Mehr als nur Russland: Der post-sowje­ti­sche Raum

Foto: Shut­ter­stock, Philip Mowbray

Das Ende der Sowjet­union im Dezember 1991 ist Ausgangs­punkt der Ausstel­lung „Post­so­wje­ti­sche Lebens­welten. Gesell­schaft und Alltag nach dem Kommu­nismus“, die am 14.9. von der Bundes­stif­tung zur Aufar­bei­tung der SED-Diktatur in Koope­ra­tion mit dekoder vorge­stellt wurde. Oft werden im deutschen Diskurs die Sowjet­union und Russland gleich­ge­setzt, aber der post-sowje­ti­sche Raum umfasst viel mehr Staaten, die teils sehr unter­schied­liche Entwick­lungen erlebten. Anläss­lich des 30. Jahres­tags des Endes der Sowjetära blickt der für die Ausstel­lung verant­wort­liche Histo­riker Jan Claas Behrends auf die Entwick­lungen in den vorma­ligen Sowjetländern.

Vieles, was die 1990er Jahre in den post-sowje­ti­schen Staaten ausmachte, ist bereits vergessen und verdrängt. Zudem blickt die deutsche Öffent­lich­keit häufig nur auf Moskau und den dortigen Macht­haber. Dabei gibt es im post-sowje­ti­schen Raum vieles zu entdecken – schließ­lich läutete das Ende der kommu­nis­ti­schen Diktatur eine gewaltige poli­ti­sche, soziale und kultu­relle Trans­for­ma­tion ein, die bis in die Gegenwart andauert. Die Verän­de­rungen vom Baltikum bis zum Kaukasus von Belarus über Zentral­asien sind so groß, dass es schwer­fällt, von einer post-sowje­ti­schen Erfahrung zu sprechen. Fest steht jedoch, dass die Region für Deutsch­land und die Euro­päi­sche Union weitaus signi­fi­kanter ist, als wir sie wahr­nehmen. Deshalb ist es an der Zeit, die gesamte frühere Sowjet­union in den Blick zu nehmen und nach den Gescheh­nissen und Konse­quenzen der Epoche seit 1991 zu fragen.

Das Ende der Sowjet­union war ein Aufbruch in die Freiheit und Unab­hän­gig­keit. Siebzig Jahre kommu­nis­ti­scher Diktatur – die balti­schen Staaten, das westliche Belarus und die westliche Ukraine kamen erst 1939/​40 dazu – endeten abrupt. Die imperiale Ordnung von Jalta endete und das Europa Wilsons kehrte zurück. Doch was bedeutete dieser Umbruch für die Bürge­rinnen und Bürger zwischen Brest und Vladivostok?

Kein Ende der Geschichte

Mit dem Jahr 1991 endete das Leben am partei­staat­li­chen Gängel­band. Erstmals konnte man Beruf, Ausbil­dung, Studium und den Wohnort frei wählen. Die Zivil­ge­sell­schaft begann, sich zu entwi­ckeln. Bürger gründeten Vereine, Parteien und Asso­zia­tionen. Die Öffent­lich­keit wurde – durch glasnost‘ in der Pere­stroika ange­stoßen – zu einem Freiraum, in dem über Politik und Gesell­schaft, über die eigene Zukunft disku­tiert werden konnte. An die Stelle der sowje­ti­schen Unifor­mität trat zuneh­mende Plura­lität. Die Hoff­nungen waren groß: eine Annä­he­rung an den Westen, Wohlstand, das Ende der Angst und eine Ära des Friedens schienen greifbar zu sein. Ähnlich wie Ostmit­tel­eu­ropa würde nach 1989 sich auch der post-sowje­ti­sche Raum demo­kra­tisch entwi­ckeln. Timothy Garton Ash pries den fried­li­chen Umbruch und Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Doch die Geschichte ging weiter und zwar anders als erwartet.

