Nahost: Welcher Strategie folgen die gezielten Tötungen der Terrorführer?

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Nach der gezielten Tötung von Hizbollah-Vize Fuad Shukr und Hamas-Führer Ismail Haniyeh droht Israel ein von Iran gesteu­erter Vergel­tungs­an­griff und womöglich ein großer Krieg. Richard C. Schneider über den möglichen Sinn von gezielten Tötungen und die Frage, welche Strategie Israels Premier­mi­nister Benjamin Netanyahu damit verfolgt.

Während dieser Artikel verfasst wird, hat der Vergel­tungs­an­griff des Iran und der Hizbollah gegen Israel noch nicht statt­ge­funden. Er wurde angekündigt als Reaktion auf zwei gezielte Tötungen der Israelis. Die eine fand mitten in Beirut statt, wo Fuad Shukr, die Nummer zwei der Hizbollah, in einer Wohnung durch eine präzi­si­ons­ge­steuerte Rakete getötet wurde. Die zweite geschah mitten in Teheran, sozusagen direkt vor den Augen des gesamten irani­schen Regimes. Hamas-Führer Ismail Haniyeh wurde im Zimmer seines Gäste­hauses getötet. Sehr wahrscheinlich durch eine Bombe. Israel hat für die Tötung Shukrs die Verant­wortung übernommen, nicht aber für die Haniyehs. Doch niemand im Nahen Osten zweifelt daran, dass der Geheim­dienst Mossad auch hier zugeschlagen hat. Die Operation trägt die Handschrift Israels.

Droht nun ein großer Krieg?

Nun also droht ein all-out-war. Iran und die Hizbollah sind brüskiert und wollen nun mit einem noch nie dagewe­senen Großan­griff die Lage eskalieren lassen. Israel wiederum hat mit entspre­chender Vergeltung gedroht, die USA haben Flugzeug­träger und Kampf­flug­zeuge in Stellung gebracht und Iran gewarnt.

Der Nahe Osten, die ganze Welt hält den Atem an. Wird die Region in eine Katastrophe stürzen? Kommt der Krieg, den niemand will und der doch in den Köpfen vieler in einer fernen Zukunft stets befürchtet wurde? Ist diese Zukunft jetzt da? Angesichts dieser Bedro­hungslage stellt sich die Frage, wie sinnvoll die beiden gezielten Tötungen der Israelis waren, wie sinnvoll gezielte Tötungen überhaupt sind.

Strategie der gezielten Tötungen

Die Strategie der gezielten Tötungen ist kein Allein­stel­lungs­merkmal der Israelis. Natürlich haben auch andere Länder – die USA und Russland, um nur zwei zu nennen – ihre politi­schen Feinde auf diese Weise liqui­diert. Israels Aktionen aber sind allein deshalb stets im Mittel­punkt des öffent­lichen Inter­esses, weil sie häufig spekta­kulär sind, wie zuletzt die Opera­tionen in Beirut und Teheran.

Doch sei’s drum. Die Gier der Massen nach Sensa­tionen ist das eine. Das andere ist tatsächlich die Fähigkeit der israe­li­schen Geheim­dienste, immer wieder auf den Punkt genau eine bestimmte Person auszu­machen und unter den ungewöhn­lichsten Umständen auszu­schalten. Der Effekt, den so eine Operation hat, ist klar: Sie erschrickt und verun­si­chert den Feind zutiefst, denn offen­sichtlich gelingt es den Israelis, tief in die Struk­turen von Terror­or­ga­ni­sa­tionen und Staaten einzu­dringen, die überzeugt sind, alles Menschen­mög­liche zu tun, um genau so etwas nicht zuzulassen. Der psycho­lo­gische Effekt einer gezielten Tötung ist ein wichtiges Element dieser Strategie.

Terror­or­ga­ni­sa­tionen als vielköpfige Hydra

Verun­si­cherung – das ist es dann gewesen? Wenn man die Geschichte der gezielten israe­li­schen Tötungen am Beispiel der Hamas anschaut, mag sich das tatsächlich fragen. Wie oft hat Israel Hamas-Führer in Gaza und im Ausland ausge­schaltet. Das Ergebnis war immer das gleiche: Rasch ersetzte die Hamas den Getöteten, der Kampf ging weiter. Manchmal schaltete Israel Führungs­fi­guren der Hamas mit spezi­ellen Kennt­nissen aus, etwa beim Bauen von Bomben. Doch es dauerte nie lange, bis die Islamisten dieses Know-How wieder­erlangt hatten und mit Hilfe des Iran auch noch ausbauen konnten. Und was die Ausschaltung politi­scher Köpfe betrifft: Nach jeder Tötung kam zumeist ein Nachfolger, der noch radikaler war. Was also bringen solche Opera­tionen wirklich?

