Mehr als nur Russland: Der post-sowjetische Raum
Das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 ist Ausgangspunkt der Ausstellung „Postsowjetische Lebenswelten. Gesellschaft und Alltag nach dem Kommunismus“, die am 14.9. von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Kooperation mit dekoder vorgestellt wurde. Oft werden im deutschen Diskurs die Sowjetunion und Russland gleichgesetzt, aber der post-sowjetische Raum umfasst viel mehr Staaten, die teils sehr unterschiedliche Entwicklungen erlebten. Anlässlich des 30. Jahrestags des Endes der Sowjetära blickt der für die Ausstellung verantwortliche Historiker Jan Claas Behrends auf die Entwicklungen in den vormaligen Sowjetländern.
Vieles, was die 1990er Jahre in den post-sowjetischen Staaten ausmachte, ist bereits vergessen und verdrängt. Zudem blickt die deutsche Öffentlichkeit häufig nur auf Moskau und den dortigen Machthaber. Dabei gibt es im post-sowjetischen Raum vieles zu entdecken – schließlich läutete das Ende der kommunistischen Diktatur eine gewaltige politische, soziale und kulturelle Transformation ein, die bis in die Gegenwart andauert. Die Veränderungen vom Baltikum bis zum Kaukasus von Belarus über Zentralasien sind so groß, dass es schwerfällt, von einer post-sowjetischen Erfahrung zu sprechen. Fest steht jedoch, dass die Region für Deutschland und die Europäische Union weitaus signifikanter ist, als wir sie wahrnehmen. Deshalb ist es an der Zeit, die gesamte frühere Sowjetunion in den Blick zu nehmen und nach den Geschehnissen und Konsequenzen der Epoche seit 1991 zu fragen.
Das Ende der Sowjetunion war ein Aufbruch in die Freiheit und Unabhängigkeit. Siebzig Jahre kommunistischer Diktatur – die baltischen Staaten, das westliche Belarus und die westliche Ukraine kamen erst 1939/40 dazu – endeten abrupt. Die imperiale Ordnung von Jalta endete und das Europa Wilsons kehrte zurück. Doch was bedeutete dieser Umbruch für die Bürgerinnen und Bürger zwischen Brest und Vladivostok?
Kein Ende der Geschichte
Mit dem Jahr 1991 endete das Leben am parteistaatlichen Gängelband. Erstmals konnte man Beruf, Ausbildung, Studium und den Wohnort frei wählen. Die Zivilgesellschaft begann, sich zu entwickeln. Bürger gründeten Vereine, Parteien und Assoziationen. Die Öffentlichkeit wurde – durch glasnost‘ in der Perestroika angestoßen – zu einem Freiraum, in dem über Politik und Gesellschaft, über die eigene Zukunft diskutiert werden konnte. An die Stelle der sowjetischen Uniformität trat zunehmende Pluralität. Die Hoffnungen waren groß: eine Annäherung an den Westen, Wohlstand, das Ende der Angst und eine Ära des Friedens schienen greifbar zu sein. Ähnlich wie Ostmitteleuropa würde nach 1989 sich auch der post-sowjetische Raum demokratisch entwickeln. Timothy Garton Ash pries den friedlichen Umbruch und Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Doch die Geschichte ging weiter und zwar anders als erwartet.
Die Realität sah während der 1990er Jahre weitgehend anders aus. Demokratische Erwartungen wurden häufig enttäuscht. Das Ende der parteistaatlichen Diktatur hinterließ ein Vakuum, das sich unterschiedlich auswirkte. Während das Baltikum einen Weg „zurück nach Europa“ beschritt, sah die politische Lage in anderen Teilen des früheren kommunistischen Imperiums anders aus: im Kaukasus folgten Krieg und Bürgerkrieg, in Zentralasien dauerte die autoritäre Herrschaft der Parteikader im nationalen Gewand fort. In Belarus, der Ukraine und Russland entstand eine offene politische Konstellation, die während des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts in neue Ordnungen mündete. Hier konkurrierten von nun an demokratische Vorstellungen mit dem autoritären Erbe der sozialistischen Staatlichkeit und den Hinterlassenschaften der sowjetischen Ideologie. Aus dieser Melange entstand eine neue politische Konstellation – jenseits des „Endes der Geschichte“, das von prominenter Seite herbeigewünscht wurde.
Chaos, Elend und Bürgerkrieg
Für das Gros der Bevölkerung setzte sich nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft der soziale Abstieg fort. Die Sicherheiten, die das sozialistische Regime unter Leonid Breschnew noch geboten hatte, erodierten bereits unter Michail Gorbatschow. Sie verschwanden unter seinen zahlreichen Nachfolgern vollständig. Ganze Republiken, Landstriche, Städte und Gemeinden versanken im Elend. Den bescheidenen Wohlstand des späten Sozialismus fraß eine Hyperinflation, die Millionen ins Elend stürzte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, brachte die Befreiung von der Diktatur keinen Wohlstand, sondern den Verlust von Sicherheit und Status. Auf allen Ebenen begann nun der Kampf um soziale und politische Ressourcen. Konflikte wurden häufig mit Gewalt ausgetragen – durch kriminelle und auch paramilitärische Gruppen, beispielsweise im Kaukasus, der Moldau und Zentralasien. Hier löste der Bürgerkrieg die Diktatur ab.
