af­fekt. Viele Russen befürchten, dass eine neue Regie­rungs­partei früher oder später der KPdSU ähnelt. Doch ohne sichtbare Übernahme von Regie­rungs­ver­ant­wor­tung verküm­mern die Parteien zu einem schwe­benden Partei­en­system ohne parti­zi­pa­tiven Unterbau. An Präsi­di­al­ka­bi­netten, die in parla­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien immer die Ausnahme sind, stört sich in Russland bis heute niemand. 

Tech­no­kraten und Olig­ar­chen geben anstelle der Parteien den Ton an

Der Grund ist, dass gleich nach der ersten Wahl 1993 die Parteien von der poli­ti­schen Macht abge­schnitten worden sind. Das Parlament domi­nierten Kommu­nisten und Natio­na­listen, die demo­kra­ti­schen Parteien waren hingegen in der Minder­heit. Ohne Aussicht auf eine demo­kra­ti­sche Mehrheit in der Duma bildete Präsident Jelzin deshalb ein Präsi­di­al­ka­bi­nett aus Tech­no­kraten und Ökonomen – ein Modell, das Schule machen sollte. Noch heute, da Putin über eine Drei­vier­tel­mehr­heit in der Duma verfügt, macht er sich nicht die Mühe, Vertreter der förmlich „regie­renden Partei“ „Einiges Russland“ in sein Kabinett zu holen.

Anstelle der Parteien etablieren sich infor­melle olig­ar­chi­sche Cliquen, die im geheimen einen poli­ti­schen Inter­es­sen­ab­tausch suchen und ein tech­no­kra­ti­scher Apparat, der die Staats­ge­schäfte führt. In der Bevöl­ke­rung hat ein tech­no­kra­ti­sches Poli­tik­ver­ständnis Hoch­kon­junktur – wie schon zur Zeit der Sowjet­union. Als ideale Politiker gelten Verwal­tungs­spe­zia­listen, im Russi­schen Profes­sionaly genannt. Als Jelzin etwa im März 1998 den lang­jäh­rigen Minis­ter­prä­si­denten Viktor Tscher­no­myrdin entlässt, gibt er bekannt, dass sich Kabi­netts­mit­glieder in Zukunft weniger um Politik und mehr um die Lösung konkreter Probleme konzen­trieren müssten. Als Nach­folger propa­giert Jelzin den jungen Sergej Kirienko und lobt ihn als „Verwal­tungs­spe­zia­listen“, der keine Bezie­hungen zu Parteien pflege, was Kirienko öffent­lich bestätigt: „Die Regierung muss aus Fach­leuten bestehen und darf nicht nach dem Partei­prinzip gebildet werden.“

Während Russland unter Jelzin immerhin eine defekte Demo­kratie war und der Zivil­ge­sell­schaft Luft zum Atmen ließ, nahm unter Putin die Repres­sion durch Sicher­heits­or­gane und Justiz zu. Parlament und Parteien verküm­merten, während das staat­liche Fernsehen zum wich­tigsten Regie­rungs­in­stru­ment aufgebaut und das Land in einen natio­nalen Rausch­zu­stand versetzt wurde.

Im nächs­ten Beitrag erklärt Mar­ga­reta Mommsen, wie das marode Russland eine verhei­ßungs­volle Erzählung für die Zukunft sucht . Von ihr erschien im Verlag C.H. Beck „Das Putin Syn­di­kat – Russ­land im Griff der Geheim­dienst­ler“ (2017).

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