Phantom Volk
Leon Billerbecks Untersuchung „(Un)erwartete Konvergenzen in der Ideologie von Links- und Rechtspopulist/innen“ zeigt anhand des Europäischen Parlaments beunruhigende Schnittmengen – und schürft dennoch nicht tief genug.
Seit den letzten Europawahlen vom Mai 2019 existiert im Straßburger Parlament erstmals eine geeinte Fraktion rechtspopulistischer Parteien. Zuvor verteilt auf diverse andere Fraktionen, bilden nun insgesamt 76 Abgeordnete u.a. aus AfD und FPÖ, aus Marine le Pens Rassemblement National und Matteo Salvinis Lega einen gemeinsamen Block. In ihrer ostentativ vorgetragenen EU-Skepsis – präziser wäre wohl von Feindschaft zu sprechen – fordert diese Fraktion „Identität und Demokratie“(ID) geradezu einen Vergleich heraus mit der linkspopulistischen „Die Linke“ (GUE/NGL), die aus ihrer Ablehnung von EU-Strukturen ebenfalls kein Hehl macht. Freilich zählt diese Fraktion aus Mitgliedern der griechischen Syriza, den tschechischen Kommunisten, „La France insoumise“, den italienischen Fünf Sternen und der deutschen Linken gerade einmal 39 Mitglieder und ist damit die derzeit kleinste im EU-Parlament. Sind Rechts- und Linkspopulismus also tatsächlich gleichermaßen starke Bedrohungen für den Zusammenhalt der Union?
Hufeisentheorie unzureichend
Der junge Politikwissenschaftler Leon Billerbeck geht in seiner Studie „(Un)erwartete Konvergenzen in der Ideologie von Links- und Rechtspopulist/innen“ am Beispiel des Europäischen Parlaments genau dieser Frage nach, verweigert sich jedoch voreiligen Gleichsetzungen. So wirft er der sogenannten „Hufeisentheorie“ („les extrêmes se touchent“) nicht zu Unrecht vor, in ihrer Parallelisierung von Rechts- und Linksextremismus eine Verharmlosung des Ersteren zu betreiben. Gleiches gelte für das quasi etwas „weichere“ Vorfeld des Populismus, wobei jedoch „die Überschneidungen nicht in quantitativer, allerdings in qualitativer Form nicht zu übersehen sind“. Und dennoch bis heute nicht nur in der akademischen Forschung eher ignoriert werden. Mit Seitenblick auf die linke französische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, deren auf Carl Schmitt rekurrierende Aktivisten-Pamphlete nicht nur von Oskar Lafontaine geschätzt werden, schreibt Billerbeck: „Dies kann vielleicht auch mit dem vorherrschenden Diskurs der akademischen Linken zusammenhängen, welche Populismus als Agitationsmittel betrachtet, das den demokratischen Diskurs explizit stärken kann, wohingegen rechter Populismus einhellig als antidemokratisch verurteilt wird.“
„Das Volk“ gegen Mutlikulti oder gegen Neoliberalismus?
Dabei sind sich ID und GUE/NGL nicht nur in ihrer Ablehnung von Freihandel und Globalisierung durchaus ähnlich, sondern bedienen auch nahezu identische Erklärungsmuster: „Die“ vermeintlich abgehobene EU als denkbar schlechter Sachverwalter der Interessen „der“ europäischen Völker. Während die Rechte dann jedoch homogenisiert und das Phantasma einer quasi in sich geschlossenen und durch Globalisierung und Migration bedrohten „christlichen Völker-Identität“ verbreitet, finden sich in den antikapitalistischen Wortbeiträgen der Links-Fraktion keine völkisch-rassistischen Stereotype – gewiss ein alles andere als zu vernachlässigender Unterschied zwischen den zwei Fraktionen. Und doch bauen beide den gleichen Popanz auf: „Das“ Volk als quasi reine und moralisch höherwertige Größe, das von „den“ EU-Bürokraten gegängelt und verraten werde – entweder im Namen des Multikulturalismus oder des Neoliberalismus. Da beider Rhetorik von den seit jeher divergierenden Interessen innerhalb der Bevölkerung abstrahiert, kann also hier durchaus von einem gemeinsamen Angriff auf den Pluralismus gesprochen werden – auch und gerade dann, wenn sich sowohl Links- wie Rechtspopulisten lautstark auf die Demokratie berufen, die angeblich gerade wieder einmal „ausgehebelt“ werde. „Auch linkspopulistische Parteien und Bewegungen definieren das Volk kulturell und betreiben damit eine Form des Otherings... Beide Fraktionen vertreten den Standpunkt, die EU-Eliten hätten eine eigene ideologische Agenda, welche derjenigen des jeweils konstruierten Volkes widerspreche.“
