Nach Trump 2: Medien, Politik und Wissenschaft

Foto: Shutterstock Ilyas Tayfun Salci
Foto: Shut­ter­stock Ilyas Tayfun Salci

In der Epoche der Selbst­re­dak­teure breitet post­fak­ti­sches Denken sich viral aus. Das berührt auch das Feld der Wissen­schaft, deren Bedeutung der Welt 2020 bewusster denn je wurde. Der zweite von zwei Teilen eines philo­so­phi­schen Einordnungsversuchs.

Der Post­fak­ti­zismus als Teil eines Angriffs auf die Vernunft hat das Potenzial, die liberale Demo­kratie und das Programm der modernen Aufklä­rung an der Wurzel zu treffen. Das ist die bittere Erfahrung aus vier Jahren Trump – auch wenn die Dämme, das heißt in diesem Fall die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen der USA, einem solchen Angriff noch einmal stand­ge­halten haben. Aber was lässt sich aus dieser Erfahrung lernen? Welche Dämme müssen gegen den Post­fak­ti­zismus verstärkt oder auch neu aufge­schüttet werden? Hier sind nicht zuletzt Medien, Politik und Wissen­schaft gefordert. Denn sie sind ja nicht bloß Spiel­felder der Ausein­an­der­set­zung, sondern haben zugleich einen Akteurs­status. Vieles hängt davon ab, dass sie sich der Verant­wor­tung stellen und aus den durchaus prekären Zeit­geist­läuften die richtigen Schluss­fol­ge­rungen ziehen.

Dazu gilt es, beide Erwei­te­rungs­lo­giken im Blick zu haben, die gegen­wärtig mitein­ander ringen, nämlich die der popu­lis­ti­schen Rede, der eine eska­la­to­ri­sche Logik der Erwei­te­rung und Vertie­fung des Wir-gegen-Sie-Gegen­satzes innewohnt, und die Erwei­te­rungs­logik des aufklä­re­ri­schen Geistes, die sich gegen­wärtig in einem etwas zerzausten Zustand befindet. Wir sahen, wie letzterer bei Kant angelegt war. Der öffent­liche Gebrauch der Vernunft sollte zunächst für die Welt der Gelehrten erkämpft werden. Sie sollten – selbst an die strenge Logik der wissen­schaft­li­chen Argu­men­ta­tion gebunden – gegenüber dem sich bildenden Publikum die Gate­keeper der Aufklä­rung sein. Mit der Rede- und Pres­se­frei­heit rückten die Redak­teure einer aufklä­re­ri­schen Presse in diese Gate­keeper-Funktion ein – und behielten sie bis vor wenigen Jahren in einer sich histo­risch um Funk und Fernsehen erwei­ternden Medi­en­land­schaft. Doch eine populäre und sich im Interesse von Gewinn­ma­xi­mie­rung oder poli­ti­scher Einfluss­nahme häufig ins Popu­lis­ti­sche kehrende Welt der Klatsch­presse und des Boule­vards beglei­tete die Entwick­lung von Anfang an. Die Blame Games und Spektakel des heutigen Popu­lismus haben eine lange Geschichte.

Es sollte nicht verwun­dern, dass die gegen­sätz­liche Entwick­lung sich nun weiter fortschreibt.
Die durch Digi­ta­li­sie­rung technisch erwei­terte Kommu­ni­ka­tion hat viele neue Akteure auf dem Spielfeld. Mit Social Media sind alle Nutzer poten­ziell zu ihren eigenen Chef­re­dak­teuren geworden. Jeder und jede kann nun selbst berichten und kommen­tieren, Beiträge anderer liken oder disliken, teilen und weiter­leiten. Gleich­zeitig haben die klas­si­schen Quali­täts­me­dien ihre Gate­keeper-Funktion teilweise eingebüßt. Damit werden auch Standards, die für sachliche Wahrheit und Relevanz der Bericht­erstat­tung, für ethisch-kommu­ni­ka­tive Rich­tig­keit oder logisch-argu­men­ta­tive Folge­rich­tig­keit in der Kommen­tie­rung einstehen zunehmend in Frage gestellt.

