Die Große Mauer in den Köpfen

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Fake-Experten und Secondhand-Wissen: Im dritten Teil unserer China-Debatte plädiert unsere Autorin dafür, die Maßstäbe, die wir an USA-Experten anlegen, endlich auch auf China anzuwenden. Nur mit fundiertem Wissen über das Reich der Mitte sei es möglich, das Land in ein Ordnungs­system einzu­binden, in dem sich freiheitlich-demokra­tische Werte vertei­digen lassen.

Jüngst fragten die Journa­listin Didi Kirsten Tatlow und der Direktor des Berliner Thinktanks GPPi, Thorsten Benner, in Artikeln auf LibMod nach der Rolle der Sinologie in der deutschen Politik. Tatlow kam – stark verein­facht – zu dem Schluss, dass die politi­schen Berater­zirkel in Deutschland von “Spätorientalist*innen” dominiert würden: Sinolog*innen, die einen roman­ti­sie­renden und relati­vie­renden Blick auf China hätten und Macht­fragen, die mit der Existenz der Kommu­nis­ti­schen Partei (KP) zu tun haben, ausklam­merten. Benner erwiderte, dass es solche „Spätorientalist*innen“ zwar gebe, Tatlow ihre Rolle aber überschätze. Im Gegenteil, so Benner, die deutsche Politik habe in den vergan­genen Jahren, auch aufgrund kriti­scher Stimmen aus der Sinologie, zu einer realis­ti­scheren Haltung gegenüber China gefunden. Von Roman­ti­zismus könne heute nicht mehr die Rede sein. 

Portrait von Marina Rudyak

Marina Rudyak ist Sinologin und entwick­lungs­po­li­tische Beraterin.

So begrü­ßenswert jede China-Debatte ist: Wir brauchen wirklich keinen Streit über die Rolle von Sinolog*innen. Und schon gar keinen Streit unter Sinolog*innen. Was wir brauchen, ist mehr China-Kompetenz.

China stellt uns vor eine noch nie dagewesene Heraus­for­derung: Einer­seits müssen wir einen Weg finden, mit einer Partei umzugehen, die freiheitlich-demokra­tische Normen in Frage stellt. Anderer­seits haben 17 der 18 wärmsten Jahre seit Beginn der modernen Aufzeich­nungen nach 2001 statt­ge­funden. Obwohl die Weltwirt­schaft wächst, leiden immer noch 850 Millionen Menschen unter Hunger, fast eine Milliarde Menschen lebt in Armut. Viele von ihnen, Kinder vor allem, sterben an leicht vermeid­baren Krank­heiten. Kurz: Auch wenn wir mit dem chine­si­schen Staat in einer syste­mi­schen Konkurrenz stehen, sind Fragen der globalen Ungleichheit und des Klima­wandels ohne China nicht zu lösen.

Analpha­beten gelten als Experten

Wie soll dieser Spagat gelingen, ohne die Werte der liberalen Demokratie preis­zu­geben? Meine Antwort: durch Infor­miertheit. Es gibt eine massive Asymmetrie des Wissens. China kennt uns, aber wir kennen China nicht. Wie viele Mitarbeiter*innen eines deutschen Unter­nehmens in China sprechen Chine­sisch? Und wie viele der Diplomat*innen an der deutschen Botschaft in Peking? Wahrscheinlich wenige. Und anders­herum? An der chine­si­schen Botschaft in Berlin ist es eher die Ausnahme, wenn jemand kein Deutsch spricht.

Thorsten Benner schreibt in seinem Artikel, dass China zu allge­gen­wärtig sei, um es den Sinolog*innen zu überlassen – schließlich hätten Amerikanist*innen auch kein Vorrecht auf die Gestaltung der deutschen US-Politik. Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Man sollte aller­dings auch erwähnen, dass wir hohe Anfor­de­rungen an Amerika-Expert*innen stellen. Wer nicht mindestens gutes Englisch spricht, wird es schwer haben, als Expert*in wahrge­nommen zu werden. Für China gelten diese Maßstäbe nicht. Ganz im Gegenteil, hier können Menschen, die auf Chine­sisch Analpha­beten sind, als “Expert*innen” gelten.

Es ist ein Fakt, dass nach wie vor nur ein Bruchteil derje­nigen, die zum gegen­wär­tigen China schreiben und forschen, Chine­sisch spricht. Die Mehrheit greift auf Überset­zungen oder Sekun­där­quellen zurück. Das führt zu verzerrten Bildern, wie sich derzeit vielleicht am promi­nen­testen am Beispiel des Sozial­kre­dit­systems zeigt. Das Gros der Bericht­erstattung zeichnet „Was-sein-könnte“-Szenarien, die mehr mit der briti­schen Science-Fiction-Serie „Black Mirror“ und weniger mit der Wirklichkeit zu tun haben. Wer sich ein realis­ti­scheres Bild des Sozial­kre­dit­systems machen möchte, dem sei an dieser Stelle die Webseite „China Law Translate“ empfohlen, ein Blog von Jeremy Daum, einem Chine­sisch sprechenden Experten der Yale Law School, der nicht müde wird, auf die Übertrei­bungen, Missver­ständ­nisse und Verwechs­lungen in den Medien hinzuweisen.