Verun­si­cherung als Mittel psycho­lo­gi­scher Kriegsführung

Am Beispiel der getöteten paläs­ti­nen­si­schen Atten­täter der Olympi­schen Spiele von 1972 wird die Botschaft Israels klar. Es war nicht nur ein Racheakt, sondern auch eine grund­sätz­liche Ansage an den Terro­rismus: Eure Taten bleiben nicht ungestraft, wir kriegen euch, ganz egal, wo ihr euch versteckt. Auch wenn sie nach außen hin wirkungslos erscheint – wer sich etwa in Beirut in diesen Tagen umhört, erfährt schnell, wie irritiert und besorgt die Hizbollah ist. In Teheran dürfte das ganz ähnlich sein. Eine gezielte Tötung schafft dazu noch Misstrauen. Wer hat im aller­engsten Umkreis der Getöteten mit den Israelis zusam­men­ge­ar­beitet, wer ist ein Spitzel? Und selbst wenn man die Verant­wort­lichen erwischt – oder so tut, als ob man die Richtigen erwischt, weil man zeigen muss, dass man die eigenen politi­schen und militä­ri­schen Struk­turen im Griff hat – in den beiden aktuellen Fällen wissen Hizbollah und Teheran nicht, wo sich mögli­cher­weise weitere Agenten des Mossad befinden. Die Verun­si­cherung bleibt.

Stärke demons­trieren

Gezielte Tötungen sind also immer nur Teil einer größeren Kriegs­stra­tegie, um den Feind, wenn schon nicht sofort zu besiegen, ihn aber doch zumindest immer wieder für kurze Zeit aufzu­halten und durch­ein­ander zu bringen. Doch es gibt noch einen wichtigen Aspekt solcher Opera­tionen: Sie steigern das Selbst­be­wusstsein des ausfüh­renden Staates, in diesem Fall Israel. Aktuell ein nicht unwich­tiger Faktor, wenn man bedenkt, wie angeschlagen das Ansehen der Geheim­dienste und der Armee sind angesichts ihres völligen Versagens am 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Massakers, an dem 1200 Israelis abgeschlachtet und verge­waltigt und etwa 250 Menschen als Geiseln nach Gaza entführt wurden. Daher mag so ein „Boost“ in vielen Fälle entschei­dender sein als der tatsäch­liche strate­gische Erfolg einer solchen Aktion. Die beiden Opera­tionen in Beirut und Teheran waren ein Signal für die Feinde Israels, aber mehr noch für die eigene Bevöl­kerung: Wir können’s noch!

Unabsehbare Folgen

Doch der Jubel und die Genug­tuung der Israelis über die Tötung zweier Terro­risten, an deren Händen viel jüdisches Blut klebte, war nur von kurzer Dauer. Die Ankün­digung einer außer­or­dent­lichen Vergeltung hält ganz Israel in massivster Anspannung. Insofern stellt sich letzt­endlich immer die Frage, ob eine gezielte Tötung wirklich einen militä­ri­schen „Mehrwert“ hat, vor allem aber, ob der Zeitpunkt einer solchen Operation politisch sinnvoll ist. Zumindest bei der Tötung Ismail Haniyehs ist diese Frage offen­sichtlich. Über den Hamas-Führer liefen in den vergan­genen Monaten die Verhand­lungen zur Befreiung der israe­li­schen Geiseln. Freund und Feind Israels fragten nicht zu Unrecht, ob Israel sich mit dessen Liqui­dierung nicht selbst geschadet hat.

Netan­yahus ungeklärte Absichten

Womit man schnell bei Israels Premier Benjamin Netanyahu landet. Seine Gegner im eigenen Land werfen ihn schon seit Monaten vor, dass ihm die Geiseln egal sind und er den Krieg in die Länge zieht, um sich an der Macht halten zu können. Denn sowie es einen Waffen­still­stand gäbe, wäre er am Ende. Die große Mehrheit der Israelis wollen, dass er geht. Befahl Netanyahu die Tötung Haniyehs also aus eigen­nüt­zigen Gründen oder hat er tatsächlich ein größeres Ziel vor Augen? Diese Frage wird man erst später beant­worten können – nach dem angekün­digten Vergel­tungs­schlag der Feinde Israels und allem, was dann folgen könnte.

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