Die Selbst­re­dak­teure in Social Media wissen zumeist wenig über die Quali­täts­kri­te­rien und das Berufs­ethos des Jour­na­lismus. Und mit Boule­vard­me­dien und popu­lis­ti­scher Politik sind ja auch laut­starke Player auf dem Feld, die nicht gerade die besten Vorbilder abgeben. Zudem wird die Emotio­na­li­sie­rung der Posts durch die Algo­rithmen der Platt­formen weiter angeheizt. Die Nutzer erhalten durch eine emotio­na­li­sierte Kommu­ni­ka­tion größere Reich­weiten – und pushen gleich­zeitig die Reich­weiten für kommer­zi­elle Werbung, die die Platt­formen damit verbreiten. Die Erwei­te­rungs­logik des Spek­ta­kels, der starken Emotionen, der Beschä­mung, Anfein­dung und Triba­li­sie­rung schafft sich seine selbst verstär­kenden Kreis­läufe und mündet nur zu leicht in einer Logik der Eska­la­tion und Radi­ka­li­sie­rung, in der Hass immer mehr Hass erzeugt.

Wenn einer solche Logik gegenüber die Logik von vernünf­tiger Rede und Aufklä­rung eine Chance haben soll, dann muss sie sich selbst mit einigem Nachdruck auf den Feldern der neuen sozialen Medien geltend machen. Das geht nur sehr begrenzt durch Verbote. Natürlich ist Hassrede im Internet zu bekämpfen. Und Regu­la­tionen der Platt­formen sind wichtig. Doch der Gesetz­geber und der Staats­an­walt können nicht die einzigen oder gar wich­tigsten Instanzen sein. Nötig ist vor allem eine nach­hal­tige Erwei­te­rung der Medi­en­kom­pe­tenzen, die den Nutzern Perspek­tiven eröffnen, wie sie für den quali­täts­vollen Jour­na­lismus leitend sind.

Auch bei dieser Aufgabe kann das Modell der ratio­nalen und sach­an­ge­mes­senen Rede Orien­tie­rung geben. Denn es liefert ja auch das Grund­mo­dell der Ratio­na­lität, die sich in Quali­täts­me­dien verkör­pert – und übrigens auch in demo­kra­ti­scher Politik und verant­wort­li­cher Wissen­schaft. Die funda­mental wichtige Unter­schei­dung zwischen Sachstand und These in der bera­tenden und der Gerichts­rede kehrt im Medi­en­be­trieb in der Grund­un­ter­schei­dung zwischen Bericht und Kommentar wieder. Medien berichten darüber, was geschehen ist. Die berühmten sieben W‑Fragen: Wer, Was, Wo, Wann, Wie, Warum, Woher stecken die Grundzüge eines fakti­schen Gesche­hens ab, über das zu berichten ihr Infor­ma­ti­ons­auf­trag ist. Die darüber hinaus gehenden Einschät­zungen und Wertungen, die in der klas­si­schen Rede der These vorbe­halten sind, erfüllt der Pres­se­kom­mentar. Er nimmt Stellung zum Geschehen, ordnet ein, wertet und ist mutig auch im Vortragen sach­an­ge­mes­sener Kritik. Und er eruiert prak­ti­sche Hand­lungs­mög­lich­keiten und Folgen. Damit treibt er die öffent­liche Debatte voran.

Der Medi­en­wis­sen­schaftler Bernhard Pörksen hat die Ansprüche, mit denen auch die Selbst­re­dak­teure in den sozialen Medien zu konfron­tieren sind, im Leitbild einer „redak­tio­nellen Gesell­schaft“ zusam­men­ge­fasst. Die Standards und Kompe­tenzen der alten Gate­keeper im profes­sio­nellen Medi­en­be­trieb müssen – zumindest ihren Grund­zügen nach – zu Allge­mein­kom­pe­tenzen der Social-Media-Nutzer werden. Das ist heute eine Grund­auf­gabe für eine nicht nur tech­ni­sche, sondern auch aufklä­re­ri­sche Erwei­te­rung der sozialen und poli­ti­schen Kommu­ni­ka­tion, und ohne Zweifel auch eine große und dring­liche Aufgabe für Medi­en­bil­dung an Schulen und sonstigen Bildungs­ein­rich­tungen. Sie müssen unbedingt ein Grund­wissen um Medi­en­ge­schichte und medialen Macht­ver­hält­nisse und die Fall­stricke von Irrtum, Fake und Falsch­be­haup­tung sowie eine Ethik des Sprechens in der Medi­en­welt vermitteln.

