Triba­lismus in den Nieder­landen: Weiße Männer gegen Migranten

Shut­ter­stock

In den Nieder­landen pola­ri­sieren zwei Kleinst­par­teien die öffent­liche Debatte. DENK bringt Nieder­länder nicht-west­li­cher Herkunft gegen die Mehr­heits­ge­sell­schaft in Stellung. Und das Forum voor Demo­cratie schürt die Wut weißer Männer. Beiden Parteien sind schwe­lende Wunden im Körper der Demo­kratie, meint der Poli­tik­wis­sen­schaftler und Jurist Matthijs van Wolferen. Im Westen solle man die Entwick­lung aufmerksam beob­achten. Denn auch anderswo könnte die Ethni­sie­rung gesell­schaft­li­cher Konflikte die tradi­tio­nelle Partei­en­land­schaft aufsprengen.

Bei der Parla­ments­wahl 2017 in den Nieder­landen hat sich ein neuer Typ von popu­lis­ti­schen Parteien durchgesetzt.Sowohl die Parla­ments- als auch die Kommu­nal­wahlen führten zu einer weiteren Zersplit­te­rung der poli­ti­schen Land­schaft. Dank des massiven Einbre­chens der Sozi­al­de­mo­kraten konnten sich praktisch alle Parteien als Gewinner feiern. Die wahren Sieger aller­dings waren Grup­pie­rungen, die man als „Mikro-Iden­ti­täten-Popu­listen“ bezeichnen könnte und die offen­sicht­lich eine dritte Popu­lismus-Welle in den Nieder­landen einläuten. Diese Parteien werden das nieder­län­di­sche Politik-System vor große Probleme stellen.

Die Parteien der dritten Popu­lismus-Welle haben die Lehren aus den Schwächen von Fortuyn und Wilders gezogen, die beide die Macht einer vergleichs­weise kleinen, aber radikalen Kern­wäh­ler­schaft brach liegen ließen. Durch die Besetzung einer engeren popu­lis­ti­schen Nische – eben nicht „das Volk“, sondern „weiße Männer“ und „Rassismus-Opfer“ – konso­li­dieren diese Parteien eine militante Basis, die sich nicht mehr umstimmen lässt. 

Das System der „Versäu­lung“ der nieder­län­di­schen Gesell­schaft in je aparte protes­tan­ti­sche, katho­li­sche, sozia­lis­ti­sche und liberale Pfeiler stabi­li­sierte die poli­ti­sche Land­schaft seit der Nach­kriegs­zeit. Da keine der „Säulen“ genügend Stamm­wähler aufwies, um an eine absolute Mehrheit zu gelangen, waren Regie­rungen immer von Koali­tionen im Parlament abhängig. Egal, wer die Wahl gewann, er musste fähig und bereit sein, Gemein­sam­keiten mit wenigs­tens einer der anderen „Säulen“ zu erar­beiten. Aus diesem Grund waren nieder­län­di­sche Regie­rungen gezwun­ge­ner­maßen prag­ma­tisch, weil sie aus langen Verhand­lungen hervor­gingen und fein austa­rierte  Koali­ti­ons­ver­träge sie zusam­men­hielten. Die gesell­schaft­li­chen Säulen lösten sich seit den 70er Jahren schlei­chend auf. Die Kultur der Konsens­de­mo­kratie lebte fort. 

Portrait von Matthijs van Wolferen

Matthijs van Wolferen ist Assistant Professor für Euro­päi­sches Recht an der Univer­sität Groningen

Fehler von Wilders und Fortuyn

Es war Pim Fortuyn, der um die Jahr­hun­dert­wende gegen dieses System Stimmung machte. Seit 1994 regierten „violette Kabinette“ aus Liberalen und Sozia­listen, die die Wirt­schaft ankur­belten und fort­schritt­liche Reformen auf den Weg brachten. Wider­stand aus der Oppo­si­tion gab es nicht – Warum auch? Die Regie­rungs­po­litik war der liberalen Oppo­si­tion fort­schritt­lich genug und der linken sozial genug. Die christ­li­chen Parteien waren marginalisiert.

Fortyun bezeich­nete die damals führenden Parteien als Elite, die gegen den Willen des „Volkes“ an ihren „Plüsch-Sesseln“ im Parlament klebte. Fortuyn gelang es, Ideen wie „das nieder­län­di­sche Volk“ oder „nieder­län­di­scher Natio­nal­stolz“ mit Leben zu füllen, oft durch histo­ri­sche Anspie­lungen. Seiner Partei fehlte jedoch der ideo­lo­gi­sche Unterbau.

