Mit offenen Augen in den Niedergang. Italien vor den Parlamentswahlen.
Der Wahlkampf ist von Gegnerbeschimpfung geprägt. Inhalte zählen kaum. Die Parteienlandschaft ist fragmentiert, rechte Populisten liegen in den Umfragen vorn. Eine liberale, proeuropäische Kraft ist nicht in Sicht. Italien droht in einen langsamen Niedergang abzurutschen.
Am 4. März finden sie statt, die Parlamentswahlen in Italien, und einmal mehr erscheint die politische Landschaft gleichermaßen chaotisch und ideenarm. Liegt es an der bleiernen Politikmüdigkeit der Italiener, dass die meisten Parteien sich schon gar nicht mehr zu programmatischen Vorschlägen bemüßigt fühlen, die auf Machbarkeit überprüft werden könnten? Nicht zuletzt im Hinblick auf die Staatsschulden wäre das eigentlich angebracht.
So oder so, auch ohne glaubwürdige, nachvollziehbare Zahlen, liegt auf der Hand, dass viele Forderungen der verschiedenen politischen Gruppen absolut unrealistisch sind. Worauf konzentriert sich also die politische Debatte? Nur aufs Bauchgefühl? Es sieht fast so aus: in Italien zielen Wahlveranstaltungen in erster Linie darauf ab, Gegenkandidaten zu verunglimpfen. Wähler vom eigenen Programm zu überzeugen, ist eher sekundär. Entsprechend ist es kaum überraschend, dass der populistische Appell an die Emotionen der Wutbürger zur Standard-Taktik geworden ist. Allein steht Italien damit allerdings nicht: der Trend lässt sich ja auch in anderen Demokratien Europas verfolgen.
Trotz der allgemeinen inhaltlichen Leere lohnt sich ein Blick auf die neuen Regeln und die Hauptakteure der kommenden Wahlen.
Das italienische Parlament besteht aus zwei Kammern, weshalb der Wähler sein Kreuz auf zwei Wahlzetteln machen muss. Ein Kreuz für die 630 Mitglieder der Abgeordneten-Kammer, und eins für den Senat, der immer noch aus 315 zu wählenden und fünf lebenslang ernannten Mitgliedern besteht, nachdem Matteo Renzis Reformversuch 2016 im Referendum scheiterte.
Das hört sich zunächst relativ einfach an, doch das im Oktober 2017 verabschiedete neue Wahlrecht ist von beachtlicher Komplexität. Es ist ein gemischtes System: 61% der Abgeordneten werden über das Verhältniswahlrecht bestimmt. 37% von ihnen, sowie die Senatoren über Direktmandate. Wie auch die übrigen 2%, die den im Ausland lebenden Wahlberechtigten vorbehalten sind.
Die Bedeutung der Auslandsitaliener sollte übrigens keineswegs unterschätzt werden. Es handelt sich um knapp 5 Millionen Menschen; ihre Zahl ist bezeichnenderweise fast genauso hoch wie die der im Land lebenden Migranten (5,3 Millionen), eine Tatsache, die offenbar nichts an der augenblicklichen Welle der Fremdenfeindlichkeit und des verschärften Diskurses gegen Migration ändert und die Situation noch bedrückender macht.
Das politische Spektrum ist extrem fragmentiert. Historisch fehlte es den Regierungen an der Fähigkeit, ausreichende Unterstützung aus dem Parlament zu erlangen. So ist das erklärte Ziel des neuen Wahlrechts, die von einem reinen Verhältniswahlrecht begünstigte exzessive Streuung der Stimmen zwischen Splitterparteien einzudämmen. Dennoch sind die verschiedenen Parteien so weit von einer stabilen Mehrheit entfernt, dass sie dazu gezwungen sind, wacklige Wahlbündnisse einzugehen. Einerseits werden diese den Wahltag kaum überleben. Andererseits machen sie die ganze politische Landschaft noch unübersichtlicher, weil Kandidaten mit sehr gegensätzlichen Ideen gemeinsam Wahlkampf betreiben.
Im Prinzip haben die Parteien zwei Optionen: sie können sich entweder allein zur Wahl stellen – in diesem Fall liegt die Sperrklausel bei 3% der abgegebenen Stimmen – oder in einer im Vorfeld angekündigten Koalition, was die Sperrklausel auf 10% anhebt. Eine der Neuheiten des Wahlsystems ist auch die Abschaffung des „automatischen Mehrheits-Bonus“ für die Gruppierung, die auf über 40% der Stimmen kommt.