Aber es ist auch eine konkrete Aufgabe für das Learning by Doing in einer prak­ti­schen Medi­en­nut­zung, in der sich die Zivil­ge­sell­schaft heute über viele Milli­arden Accounts einzelner Nutze­rinnen und Nutzern hinweg mit sich selbst ins Benehmen setzt. Und es ist auch eine Aufgabe von Bloggern und Usern mit größerer Reich­weite. Die Beiträge des Video­blog­gers Rezo sind hier in mancher Hinsicht vorbild­lich. Denn sie führen den Betrach­tern vor Augen, welche Quali­täts­stan­dards für eigene Beiträge zu poli­ti­schen und sozialen Themen eigent­lich relevant sind – vom Fakten­check über Quel­len­an­gaben bis hin zu Trans­pa­renz und auch Selbst­kritik am eigenen Tun.

Entspre­chende Aufgaben haben auch die Macher der klas­si­schen Quali­täts­me­dien. Sie sollten ihre Standards und ihr Berufs­ethos gegen Boule­var­di­sie­rung und eine Spek­ta­kel­me­dia­lität vertei­digen, die sich als Antwort auf den ökono­mi­schen Druck durch den Rückgang von Auflagen und Werbe­ein­nahmen nur zu leicht aufdrängt. Und sie sollten über das Ethos und die Standards auch reden und immer wieder heraus­stellen, dass es sie überhaupt gibt. Und in der Medi­en­epoche der Selbst­re­dak­teure auf Social Media sind solche Winke und Hinweise aus dem profes­sio­nellen Bereich nicht nur im zivilen Aufklä­rungs­sinne wichtig. Sie sind wichtig auch als Hinweise darauf, dass die Herstel­lung jour­na­lis­ti­scher Quali­täts­pro­dukte viel Aufwand und Sorgfalt erfordert und nicht umsonst zu haben ist.

Poli­ti­sche Debatte: Gegner oder Feind?

Auch die Politik ist im Kampf der beiden Diskurs­lo­giken, die sich heute gegen­über­stehen, Spielfeld und Akteur zugleich. Deswegen kommt der Art und Weise, wie sie Debatten führt, besondere Bedeutung zu. Die Eska­la­ti­ons­logik der popu­lis­ti­schen Rede ist verfüh­re­risch, nicht nur in Wahl­kämpfen, sondern auch als Schall­ver­stärker der Tages­mo­bi­li­sie­rung. Zahl­reiche popu­lis­ti­sche Parteien finden in einer Mobi­li­sie­rung an sich bereits ihren Daseins­zweck. Sie betreiben eine von Sach­in­halten befreite, über weite Strecken voll­kommen beliebige Politik. So hat auch die Corona-Politik der AfD ein 180-Grad-Ziel in Sachen inhalt­li­cher Flexi­bi­lität  erreicht, als sie ihre Forde­rungen aus dem März nach einem striktem Lockdown und Ausgangs­sperren bald schon in einen verwahr­losten Ego-Libe­ra­lismus Trump­scher Prove­nienz verkehrte. Aus der Forderung nach einem „Corona-Kabinett“ wurde schnell die Denun­zia­tion einer vermeint­li­chen „Corona-Diktatur“. Ebenso glaubt die AfD, dass der laut­starke Protest gegen die vermeint­lich frei­heits­ein­schrän­kenden Auswir­kungen eines Masken­ge­bots die richtige Antwort auf das Sterben in den Inten­siv­sta­tionen sei. Doch in dieser Wendig­keit bleibt eine Konstante. Die wech­selnden Sach­in­halte von Politik sind gleich­blei­bend ein Vehikel der perso­na­li­sie­renden Blame-game-Politik. Ob die Regie­renden das Volk nun nicht genug oder zu sehr vor Corona schützen – sie tun stets das Falsche und sind auf jeden Fall der verwerf­liche Andere im Wir-gegen-die Anderen-Spiel.