Die Realität sah während der 1990er Jahre weit­ge­hend anders aus. Demo­kra­ti­sche Erwar­tungen wurden häufig enttäuscht. Das Ende der partei­staat­li­chen Diktatur hinter­ließ ein Vakuum, das sich unter­schied­lich auswirkte. Während das Baltikum einen Weg „zurück nach Europa“ beschritt, sah die poli­ti­sche Lage in anderen Teilen des früheren kommu­nis­ti­schen Imperiums anders aus: im Kaukasus folgten Krieg und Bürger­krieg, in Zentral­asien dauerte die auto­ri­täre Herr­schaft der Partei­kader im natio­nalen Gewand fort. In Belarus, der Ukraine und Russland entstand eine offene poli­ti­sche Konstel­la­tion, die während des letzten Jahr­zehnts des 20. Jahr­hun­derts in neue Ordnungen mündete. Hier konkur­rierten von nun an demo­kra­ti­sche Vorstel­lungen mit dem auto­ri­tären Erbe der sozia­lis­ti­schen Staat­lich­keit und den Hinter­las­sen­schaften der sowje­ti­schen Ideologie. Aus dieser Melange entstand eine neue poli­ti­sche Konstel­la­tion – jenseits des „Endes der Geschichte“, das von promi­nenter Seite herbei­ge­wünscht wurde.

Chaos, Elend und Bürgerkrieg

Für das Gros der Bevöl­ke­rung setzte sich nach dem Ende der sowje­ti­schen Herr­schaft der soziale Abstieg fort. Die Sicher­heiten, die das sozia­lis­ti­sche Regime unter Leonid Breschnew noch geboten hatte, erodierten bereits unter Michail Gorbat­schow. Sie verschwanden unter seinen zahl­rei­chen Nach­fol­gern voll­ständig. Ganze Repu­bliken, Land­striche, Städte und Gemeinden versanken im Elend. Den beschei­denen Wohlstand des späten Sozia­lismus fraß eine Hyper­in­fla­tion, die Millionen ins Elend stürzte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, brachte die Befreiung von der Diktatur keinen Wohlstand, sondern den Verlust von Sicher­heit und Status. Auf allen Ebenen begann nun der Kampf um soziale und poli­ti­sche Ressourcen. Konflikte wurden häufig mit Gewalt ausge­tragen – durch krimi­nelle und auch para­mi­li­tä­ri­sche Gruppen, beispiels­weise im Kaukasus, der Moldau und Zentral­asien. Hier löste der Bürger­krieg die Diktatur ab.

Nach dem Ende der Sowjet­union war der Alltag von den Härten der Trans­for­ma­tion bestimmt. Viele Menschen wurden entlassen, mussten sich neue Arbeit suchen oder wurden über Monate nicht bezahlt. Überall entstanden zwie­lich­tige Märkte, auf denen gehandelt wurde. Der Zusam­men­bruch der zentralen Versor­gung führte zum Aufbau neuer dezen­traler Struk­turen und zur Entste­hung einer neuen Schicht flie­gender Händler, die begehrte Ware besorgten. Gerade jenseits der großen Städte war das Leben beschwer­lich, die Infra­struktur verfiel. Über Wochen und Monate konnten Strom und Heizung ausfallen. Vieler­orts verblieben ökolo­gi­sche Erblasten— die Folgen jahr­zehn­te­langer Ausbeu­tung von Mensch und Natur. Sie belasten bis in die Gegenwart das Leben in der früheren UdSSR.