Der General­ver­dacht der Parteinähe passt nicht zu einer offenen Gesellschaft

Infor­miertheit gelingt aber nur, wenn deutsche Expert*innen mit allen in China reden können, egal ob Dissident*in oder Partei­mit­glied. Dazu gehören einer­seits Zugänge. Wie viel wir über China wissen, hängt also auch von der KP ab: Wenn gewisse gesell­schaft­liche Akteur*innen, etwa Parteikritiker*innen, nicht mit deutschen Expert*innen sprechen, weil sie um ihren Job oder gar ihre Sicherheit fürchten, führt das zwangs­läufig zu Verzer­rungen. Bislang nimmt China diese Zerrbilder meist hin – ohne Rücksicht auf Image- oder Soft-Power-Schäden.

Dazu gehört anderer­seits aber auch, dass deutschen Expert*innen nicht gleich KP-Nähe unter­stellt wird, wenn sie sich mit Partei­mit­gliedern austau­schen. Der General­ver­dacht der Parteinähe steht nicht nur dem Ziel der Infor­miertheit entgegen, er wider­spricht auch den Prinzipien einer offenen Gesell­schaft. Denn natürlich brauchen wir auch “KP-Versteher*innen“, also Expert*innen, die wissen, was innerhalb der KP passiert und was die unter­schied­lichen Strömungen bewegt. Hier geht es um mehr als nur Erkennt­nis­gewinn: Auch in der monoli­thisch anmutenden KP gibt es progressive, liberal gesinnte Kräfte, die in der Partei sind, weil eine Mitglied­schaft die einzige Möglichkeit ist, etwas zu bewegen.

Vielleicht bringe ich als jemand, der in der Sowjet­union geboren wurde, hier eine etwas andere Perspektive mit: Mein Großvater war Archivar am Zentral­archiv der KPdSU, im Herzen Sozial­de­mokrat, aber dem Parteibuch nach KP-Mitglied. Er hatte viel mit Historiker*innen in der BRD und Holland zu tun. Er tat, was er konnte, um diesen Kolleg*innen im Westen zu helfen, an sowje­ti­sches Archiv­ma­terial zu gelangen – während die KPdSU gleich­zeitig versuchte, ihn für Infor­ma­ti­ons­gewinn über den Westen zu instru­men­ta­li­sieren. Wahrscheinlich gibt es in China viele solcher Menschen. Mit ihnen zusam­men­zu­ar­beiten, hilft der Zukunft eines (hoffentlich irgendwann) libera­leren Chinas. Eine auf ganzer Linie ableh­nende China-Debatte bringt auch die progres­siven und liberal gesinnten Kräfte in China gegen Deutschland und Europa auf.

Die AIIB: Nur eine langweilige Bank – und kein Werkzeug zur Welteroberung

Um gemeinsame globale Heraus­for­de­rungen zu meistern, müssen wir wissen, wo es mit China Schnitt­mengen gibt – um das Land dann in ein Ordnungs­system einzu­binden, in dem wir freiheitlich-demokra­tische Werte leben und vertei­digen. Wie soll das gehen, ist an dieser Stelle eine typische Frage: Feilt China nicht gerade an seinem eigenen Ordnungs­system? Die von China initi­ierten Entwick­lungs­banken Asiatische Infra­struk­tur­in­vest­mentbank (AIIB) und Neue Entwick­lungsbank (NDB) werden etwa oft als der chine­sische Gegen­entwurf zu den Bretton-Woods-Insti­tu­tionen angeführt.

Fakt ist aber, dass China, wie übrigens auch andere Schwel­len­länder, über eine lange Zeit hinweg versuchte, auf eine Reform der inter­na­tio­nalen Insti­tu­tionen hinzu­wirken, die die Verän­de­rungen im globalen Wirtschafts­gefüge wider­spiegelt. Die 2008 beschlossene Reform der Stimm­rechte im Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds (IFW) schei­terte bis 2015 an einem Veto des US-Kongresses.

Dass Deutschland jedoch 2016 der AIIB beitrat, ermög­lichte es von Anfang an, Einfluss auf die Gestaltung der Bank zu nehmen. Eine der Beitritts­be­din­gungen war es, die AIIB auf der Basis von inter­na­tio­nalen Standards operieren zu lassen. Auch die NDB, zu deren Mitgliedern nur die BRICS-Länder zählen, arbeitet mit inter­na­tio­nalen Standards. Von einem chine­si­schen Ordnungs­system lässt sich bei diesen Insti­tu­tionen also nicht sprechen. Erst recht nicht, da die chine­si­schen Mitarbeiter*innen dieser Banken ausschließlich aus multi­la­te­ralen Insti­tu­tionen rekru­tiert wurden, etwa der Weltbank, dem IWF oder der Asiati­schen Entwick­lungsbank (ADB). In der AIIB stammen die Mitarbeiter*innen im mittleren Management sogar fast ausschließlich aus der Europäi­schen Union, das war die Voraus­setzung für ein AAA-Rating. Wer mit ihnen spricht, hört sie von einer langwei­ligen Bank reden – und nicht von einem chine­si­schen Werkzeug zur Welteroberung.

Gerade in der Entwick­lungs­po­litik zeigt sich der Wert der syste­mi­schen Einbindung: Während chine­sische Entwick­lungs­banken wie die China Develo­pment Bank, die China Exim-Bank und der Seiden­straßen-Fonds nach chine­si­schen Standards operieren, agieren von China initi­ierte, aber multi­la­terale Entwick­lungs­banken nach inter­na­tio­nalen Standards. Unser Ziel sollte also sein, China so weit wie möglich in ein inter­na­tio­nales Ordnungs­system einzu­binden, um ein Abdriften in den Illibe­ra­lismus zu verhindern. Um diese Koope­ration zu gestalten, braucht es aller­dings Infor­miertheit und eine kritische, aber diffe­ren­zierte China-Debatte.

Textende

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