Nach dem Ende der Sowjetunion war der Alltag von den Härten der Transformation bestimmt. Viele Menschen wurden entlassen, mussten sich neue Arbeit suchen oder wurden über Monate nicht bezahlt. Überall entstanden zwielichtige Märkte, auf denen gehandelt wurde. Der Zusammenbruch der zentralen Versorgung führte zum Aufbau neuer dezentraler Strukturen und zur Entstehung einer neuen Schicht fliegender Händler, die begehrte Ware besorgten. Gerade jenseits der großen Städte war das Leben beschwerlich, die Infrastruktur verfiel. Über Wochen und Monate konnten Strom und Heizung ausfallen. Vielerorts verblieben ökologische Erblasten— die Folgen jahrzehntelanger Ausbeutung von Mensch und Natur. Sie belasten bis in die Gegenwart das Leben in der früheren UdSSR.
Der baltische Weg nach Europa und autokratische Führerkulte in Zentralasien
Zeitgleich mit dem Elend und Verfall gab es auch Anzeichen für einen Aufbruch zu neuen Ufern. Die 1990er Jahre waren eine Epoche des kulturellen Aufbruchs und der relativ freien Medien in zahlreichen Staaten. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung herrschte erstmals wieder Religionsfreiheit – Kirchen und Moscheen wurden restauriert oder wiederaufgebaut. In den Staaten, die ihre Unabhängigkeit (zurück)erlangten, setzte sich die Nationsbildung fort. Es verfestigten sich neue Identitäten – oft in Abgrenzung zu Russland und zur sowjetischen Vergangenheit. Die 15 Republiken gingen seit den 1990er Jahre unterschiedliche Wege. Die drei baltischen Republiken gaben sich demokratische Verfassungen und fanden schnell ihren Weg zurück nach Westen. 2004 traten sie der NATO und der EU bei. Damit brachen sie radikal mit der sowjetischen Vergangenheit. Ganz anders entwickelten sich die Republiken Zentralasiens: hier blieben die sowjetischen Eliten ungebrochen an der Macht und etablierten nach 1991 autoritäre politische Systeme. Demokratisierung und Liberalisierung blieben aus, stattdessen entwickelten sich Autokratien, deren Herrscher sich in absurden Führerkulten feiern ließen.
Das Ende der Liberalisierung in Russland im Kontrast zur resilienten Zivilgesellschaft der Ukraine
Komplizierter gestaltete sich die politische Entwicklung in den drei slawischen Republiken Russland, der Ukraine und Belarus. Belarus wurde seit 1994, nach der Machtübernahme von Aliaksander Lukaschenka, zu einem Laboratorium autoritärer Politik. In Russland wurde bereits 1993 deutlich, dass militärische Gewalt weiterhin zum Arsenal russischer Politik gehört. Hier gab es im Verfassungskonflikt keinen „runden Tisch“; er wurde vielmehr durch den Einsatz von Panzern in der Moskauer Innenstadt entschieden. Die folgende „super-präsidentiale“ Verfassung und der Einmarsch ins abtrünnige Tschetschenien beendeten die von Gorbatschow begonnene Epoche der Liberalisierung in Russland. Bereits vor der Machübernahme durch den KGB-Mann Wladimir Putin im Sommer 1999 war der Kreml wieder auf dem Weg zum Autoritarismus. Wesentlich komplexer gestaltete sich hingegen das politische Leben in der Ukraine. Wegen des starken Einflusses verschiedener Oligarchen gab es keine Monopolisierung der Macht. Als einzige große Sowjetrepublik blieben die Wahlen in der Ukraine frei und umkämpft. Gerade weil der Staat oft korrupt und schwach war, entstand eine resiliente Zivilgesellschaft, die sich in den Revolutionen von 2004 und 2013/14 gegen autoritäre Tendenzen und russischen Einfluss behauptete.
Bis in die Gegenwart gibt es allenfalls prekäre politische und soziale Stabilität auf dem Gebiet der früheren UdSSR. Doch gerade die Konkurrenz verschiedener Ordnungsvorstellungen und politischer Systeme macht die Faszination unserer östlichen Nachbarn aus. Aus der Sicht Deutschlands und der Europäischen Union scheint das Gebiet der früheren Sowjetunion vielen als weit entfernt: doch tatsächlich setzten sich die Bürgerinnen und Bürger dort mit ähnlichen Problemen auseinander wie ihre Nachbarn in Kerneuropa. Die dreißig Jahre nach dem Ende des Kommunismus zu analysieren, heißt auch die Transformationen zu verstehen, von denen wir betroffen waren und sind.
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