Der baltische Weg nach Europa  und auto­kra­ti­sche Führer­kulte in Zentralasien

Zeit­gleich mit dem Elend und Verfall gab es auch Anzeichen für einen Aufbruch zu neuen Ufern. Die 1990er Jahre waren eine Epoche des kultu­rellen Aufbruchs und der relativ freien Medien in zahl­rei­chen Staaten. Nach Jahr­zehnten der Unter­drü­ckung herrschte erstmals wieder Reli­gi­ons­frei­heit – Kirchen und Moscheen wurden restau­riert oder wieder­auf­ge­baut. In den Staaten, die ihre Unab­hän­gig­keit (zurück)erlangten, setzte sich die Nati­ons­bil­dung fort. Es verfes­tigten sich neue Iden­ti­täten – oft in Abgren­zung zu Russland und zur sowje­ti­schen Vergan­gen­heit. Die 15 Repu­bliken gingen seit den 1990er Jahre unter­schied­liche Wege. Die drei balti­schen Repu­bliken gaben sich demo­kra­ti­sche Verfas­sungen und fanden schnell ihren Weg zurück nach Westen. 2004 traten sie der NATO und der EU bei. Damit brachen sie radikal mit der sowje­ti­schen Vergan­gen­heit. Ganz anders entwi­ckelten sich die Repu­bliken Zentral­asiens: hier blieben die sowje­ti­schen Eliten unge­bro­chen an der Macht und etablierten nach 1991 auto­ri­täre poli­ti­sche Systeme. Demo­kra­ti­sie­rung und Libe­ra­li­sie­rung blieben aus, statt­dessen entwi­ckelten sich Auto­kra­tien, deren Herrscher sich in absurden Führer­kulten feiern ließen.

Das Ende der Libe­ra­li­sie­rung in Russland im Kontrast zur resi­li­enten Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine

Kompli­zierter gestal­tete sich die poli­ti­sche Entwick­lung in den drei slawi­schen Repu­bliken Russland, der Ukraine und Belarus. Belarus wurde seit 1994, nach der Macht­über­nahme von Aliaksander Lukaschenka, zu einem Labo­ra­to­rium auto­ri­tärer Politik. In Russland wurde bereits 1993 deutlich, dass mili­tä­ri­sche Gewalt weiterhin zum Arsenal russi­scher Politik gehört. Hier gab es im Verfas­sungs­kon­flikt keinen „runden Tisch“; er wurde vielmehr durch den Einsatz von Panzern in der Moskauer Innen­stadt entschieden. Die folgende „super-präsi­den­tiale“ Verfas­sung und der Einmarsch ins abtrün­nige Tsche­tsche­nien beendeten die von Gorbat­schow begonnene Epoche der Libe­ra­li­sie­rung in Russland. Bereits vor der Mach­über­nahme durch den KGB-Mann Wladimir Putin im Sommer 1999 war der Kreml wieder auf dem Weg zum Auto­ri­ta­rismus. Wesent­lich komplexer gestal­tete sich hingegen das poli­ti­sche Leben in der Ukraine. Wegen des starken Einflusses verschie­dener Olig­ar­chen gab es keine Mono­po­li­sie­rung der Macht. Als einzige große Sowjet­re­pu­blik blieben die Wahlen in der Ukraine frei und umkämpft. Gerade weil der Staat oft korrupt und schwach war, entstand eine resi­li­ente Zivil­ge­sell­schaft, die sich in den Revo­lu­tionen von 2004 und 2013/​14 gegen auto­ri­täre Tendenzen und russi­schen Einfluss behauptete.

Bis in die Gegenwart gibt es allen­falls prekäre poli­ti­sche und soziale Stabi­lität auf dem Gebiet der früheren UdSSR. Doch gerade die Konkur­renz verschie­dener Ordnungs­vor­stel­lungen und poli­ti­scher Systeme macht die Faszi­na­tion unserer östlichen Nachbarn aus. Aus der Sicht Deutsch­lands und der Euro­päi­schen Union scheint das Gebiet der früheren Sowjet­union vielen als weit entfernt: doch tatsäch­lich setzten sich die Bürge­rinnen und Bürger dort mit ähnlichen Problemen ausein­ander wie ihre Nachbarn in Kern­eu­ropa. Die dreißig Jahre nach dem Ende des Kommu­nismus zu analy­sieren, heißt auch die Trans­for­ma­tionen zu verstehen, von denen wir betroffen waren und sind.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.