Reißt die Gebirgstapeten runter! Warum tun sich die Grünen mit Heimat so schwer?
Peter Unfried findet, Liberal-Progressive dürfen die Heimat nicht rechtsnational liegen lassen. Die Grünen sollten den Begriff im neuen Grundsatzprogramm deshalb zeitgemäß prägen.
Heimat war der Ort, aus dem wir flohen. Ein von CDU, Katholizismus, Volksmusik und Vollsuff verseuchtes Konformisten-Kaff, das nur eine ordentliche Straße hatte. Diejenige, die aus ihm hinausführte. CDU, Kirche und Schule waren die autoritäre, anti-emanzipatorische Macht; wer sie in Frage stellte, kriegte zuhause gleich noch eine reingesemmelt. Volksmusik und Vollsuff waren die traditionell gepflegte Kultur. Wobei man sagen muss, dass auch wir soffen, aber das war etwas anderes. Wir soffen im progressiven Widerstand gegen diese inakzeptablen Verhältnisse.
In Österreich hat der Grüne Bundespräsident Alexander van der Bellen gewonnen, weil er eine fast kinderbuchartige Formel gefunden hat, die Heimat offen und liberal beschreibt: Heimat ist der Ort, an dem die, die schon immer da waren und die, die neu dazugekommen sind, gut miteinander leben.
Ich landete dann in Berlin-Kreuzberg, was ziemlich ironisch ist, wobei ich allerdings lange brauchte, um zu kapieren, dass das nicht das Gegenteil einer geistig engen und strukturkonservativen Heimat war. Was mich direkt zu einem Tweet von Daniel Wesener bringt, einer aus dem Führungs-Triumvirat des in Kreuzberg herrschenden Grünen-Clans. Er schrieb unlängst: „Ein gutes hat dieser ganze #Heimatministerium-Quatsch ja: Die peinlichen Versuche, den historisch belasteten Begriff „Heimat“ links-progressiv umzudeuten, werden damit endgültig ad absurdum geführt.“
Heimat entstauben
Dahinter steckt eine geistige Schule, die ich „Kreuzberger Denken“ nenne. Ihr Kernsatz lautet: Was früher richtig war, kann heute nicht falsch sein. Und früher war es richtig, Heimat schlimm zu finden. Nazi-verseucht. Und wer jetzt im Angesicht des 21. Jahrhunderts neu darüber nachdenkt, ist peinlich und nicht mehr links-progressiv. Andrea Nahles würde hinzufügen: Bätschi.
Anklänge davon kann man auch beim Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner finden, der den Begriff „Heimat“ schnell mal für unpolitisch erklärt und dafür lieber „Solidarität entstauben“ will. „Entstauben“ ist auf jeden Fall schon mal die richtige Idee. Die Frage ist nur: Wen oder was?
Nun muss man damit klarkommen, dass es Worte gibt, bei denen sich anderen die Nackenhaare stellen. Ich kenne Linke und Liberale, denen das auch beim Begriff „sozialökologische Transformation“ so geht. Das widerstrebt ihnen körperlich (und kulturell). Anderen Milieus geht es so bei „Gender Mainstreaming“.
Aber warum triggert „Heimat“ so, dass die einen ein Show-Ministerium draus machen und die anderen sofort böse Männer in Stiefeln marschieren sehen (wollen)?
„Ich-Wir-Verlust“
Weil es sich vor einem Hintergrund abspielt, in dem Konflikte von denen, die sie emotional schüren, wieder verstärkt über Ethnie, Religion, Klasse und Nation erklärt werden. Im rechtsnationalen Kontext wird von „Volk“ gesprochen, im linksnationalen von „Arbeitern“.
Das zunehmende diffuse Gefühl der Unsicherheit, des Unkontrollierbaren, der schlechteren Zukunft, der abnehmenden oder fehlenden Teilhabemöglichkeit wird in ein Bild gefasst, mit dem es beschreibbar und sichtbar scheint: Heimatverlust. Dieser Heimatverlust ist aber im Kern ein Ich-Wir-Verlust. Es geht nicht um das Fehlen von Volksmusik, Natur oder des Schweinsbratens von der Oma: Es geht darum, dass man sich selbst nicht mehr als Teil von etwas sieht und verorten kann.
Heimat, um das mal ganz hart zu sagen, ist da, wo man jemand ist. Das heißt nicht, dass man Premium-Status hat. In einem Dorf kannst Du der Sepp sein, der die Bauer Theres geheiratet hat, im Sägwerk arbeitet, im Gesangverein singt und früher beim TSV ein eisenharter Vorstopper war. Soweit okay, der Sepp, sagen sie. Manche sagen auch: Oh, Gott, dieser Sepp.