Den letzten veröffentlichten Umfragen zufolge wird ein Sieg der rechten Koalition erwartet. Diese Koalition bringt folgende Parteien zusammen:
- Forza Italia – die, wie Fußballfreunde wissen, nach einem Schlachtruf für die „squadra azzurra“ benannte Partei Berlusconis, für die Berlusconi selbst fleißig Wahlkampf betreibt, obwohl er nach einer Verurteilung wegen Steuerbetrugs gar nicht selber gewählt werden kann;
- Die Lega Nord – die im reichen Norden beheimatete, fremdenfeindliche und vormals separatistische Regionalpartei, die jetzt, um auch im eigentlich verhassten Süden Stimmen zu gewinnen ihre Sezessions-Agenda als „Föderalismus“ verkleidet hat;
- Die Fratelli d’Italia – eine postfaschistische, nationalistische und stramm konservative Partei, deren Namen der ersten Zeile der Nationalhymne entlehnt ist. Es handelt sich um einen Spin-Off von Berlusconis Partei, aus der Zeit, als der „Cavaliere“ in juristische Schwierigkeiten geriet; aber jetzt ist man sich wieder einig.
Den beiden letzteren Parteien ist gemein, dass sie dem französischen Front National sehr nahe stehen und entsprechend stark euroskeptisch eingestellt sind. Wo genau in dieser in deutschen Medien oft als „Mitte-Rechts“ bezeichneten Koalition die „Mitte“ sein soll, ist nicht wirklich zu erkennen.
Beppe Grillo vom Movimento 5 Stelle auf einer Wahlkampfveranstaltung 2013 in Trento.
An zweiter Stelle der Wählergunst liegt augenblicklich das Movimento 5 Stelle (Bewegung 5 Sterne), die inzwischen sattsam bekannte anti-Establishment- und anti-EU-Bewegung. Nachdem sie jetzt das Rathaus von Rom erobert hat, ist sie mittlerweile selbst in Missmanagement und Skandale in der Hauptstadt verwickelt. Dazu kommt, dass verschiedene Äußerungen prominenter Mitglieder einen akuten autoritären oder gar illiberalen Drift befürchten lassen. So ertönte die Forderung nach Berufsverboten für unliebige Journalisten, die angeblich bereits auf einer „schwarzen Liste“ stehen.
Und dann ist da noch die Linke, derzeit definitiv nicht in Hochform. Neben Renzis Partito Democratico gehört dazu die Partei Liberi e uguali („Frei und gleich“), die 2016 nach dem von Renzi verlorenen Referendum um die Verfassungsreform von linken Dissidenten gegründet wurde. Sie werben um Bürger, die von der Renzi-Regierung enttäuscht waren. Aber diese Partei hat nichts Frisches oder Neues an sich: sie besteht aus seit langem etablierten Politikern, und indem sie zur weiteren Fragmentierung der Linken beiträgt, erhöht sie die Chancen der Rechten oder der „5 Sterne“.
Der Kontext schreit geradezu nach dem plötzlichen Auftauchen einer Verkörperung der liberalen und resolut pro-europäischen Mitte. Aber ein deus ex machina wie „En marche!“ in Frankreich ist nicht auszumachen. Die von Emma Bonino ins Leben gerufene neue Bewegung +Europa (ausgesprochen „piu Europa“) wurde erst im November 2017, also viel zu spät lanciert und ist noch zu schwach für diesen Wahlkampf.
So geht Italien nun, relativ ratlos, auf die Wahlen zu. Soll man den Umfragen trauen? Eine große Zahl der Wähler hat sich noch nicht entschieden. Und viele werden gleich ganz zu Hause bleiben. Sie ahnen, dass Italien, bei welchem Ergebnis auch immer, keine Regierung bekommen wird, die von Dauer sein könnte. So wie sie’s gewohnt sind seit 1946, als die neu eingeführte Republik ihre erste von mittlerweile über 60 Regierungen wählte.
Dabei weiß jeder, dass diese chronische Instabilität eine Hauptblockade für den Neustart der italienischen Wirtschaft und, vielleicht noch viel wichtiger, der italienischen Gesellschaft ist. Das langsame, unaufhaltsame Abrutschen in den dauerhaften Niedergang, mit offenen Augen, aber ohne einen Macron in Sichtweite – ist dies das italienische Schicksal der kommenden Jahre?
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