Die zweite Welle des nieder­län­di­schen Popu­lismus brach mit  Geert Wilders los, einem Politker, der  alle Merkmale eines Bilder­buch-Popu­listen aufweist: Seine Partei (die PVV) kreist um seine Persön­lich­keit, und sein Aufstieg begann, wie bei Fortuyn, mit der Anklage gegen eine angeb­liche  parla­men­ta­ri­sche Elite, die den Kontakt zum „Volk“ verloren habe. Vom „wahren nieder­län­di­schen Volk“ hat die PVV eine klare Vorstel­lung: der hart arbei­tende Mann von der Straße und seine Ehefrau, die in ihrer typischen hollän­di­schen Vorstadt in der ständigen Angst leben, , von isla­mi­schen Immi­granten verdrängt zu werden. Wilders hat ein Gespür für die Schwächen des prag­ma­ti­schen Regie­rungs­stils, der ideo­lo­gi­sche Unter­schiede im Poli­tik­spek­trum verklei­nert  und sie bei Parteien, die Koali­ti­ons­ver­ant­wor­tung über­nehmen, geradezu abschleift. Die daraus resul­tie­rende Desil­lu­sion des Wählers nutzt Wilders geschickt aus, indem er sich als einzige Alter­na­tive zum „Sind-doch-alle-dieselben!“-Ressentiment positioniert.

Heute kündigt der rasante Aufstieg von zwei neuen Parteien – das „Forum voor Demo­cratie“ (FvD) und DENK – eine dritte Welle des Popu­lismus an.

Wie Iden­ti­täts­par­teien repu­bli­ka­ni­sche Werte attackieren

Das Forum wird geleitet von Thierry Baudet, einem Histo­riker und Juristen, der in seiner Promotion gegen einen behaup­teten Angriff von Libe­ra­lismus, Multi­kul­tu­ra­lismus und Supra­na­tio­na­lismus auf den Natio­nal­staat anschrieb. Baudet hat es mit seinem Quer­den­kertum geschafft, eine poli­ti­sche Plattform zu gründen, die Zulauf von Wählern erhält, die von dem Mangel an konkreten Ergeb­nissen der PVV enttäuscht sind. Zudem hat er den Bedarf der Medien an telegenen Vertre­tern kontro­verser Gegen­stand­punkte clever ausge­nutzt: als EU-Gegner, Klima­wandel-Skeptiker, Ultra-Natio­na­list und sexis­ti­scher Chau­vi­nist ist er auf allen Bild­schirmen omni­prä­sent – und das, obwohl seine Partei bei der Wahl nur 1,8 Prozent der Stimmen erlangte. Baudets Eloquenz und seine kulti­vierten Eigen­arten kommen bei der jungen, weißen, männ­li­chen Möchte-Gern-Elite gut an, die sich von Minder­heiten (und Frauen) umzingelt und vom poli­ti­schen System ausge­bremst sehen.

Dagegen ist DENK eine Partei, die vom wach­senden Bewusst­sein über rassis­ti­sche Vorein­ge­nom­men­heit in der nieder­län­di­schen Gesell­schaft profi­tiert hat. In einem Land, das sich schwer tut mit seiner Kolo­ni­al­ge­schichte und dem Platz, den es seinen Migranten in der Gesell­schaft zugesteht, präsen­tierte sich DENK als Partei, die jedem Bürger den gleichen Zugang bieten will und die Probleme des Alltags­ras­sismus in den Nieder­landen offen angeht. Während des Wahl­kampfes wurde aller­dings deutlich, dass der Partei haupt­säch­lich daran gelegen war, das brach­lie­gende Potential der Wähler mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund auszu­schlachten. Sie tat dies mit einer popu­lis­ti­schen, negativen Kampagne und einer Nutzung der sozialen Netzwerke, die fast dem Ansatz von „Cambridge Analytica“ gleichkam und sich ganz auf ziel­grup­pen­spe­zi­fi­sche Medien konzen­trierte. Umfragen nach der Wahl, bei der DENK 2,1 Prozent gewann, zeigten, dass die Partei viele junge Leute nicht-west­li­cher Abstam­mung davon über­zeugen konnte, alle anderen Parteien in den Nieder­landen seien „gegen sie“ ausgerichtet.

