Mehr Freiheit wagen – erneut!
Am Ende der Coronakrise mit temporären massiven Einschränkungen der Bürgerrechte ist es Zeit für eine Renaissance des Liberalismus. Welchen Beitrag kann dabei die FDP leisten, welchen die anderen Parteien und die Bürgergesellschaft? Ludwig Greven sucht Antworten.
Freiheit heißt, sich aufs Spiel zu setzen, auch wenn man dabei einen ziemlichen Aufprall erlebt.
... so der Soziologe und Regierungsberater Heinz Bude im Interview mit der WELT.
Willy Brandt begann den sozialliberalen Aufbruch der SPD/FDP-Koalition vor einem halben Jahrhundert am 28.10.1969 mit dem Ruf: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ Nach 16 Jahren fast ununterbrochenen gouvernmentalen Regierens einer großen, zunehmend grauen Koalition mit einer „alternativlosen“ Kanzlerin, und eines pandemiebedingten Staatsexzesses in ihrer vorläufigen Schlussphase ist es höchst angebracht, sich auf einen Kern dieser Demokratie zu besinnen: die Liberalität einer modernen, emanzipierten, ihrer selbst bewussten Gesellschaft.
Vordergründig ist es um die Freiheit in Deutschland gut bestellt. Die Meinungs- und Pressefreiheit sind entgegen anderslautenden Behauptungen nicht beschränkt, Minderheiten werden geschützt, jedenfalls dem Gesetz nach, jede/jeder kann nach ihrer/seiner Façon glücklich werden, solange sie oder er nicht anderen in die Quere kommt. Doch die Corona-Krise hat gezeigt und bei vielen den Sinn dafür geschärft, wie schnell elementare Freiheitsrechte bedroht sind – in diesem Fall durch ein Virus, aber auch durch teils fragwürdige Entscheidungen der Regierenden aller demokratischen Parteien. Zu denken geben sollte Freiheitsliebenden nicht nur, dass Bürger dagegen auch aus teils absurden, teils gefährlichen Motiven aufbegehrten. Sondern auch, dass so viele lange Zeit bereit waren, diese Einschränkungen einfach hinzunehmen ohne sie zu hinterfragen.
Denn in ihre Grundrechte – von der Bewegungsfreiheit über das Versammlungsrecht bis zur Berufs‑, Gewerbe‑, Kultur- und Religionsfreiheit und dem Recht auf Bildung der Kinder – griff ja nicht nur das Virus ein, sondern auch die mangelnde Prävention der Regierungen im Bund und den Ländern und deren Fehler beim rechtzeitigen Bestellen von Impfstoffen, Tests und Schutzausrüstungen oder bei der Digitalisierung der Schulen. Dadurch mögen die verordneten Maßnahmen im Einzelfall unausweichlich gewesen sein. Aber waren sie im übergeordneten Sinne gerechtfertigt? Was ist von einem freiheitlichen Staat zu halten, der nicht in der Lage ist, sich auf eine solche absehbare Krise vorzubereiten, seine Bürger ausreichend zu schützen und deshalb ihnen ihre Freiheiten in nie gekanntem Maße nimmt, wenn auch nur für begrenzte, aber doch lange Zeit? Vor allem: Wird der Staat, der sich ohnehin gerne selbst ermächtigt zulasten der Bürger, von diesem verlockenden Gift wieder lassen, wenn die nächste Pandemie droht oder eine angeblich oder tatsächlich noch größere Krise durch den menschgemachten Klimawandel?
Freiheit und Selbstverantwortung
Liberalität heißt selbstverständlich nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will, und sei es auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer. Oder ihrer Freiheit. Zur Freiheit gehört zwingend Verantwortung für das eigene Handeln. Aber in einer modernen liberalen Gesellschaft bedeutet dies zunächst die selbstbestimmte Selbstverantwortung der Bürger, nicht eine von oben verordnete. Nur dann, wenn das nicht reicht und nicht hilft, sind Regierungen berechtigt einzugreifen, im Extremfall auch in Grundrechte. Das aber muss, so steht schon im Grundgesetz und so hat es auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder angemahnt, sehr gut und penibel genau begründet sein. Daran hat es, wie Gerichte festgestellt haben, immer wieder gemangelt.