Heimat heißt nicht, dass einen alle gut finden. Es heißt aber, dass man einen Namen hat und ein Gesicht.
Den Heimatbegriff zukunftsoffen besetzen
Und Alarmstufe rot herrscht, wenn jemand – ob Großstadt oder Dorf – sagt: „Man kennt ja gar niemand mehr“. Das Problem sind dann nicht die Zugezogenen und die ganzen Leute, die er nicht kennt – in der Stadt ist das noch offensichtlicher – sondern dass seine Teilhabe-Strukturen schrumpfen und damit er selbst. Bäcker, Kneipe, Verein, Schule, Fußballjugendteam, wenn eins nach dem anderen wegfällt, was man als das Eigene begreift, dann kann es passieren, dass man das Gefühl hat, von „Fremdem“ umzingelt zu sein. Das ist man sowieso durch die Pluralisierung und zunehmende Individualisierung, die das Dorf genauso betrifft wie die Großstadt. Es gibt nicht nur unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander. Es gibt nicht mal mehr Vollidentitäten, man ist immer etwas und auch etwas anderes und nochmal was ganz anderes. Das ist der Preis der Aufklärung, der Emanzipation und Liberalisierung der Gesellschaft, und es ist ein guter Preis. Nur tun sich manche zunehmend schwer damit. Das macht die einen anfällig für fremden- und zukunftsfeindliche illiberale Parteien und Bewegungen. Und auch Leute, die sich für „progressiv“ halten, verleitet es dazu, in der scheinbaren Sicherheit des progressiven Denkens einer untergegangenen Welt hängenzubleiben.
Selbstverständlich spielt das Sozialökonomische eine zentrale Rolle, ob man Teil von etwas ist oder nicht. Es sind daher die sozialignoranten Nationalisten – rechtsaußen wie linksaußen – die die Heimat am meisten bedrohen, indem sie verantwortungs- und zukunftskonzeptlos davon schwafeln.
Und dennoch darf man nicht von Heimat schweigen: Die Verteidigung der liberalen Demokratie gegen die autoritäre Konkurrenz beginnt bei der rhetorischen und politischen Bearbeitung des Heimatverlustgefühls. Sonst überlässt man dieses Gefühl heimeligen Nostalgieflächen von vermeintlicher Geborgenheit im autoritären Kapitalismus oder autoritären Sozialismus. Oder vermeintlichen Konservativen wie ÖVP und CSU, die denen hinterherrennen.
Dieses Gefühl der Verlorenheit gibt es übrigens auch in Ländern, die das Wort Heimat nicht haben. Deshalb ist das keine Frage des Begriffes und hochpolitisch, weil an dieser emotionalen Glutstelle das Denken die Richtung ändern kann: zum Schlechten, aber auch zum Besseren. Es geht darum, die Heimat nicht rechtsnational liegen zu lassen, sondern sie zeitgemäß zu deuten: Wenn die Grünen jetzt ein neues Grundsatzprogram schreiben wollen, und „Heimat“ darin kein einziges Mal auftaucht, dann können sie es gleich bleiben lassen.
Heimat ist da, wo du ein Teil von etwas bist.
Österreichs Grüner Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat den autoritären FPÖ-Gegner nicht geschlagen, weil er den Leuten gesagt hat: Ach, leckt mich doch am Arsch mit eurer Heimat, ihr Nazis. Oder: Versucht’s doch mal mit Solidarität. Ist eh besser.
Nein, er hat gewonnen, weil er eine fast schon kinderbuchartige Formel gefunden hat, die Heimat offen und liberal beschrieben hat und mehrheitsfähig war: Heimat ist der Ort, an dem die, die schon immer da waren und die, die neu dazugekommen sind, gut miteinander leben.
Damit das hinhaut, braucht es zivilgesellschaftliche und neue sozialpolitische Strukturen, die Teilhabe unter den Bedingungen einer sich radikal verändernden digitalen Postmoderne anders als über Erwerbsarbeit definiert. Aber auch Verantwortung.
Heimat ist da, wo du ein Teil von etwas bist. Es ist eben, anders als manche denken, keine geistige Gebirgstapete oder sentimentale Jugenderinnerung, es ist der konkrete Ort, wo die eigene Verantwortung für das Ganze beginnt und aktiv ausgeübt werden kann. Die Grünen Heimat-Kritiker sind gebildete, gutverdienende Menschen, die an einem Ort Namen und Gesicht haben und Verantwortung ausüben. Sie haben eindeutig eine Heimat. Dieses Grundbedürfnis müssen sie anderen auch ermöglichen.
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