Diese Fall­bei­spiele zeigen, wie die Nieder­lande in ein System der „Mikro-Iden­ti­täten-Politik“ abgleitet. Die Parteien der dritten Popu­lismus-Welle haben die Lehren aus den Schwächen von Fortuyn und Wilders gezogen, die beide die Macht einer vergleichs­weise kleinen, aber radikalen Kern­wäh­ler­schaft brach liegen ließen. Durch die Besetzung einer engeren popu­lis­ti­schen Nische – eben nicht „das Volk“, sondern „weiße Männer“ und „Rassismus-Opfer“ – konso­li­dieren diese Parteien eine militante Basis, die sich nicht mehr umstimmen lässt. Mit ihren Extrem­po­si­tionen drücken beide Parteien der öffent­li­chen Debatte ihren Stempel auf. Sie sind die schwe­lenden Wunde im Körper der nieder­län­di­schen Demokratie.

Pim Fortuyns LFP brach nach seinem Tod ausein­ander: die Partei war unfähig, den Verlust ihres Führers durch ein poli­ti­sches Programm zu kompen­sieren. Internes Chaos machte die LFP lächer­lich, und das System konnte sie so leicht igno­rieren. Die Basis der PVV von Geert Wilders, richtet sich, jenseits aller Immi­gra­tions-Polemik, an tradi­tio­nellen sozia­lis­ti­schen, d.h. national-wohl­fahrts­staat­li­chen Themen aus. Dies ermög­licht den anderen Parteien, die sozi­al­po­li­ti­schen Anliegen der PVV aufzu­greifen und einen Teil der verlo­renen Wähler zurückzugewinnen.

Tradi­tio­nelle Parteien sind ratlos

Diese Taktik wird gegen die „Mikro-Iden­ti­täts-Popu­listen“ nicht funk­tio­nieren. Im Gegenteil: jedes zukünf­tige Problem, jedes Skan­däl­chen wird von ihnen als weiterer Beweis für die Ausgren­zung ihrer Basis-Ziel­gruppe durch ein korruptes System gewertet werden, um den Zusam­men­halt ihrer Nische zu stärken. Es genügt, die Reak­tionen von DENK auf die hollän­di­sche Kritik an Erdogans Macht­an­häu­fung in der Türkei oder die Verur­tei­lung des arme­ni­schen Völker­mords durch das nieder­län­di­sche Parlament zu betrachten. In beiden Fällen reagierte DENK aggressiv und rief die im Land lebenden Türken auf, diese „Einmi­schung“ bei der nächsten Wahl zu sank­tio­nieren. Nach der Parla­ments­ab­stim­mung über den Genozid veröf­fent­lichte DENK eine Liste mit türkisch­stäm­migen Abge­ord­neten und prangerte sie als Verräter an.

Gruppen wie DENK haben kein Interesse an Kompro­missen, aber umso mehr an der Aufsplit­te­rung der poli­ti­schen Land­schaft, die den tradi­tio­nellen Parteien noch mehr zusetzt. Dabei kommt ihnen natürlich das voll­stän­dige Verhält­nis­wahl­recht in den Nieder­landen zupass, eines der wenigen in Europa ohne Sperr­klausel: Das Prinzip, dass jede Stimme verdient, gehört zu werden, lässt zu, dass jede noch so kleine Gruppe mittels einer Kleinst­partei ihren Groll ins Parlament trägt.

Das Ergebnis einer Parla­ments­wahl, an der 28 Parteien teil­nahmen, sind nicht nur die kompli­zier­testen Koali­ti­ons­ver­hand­lungen der Geschichte, sondern auch ein Zusam­men­gehen von vier Parteien, die man norma­ler­weise nicht in einer gemein­samen Regierung erwarten würde. Der Koali­ti­ons­ver­trag kann den Verdruss über die Konsens­de­mo­kratie nur verstärken.

Das einzige Gegen­mittel wäre, wenn die Tradi­ti­ons­par­teien noch erfolg­rei­cher regieren. Leider sind diese in den lähmenden Koali­ti­ons­part­ner­schaften schlecht gewappnet, die wirklich wichtigen Themen wie Klima­wandel und Migration energisch anzugehen. Insofern werden die nächsten Wahlen die „Mikro-Iden­ti­täten-Politik“ weiter befeuern, was die Koali­ti­ons­bil­dung noch schwie­riger machen wird. Jede Wahl schlägt einen weiteren Nagel in den Sarg des nieder­län­di­schen Politiksystems.

Hollands euro­päi­sche Nachbarn, vor allem dieje­nigen, die ein Verhält­nis­wahl­recht prak­ti­zieren, täten gut daran, das nieder­län­di­sche Beispiel vor Augen zu haben. Es könnte ein Vorge­schmack ihrer eigenen Zukunft sein.

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