Tiefere Analyse wäre nötig
Die von Billerbeck gesammelten und analysierten 1087 Wortbeiträge der beiden Populisten-Fraktionen verhallen dabei keineswegs im Straßburger Plenarsaal, sondern sind das Echo – und mitunter auch die Vorgabe – der Verlautbarungen in den einzelnen Herkunftsländern, in denen die Verdachts-Rhetorik gegen die Europäische Union ja zuvörderst eifrig geschürt wird. Gerade deshalb aber wäre es angebracht gewesen, noch tiefer zu bohren. Die rechts und links wiederkehrenden Klagen über die (vorgebliche oder tatsächliche) Dominanz von Groß-Unternehmen, die mittelständische Strukturen zerstören, verlieren ja nicht allein dadurch an Relevanz, indem sie mit dem Label „Populismus“ versehen werden. Zumindest an ausgewählten Einzelbeispielen hätte deshalb der Autor zeigen können, was etwa Anträge und Reden der linken GUE/NGL von vergleichbaren Positionen der Sozialdemokraten oder Grünen unterscheidet, wo (und ob) das immer ausgefeiltere EU-Kartellrecht die Erzählung von den vermeintlich übermächtigen Multis obsolet macht – oder auch nicht.
Zudem wäre auch eine genauere Kenntnis der Partei-Ursprünge der in der GUE/NGL Versammelten vonnöten gewesen. Denn Nein: Weder die tschechischen Kommunisten noch die deutsche Linke entstammen „Blockparteien“, wie der Verfasser irrigerweise schreibt, sondern sind die ehemals in der CSSR und in der DDR herrschenden Staatsparteien. Ein verzeihlicher Lapsus? Mag sein, aber da Leon Billerbeck letztendlich zum Ergebnis kommt, dass lediglich bei einem Drittel der Abstimmungen Rechts- und Linkspopulisten identisch votieren, hätte ein umfassend präziser Blick auf eben diese Schnittmenge nicht geschadet.
Blinder Fleck Russland
„Beide Fraktionen sind sich einig, dass in der internationalen Auseinandersetzung mehr Nähe zu Russland gesucht werden solle, wobei besonders Vertreter*innen der GUE/NGL-Fraktion eine stärkere Abgrenzung zu den USA und ihren außenpolitischen Aktionen fordern.“ Der Leser (und vermutlich auch die Leserin) reibt sich die Augen: Ein einziger Satz angesichts des rechtslinken Faibles für Putins Regime. Hatte im Untersuchungszeitraum 2019/20 die Nähe der Parteichefs Le Pen und Salvini auf der rechten und Mélenchon und Kipping/Riexinger auf der linken Seite tatsächlich keine konkreteren Spuren im Engagement und Abstimmungsverhalten „ihrer“ Abgeordneten hinterlassen? Wie positionierten sich beide Fraktionen zu den Krim-Sanktionen oder den Auftragsmorden des Kreml, welche Rhetorik (und gegebenenfalls auch welche öffentlichen Reise-Aktivitäten) waren bemerkenswert gewesen?
Eine Studie, die den Konvergenzen beider Populismen gewidmet ist, hätte auf solche Recherchearbeit keinesfalls verzichten dürfen. Wer Ideologiekritik glaubhaft betreiben will, wird nicht umhin kommen, gerade auch die inner-europäische Komplizenschaft zu dokumentieren angesichts von Wladmir Putins immer dreisteren Versuchen, die EU zu paralysieren, ja sie zur Implosion zu bringen. Ergo: So verdienstvoll Leon Billerbecks Untersuchung auch ist, sie verdient unbedingt Weitung und Vertiefung.
Leon Billerbeck: (Un)erwartete Konvergenzen in der Ideologie von Links- und Rechtspopulist/innen. Eine Untersuchung am Beispiel des Europäischen Parlaments. LIT Verlag, Berlin 2021, 126 S., brosch., Euro 29,90-
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.