Es ist hoch­ge­fähr­lich für die Demo­kratie, wenn demo­kra­ti­sche Parteien auf ein solches Spiel einsteigen – so wie konser­va­tive Parteien es in einigen Ländern bereits getan haben. Statt­dessen gilt es, mit demo­kra­ti­schen Debatten im empha­ti­schen Sinn des Wortes für das Modell der liberalen Demo­kratie einzu­stehen, um damit auch ein Vorbild zu sein für Debatten in der breiten Öffent­lich­keit und den Sozialen Netz­werken. Demo­kra­ti­sche Debatten sind engagiert und bisweilen hart, drehen sich aber stets auf einer gesi­cherten und gemeinsam respek­tierten Fakten­grund­lage um die Sache. Das, worum gekämpft und gestritten wird, sind die Thesen und prak­ti­schen Vorschläge zu einer Fakten­lage. Es geht darum, ob Vorschläge sachlich ange­messen und ziel­füh­rend sind. Die mitein­ander ringenden Personen sind entspre­chend Gegner in der Sache und keines­wegs persön­liche Feinde, zwischen denen jedes mora­li­sche Band zerschnitten ist. Die Einsicht in den Unter­schied zwischen Feind und Gegner bildet das normative Fundament der demo­kra­ti­schen Debatte.

Der post­fak­ti­sche Popu­lismus ist aber auch deshalb so gefähr­lich, weil er die Sach­aus­ein­an­der­set­zung aus dem Spiel bringt oder nur schein­haft hochhält. In seinem Sprach­system stehen Perso­nal­pro­nomen dann nur für Personen. Ein sach­li­ches Es ist nicht vorge­sehen. Das hat weit­rei­chende Folgen. Mit vom Tisch ist damit die ganze syste­mi­sche Aufklä­rung von Marx bis Luhmann, anerkennt, dass Menschen in der funk­tional ausdif­fe­ren­zierten und hoch arbeits­tei­ligen Gesell­schaft der Moderne sich nicht wie Ritter in der Ritter­rüs­tung gegen­über­stehen. Sie beziehen sich vermit­telt über komplexe Hand­lungs­sys­teme aufein­ander. Ihre Hand­lungen werden nach den Codes etwa des Finanz‑, Rechts‑, Handels‑, Medien‑, Bildungs- oder Gesund­heits­sys­tems koor­di­niert. Und zur modernen Erfahrung gehört auch, dass das nicht zwingend eine exis­ten­ti­elle Verding­li­chung der Akteure darstellen muss, sondern – wenn die Systeme denn klug und gerecht reguliert sind – auch eine wohl­tu­ende und sehr effektive Versach­li­chung ihrer Bezie­hungen sein kann. Die Ausein­an­der­set­zungen in der Politik sind heute ganz wesent­lich Verhand­lungen über die Regu­la­rien solcher Hand­lungs­sys­teme. Diese Systeme sind hier das sachliche Es, das Dritte als das gemeinsam aner­kannte Faktum, das die Basis der poli­ti­schen Debatte abgibt und bei aller Gegner­schaft auch einen sach­li­chen Kompro­miss zulässt und zumeist auch erfor­der­lich macht. Der Post­fak­ti­zismus kennt dagegen nur Freunde und Feinde. Es orien­tiert sich letztlich an einem vormo­dernen, von der bunt­sche­ckigen persön­li­chen Feudal­bande bestimmtem Prinzip der Verge­sell­schaf­tung. Trumps Umgang mit dem Welt­han­dels­system war ein Beispiel dafür. Er trak­tierte fein austa­rierte Regel­werke nach den Tages­launen eines verrückten Königs. So zerriss er den fertig ausge­han­delten TTP-Handels­ver­trag der USA mit ihren asia­ti­schen Verbün­deten. Doch auch hier schlug die Sache zurück und verschaffte dem Reali­täts­prinzip Geltung. Mit seinem Tun trieb Trump die Verbün­deten der USA in einen von China domi­nierten RCEP-Vertrag – mit noch nicht über­schau­baren Konsequenzen.

Wissen­schaft und die Dialektik von Zweifel und Sicherheit

Auch Wissen­schaft ist mit der post­fak­ti­schen Logik konfron­tiert. Dabei gilt sie gerade als Instanz der Sach­er­kenntnis, die in einer unsi­cheren und nur teilweise über­schau­baren Welt mehr Sicher­heit und Reali­täts­kon­trolle verspricht – und so häufig auch erbringt, dass sie in unserer Moderne die Religion als wich­tigste gesell­schaft­liche Verge­wis­se­rungs­in­stanz abgelöst hat. Und damit liefert sie auch die wich­tigste Grundlage für das Fort­schritts­ver­spre­chen der Aufklä­rung. Der Fort­schritt von Freiheit und Gerech­tig­keit, von Sicher­heit und Wohl­stands findet seine Basis in einem von der Wissen­schaft ange­lei­teten Fort­schritt des Wissens und Könnens.