Deshalb ist es gut, dass sich jetzt wo die größte Gesundheitsgefahr vorbei zu sein scheint, Bürger sich darauf besinnen, wie wichtig ihnen ihre Freiheiten sind. Und sei es die Freiheit, Spaß und Lebensfreude zu haben, ein reales Konzert zu genießen, zu reisen, Freunde zu treffen ohne Kontrollen und Kontingentierung – all das, was unser Leben auch ausmacht. Vor allem aber die Freiheit und das Recht, Regierungshandeln und Eingriffe des Staates auch und gerade in einer schweren, nicht nur von außen verursachten Krise unter die Lupe zu nehmen.
Denn wie der Blick in andere Länder, z.B. Singapur (mit einem strikten Lockdown und Quarantäne gleich zu Beginn und einer sehr weitreichenden Öffnung direkt anschließend), aber auch in Europa zeigt, war die kaum kontrollierte Coronapolitik der selbstermächtigen Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten keineswegs alternativlos. Andere Regierungen haben mit teils wesentlich geringeren Eingriffen ähnliche oder größere Gesundheitserfolge vorzuweisen, aber weit geringere Schäden in der Gesellschaft und bei den Einzelnen. Hierzulande wurde gerne auf den schwedischen Weg herabgesehen. Auch wenn es dort aufgrund von Fehlern in der ersten Phase deutlich mehr Tote vor allem in Alten- und Pflegeheimen gab, wurde der Kurs, sehr stark auf die Eigenverantwortung der Bürger zu setzen, von einer breiten Mehrheit getragen. Zur Freiheit einer Gesellschaft gehört eben auch abzuwägen, welche Verluste an Bürgerfreiheiten, an Wohlergehen der Gesamtheit und an langfristigen sozialen, ökonomischen, finanziellen, psychischen und politischen Schäden ihnen Gesundheits- und Lebensschutz wert ist. Und wo der seine Grenzen findet, wenn eine von sehr liberalem und sozialem Geist geprägte Gesellschaft sich nicht aufgeben will.
Vollkommener Schutz durch den Staat ist unmöglich
Ganz ähnlich hatte die norwegische Gesellschaft übrigens schon nach dem Angriff des Rechtsextremisten Breivik auf ein sozialdemokratisches Jugendcamp und ihre Freiheit reagiert. Auch sie war da, anders als viele in Deutschland, nicht bereit, der ohnehin unmöglichen totalen Sicherheit vor terroristischer Bedrohung ihre Liberalität und Offenheit zu opfern. Genauso wenig lassen sich offene Gesellschaften vor Gesundheitsgefahren durch noch so scharfe Maßnahmen absolut schützen. Es sei denn, man verwandelte sie in eine chinesisches Sicherheitslager.
Im Bundestagswahlkampf wird es daher darauf ankommen, nicht nur über die Bewältigung der immensen Folgen der Coronakrise und der Krisenbekämpfung zu reden. Sondern auch über die langfristigen Folgen für das Freiheitsverständnis der Bürger und der Gesellschaft. Auch mit Blick auf die Klimapolitik oder die Angriffe von rechts und links auf eine offene Debattenkultur. Auch da lauern Gefahren für die innere Freiheit. Natürlich kann niemand ernsthaft bestreiten, dass dringend mehr getan werden muss, um die Klimaerwärmung zumindest zu begrenzen. Aber über die Mittel dazu muss gestritten werden. Und auch hier muss der liberale Grundsatz gelten, wie er in der Coronapolitik immer hätte gelten müssen: Soviele Eingriffe wie unbedingt nötig, aber sowenig Eingriffe wie irgendmöglich. Genauso in den öffentlichen Debatten auch im Netz, in der Wissenschaft und der Kultur. Auch hier sollten Diskrimierungen und Abwertungen vermieden werden – und zwar in alle Richtungen. Regierungen jedoch haben sich hier herauszuhalten. Das Überwachen der Meinungsfreiheit und der Einhaltung von Gesetzen obliegt allein den Gerichten, nicht Politikern, die selbst im Meinungskampf stehen.
Liberale im Aufwind
Ist es Zufall angesichts all dieser Gefahren für die Freiheit, dass die FDP in den Umfragen kräftig zulegt, bundesweit schon fast zur taumelden SPD aufgeschlossen und in Sachsen-Anhalt wenn auch knapp die Grünen hinter sich gelassen hat? Das hat sicherlich damit zu tun, dass ihr Vorsitzender Christian Lindner seinen krawalligen Stil abgelegt hat und sich und seine Partei seriöser präsentiert. Aber wohl auch damit, die FDP als einzige die Coronapolitik überwiegend sachlich immer wieder kritisiert hat – im liberalen Sinne, ohne sich in das populistische Fahrwasser der AfD oder der „Querdenker“ zu begeben. Und dass sie sich auch in anderen Politikfeldern wie der Energiewende als freiheitliche, auf Bürgerverantwortung setzende Alternative darstellt. Im Kontrast zur Staatsfixierheit von SPD, Grünen, Linken, aber auch Merkels obrigkeitlichem Politikstil.