Tatsäch­lich ist Wissen­schaft jedoch eine Unter­neh­mung zwischen Zweifel und relativer Sicher­heit. Und im Wissen­schafts­be­trieb ist nicht jeden Tag Nobel­preis. Weit häufiger sind Irrtum und Vergeb­lich­keit an der Tages­ord­nung. Die relative Sicher­heit, die im Ergebnis möglich wird, gründet auf ziemlich radikalem Zweifel – eine Situation, die auch in Descartes „cogito, ergo sum“ fest­ge­halten wird – einem zwei­felnden Denken, das vor lauter Zweifel diesem Denkens zumindest einen Beweis für die eigene Existenz abringen will.

Zweifel und Unge­wiss­heit sind das Ferment der forschenden Wissen­schaft. Und damit sind sie noch tiefer in das einge­spannt, was die rationale Rede mit ihren drei Haupt­teilen heraus­stellen will. Wissen­schaft kommt an ihre Fakten nicht so einfach heran, wie das in der Politik zumeist der Fall ist. Sie hat als Faktum keine Rechts­lage, die erst einmal sprach­lich fixiert ist und über deren Auslegung man dann streiten kann. Sie muss sich ihre Fakten selbst suchen. Stets ist sie dabei von Fake-Fakten bedroht, etwa von Mess­feh­lern, die eine Fakten­lage nur vorgau­keln. Oder von den eigenen theo­re­ti­schen Voraus­set­zungen, die nicht nur einen Inter­pre­ta­ti­ons­rahmen für Fakten abgeben, sondern auch eine Maschine zur Produk­tion von „Fakten“ sein können, die sich ihre eigene Fakten­welt überhaupt erst konstru­iert. Das Fakten­fun­da­ment, das die poli­ti­sche Rede und die Medi­en­be­richt­erstat­tung tragen soll – und es zumeist auch recht zuver­lässig tut -, erscheint in der Wissen­schaft oft als brüchig und wenig eindeutig. Gleiches gilt für Thesen und Anti­thesen, die auf dieser Grundlage entwi­ckelt werden. Es ist die wissen­schaft­liche Arbeit selbst, in der sie immer wieder inein­ander übergehen oder auch gegen­ein­ander mobi­li­siert werden – in der kriti­schen Selbst­be­fra­gung des Wissen­schaft­lers und in der Fach­de­batte. Der Zweifel und das Bewusst­sein um eine ganz und gar nicht eindeu­tige Forschungs­lage zeugt so gerade nicht von Inkom­pe­tenz, sondern von Serio­sität der Arbeit.

Ein besseres und breiteres Wissen um diese Dialektik von relativer Sicher­heit und Zweifel in der Wissen­schaft scheint dringend benötigt in der Ausein­an­der­set­zung mit dem Post­fak­ti­zismus. Denn der sucht ja trotz oder gerade wegen seines Nicht-Verhält­nisses zur Welt der Fakten nach „wissen­schaft­li­chen“ Belegen seiner Verlaut­ba­rungen. Das Post­fak­ti­sche ist dabei dabei nicht immer so leicht ausmachen wie bei jenem pensio­nierten Lungen­arzt, der es zum Höhepunkt der Debatte um die Schäd­lich­keit von Diesel­ab­gasen in den Innen­städten mit einer krassen fach­wis­sen­schaft­li­chen Außen­sei­ter­mei­nung breit in Talkshows, Boule­vard­presse und Social Media schaffte. Auch vom fachlich zustän­digen Bundes­ver­kehrs­mi­nister erhielt er Zuspruch für seine These, dass alles halb so schlimm sei. Tatsäch­lich stand es um die Dinge hundert Mal schlimmer als von ihm begut­achtet. Denn das war der Faktor, um den er sich verrechnet hatte.

Der Zweifel und das bestän­dige Hinter­fragen, die seriöse Wissen­schaft auszeichnen, werden in der Außen­wahr­neh­mung des Post­fak­ti­zismus zum Stein­bruch, in dem sich Belege auch für die abstru­sesten Thesen auffinden lassen. Dabei geht es nicht nur um Auftrags­for­schungen in der Nachfolge von Dr. Marlboro, sondern um den ganz normalen Wissen­schafts­pro­zess. Tatsäch­lich ist bei kaum einem Thema nur eine einzelne Studie relevant und sticht dann alle anderen aus. Nötig sind in aller Regel eine Vielzahl von Studien, Vergleichs­stu­dien und Meta­stu­dien. Sie zusammen ergeben erst eine Grundlage, auf der sich seriös Entscheiden und Handeln lässt. Die Aufklä­rung und soziale Erwei­te­rung des Wissens um die manchmal flir­renden Ambi­va­lenzen der Wissens­pro­duk­tion wird im Zeitalter der medialen Selbst­re­dak­tion und der post­fak­ti­schen Konstruk­tion von Eindeu­tig­keit immer wichtiger.

Im Innern des Wissen­schafts­pro­zesses ist sie zu ergänzen und fort­zu­führen mit dem erkennt­nis­kri­ti­schen Teil des kanti­schen Aufklä­rungs­pro­gramms. Auch hier steht ja die besondere Ambi­va­lenz zwischen Faktum und Inter­pre­ta­tion im Mittel­punkt. Das, was gemeinhin als Welt der Fakten ange­spro­chen wird, hat bei Kant einen Halt in der Welt der Dinge an sich. Das ist die Formu­lie­rung für den kanti­schen Rest­ma­te­ria­lismus, der an einer unab­hän­gigen Außenwelt festhält, sie jedoch stets auf die Leis­tungen einer mit ihren Anschau­ungs­formen und Verstan­des­be­griffen auf sie gerich­teten Subjek­ti­vität bezieht. Kants Dinge an sich sind nicht nichts. Kant ist kein Idealist, bei dem die Welt der Fakti­zität in einem konstruk­ti­vis­ti­schen Spiel aufgeht oder sich in Dekon­struk­tion verflüch­tigt. Daran ist heute wieder anzu­knüpfen. Die Massi­vität, mit der eine faktische und nur zu lange über­gan­gene Außenwelt heute zurück­schlägt – als Corona-Virus, im Arten­sterben, im neuen Wald­sterben, als Klima­er­hit­zung – macht es nötig, sie auch philo­so­phisch und theo­rie­sprach­lich wieder ange­messen anzu­er­kennen. Ein kruder Mate­ria­lismus ist aber nicht der richtige Weg. Er unter­schätzt die Rolle mensch­li­cher Konstruk­tion und Inter­pre­ta­tion am Zugang zu dieser Welt. Die Orien­tie­rung am kanti­schen Rest­ma­te­ria­lismus ist ange­mes­sener. Hier liegt dann auch eine grund­sätz­liche philo­so­phi­sche Aufgabe in der Kritik am Postfaktizismus.

Der Kampf der Diskurs­lo­giken von Post­fak­ti­zismus und Aufklä­rung ist nach Trump nicht zu Ende. Zwar hat die Erwei­te­rungs­logik der Vernunft nun bessere Chancen, wieder durch­zu­dringen, doch damit ist das geistige Trüm­mer­feld, das diese Präsi­dent­schaft hinter­lässt, nicht auch schon beseitigt. Die popu­lis­ti­sche Versu­chung ist nicht nur in den USA, sondern weltweit noch stark. Politik, Medien und Wissen­schaft sollten deshalb darüber nach­denken, was aus diesen vier turbu­lenten und auch ener­vie­renden Jahren zu lernen ist und wie sie auf ihren je beson­deren Feldern dem Post­fak­ti­zismus und den weiterhin starken anti­li­be­ralen und anti­ra­tio­nalen Tendenzen entge­gen­wirken können. Gute Anre­gungen dazu lassen sich aus einer um Fakten und vernunft­ge­lei­tetes Argu­men­tieren bemühten rheto­ri­schen Tradition entnehmen. Doch ein solches Anliegen darf nicht nur die anti­auf­lä­re­ri­schen Tendenzen, die sozusagen von außen auf sie einwirken, zurück­weisen. Sie muss sich auch der Dialektik der Aufklä­rung stellen und blinde Flecken aufklären, an denen das Aufklä­rungs­pro­jekt selbst auf Abwege geraten ist – nicht zuletzt in einer Verwahr­lo­sung der instru­men­tellen Vernunft, die den globalen ökolo­gi­schen Krisen Vorschub geleistet hat.

Textende


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