Wenn im Wahlkampf um diese Grundfragen gerungen würde: Freiheit – soziale Verantwortung – Sicherheit – ökologischer Schutz, nicht nur um persönliche Eigenschaften und Biographien der Kanzlerkandidaten, wäre es ein wichtiger Beitrag für eine offene, zentrale Debatte. Viel zu lange galt Liberalismus in Deutschland fast als Schimpfwort, geschuldet auch der Verengung der FDP und anderer auf einen wirtschaftlichen Neoliberalismus. Dabei steht Liberalismus für viel mehr, und auch die FDP stand einmal dafür: Schutz von Bürgerrechten und Minderheiten, Schutz von Freiheiten aller Art, auch der Kulturfreiheit, die nicht durch neue Eingriffe diesmal von linken Moralwächtern statt früher konservativen gegängelt werden darf.
Regieren ab Herbst Öko-Linksliberale mit Wirtschaftsliberalen?
Nach dem Ausstieg der FDP aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 hatten sich Robert Habeck und andere vorgenommen, diesen Teil des FDP-Erbes anzutreten und die Grünen zu einer auch liberalen Partei zu machen. Daraus ist nicht viel geworden, wenn man sich die innerparteiliche Debatte um ihr Wahlprogramm und jüngste Äußerungen ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock anschaut. Umso spannender könnte es nach der Bundestagswahl bei den Koalitionsgesprächen werden: Finden sich da eine eher rechts- und wirtschaftsliberale FDP und eine linksliberal-ökobürgerliche Partei zusammen, um mit einer von Angela Merkel liberalisierten, aber autoritär geführten CDU einen neuen Freiheitsaufbruch zu wagen, wie Rot-Grün 1998 nach den kohlschen Stillstandsjahren? Oder wird die FDP in einer Ampel zum Korrektiv von Grün-Rot, die nach dem Vorbild der Coronapolitik auch Klimaschutz dirigistisch durchsetzen wollen?
Zu den Fragen, die diskutiert werden müssen, gehört auch, ob sich der Staat auch wirtschafts- und sozialpolitisch wieder zu einem allumfassenden Versorgungs-Überstaat aufblasen sollte. Sicher war es sinnvoll, großzügig Kurzarbeits- und Milliarden-Nothilfsprogramme für kleine und mittlere Betriebe, Selbständige, Freiberufler und Künstler aufzulegen, auch wenn die Gelder an sie zum Teil bis heute, anders als an Großkonzerne, nicht ausgezahlt wurden und zu Missbrauch geradezu einluden, genauso wie z.B. die Schnelltest-Subventionen. Aber die gewaltige Verschuldung dafür belastet nicht nur folgende Generationen. Sondern sie hilft den Betroffenen in ihrer Existenznot auch nur begrenzt und nur vorübergehend, bis die Hilfen auslaufen. Und sie schafft neue Abhängigkeiten – das Gegenteil von wirtschaftlicher Dynamik, auf die Deutschland dringend angewiesen ist, da es, wie diese Krise erneut gezeigt hat, in vielen Feldern weit zurückgefallen ist.
Wie werden sich die Bürger zu all dem verhalten? Gefällt ihnen der Rückfall in den Nanny-Staat?
Werden sie akzeptieren, wenn ihnen erneut zum Beispiel das Reisen eingeschränkt wird – eines der Ziele für die die Menschen in der DDR 1989 immerhin auf die Straßen gegangen sind und weshalb auch sie die SED-Diktatur hinweggefegt haben; diesmal begründet von den Befürwortern mit einem angeblich anderen guten Zweck, nämlich das Klima zu retten? Oder werden sie nach den Erfahrungen der Coronazeit hellhöriger werden und sich vernehmbar zu Wort melden, und diesmal nicht das Feld Populisten und „Querdenker“ überlassen, die in Wahrheit selbst Freiheitsfeinde sind? Zu hoffen ist es immerhin.
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