Nach Trump 1: The Blame Game
Die Präsidentschaft Donald Trumps war ein schwerer Test für die Institutionen der USA. Er etablierte Denk- und Diskursmuster, die seine Amtszeit auch im Freien Westen überdauern werden. Der erste von zwei Teilen eines philosophischen Einordnungsversuchs.
Die klassischen Programme von Vernunft und Aufklärung sind in der Krise. Und zwar nicht nur dort, wo man sie als bloße Statthalter eines universalistisch verbrämten Willens zur Macht missversteht, sondern auch dort, wo nur die Erweiterungslogik in Frage steht, durch die Aufklärung sich in Fortschrittsprogramme einschrieb. Denn auf Erweiterung waren diese Programme angelegt – darauf, dass mehr Selbstbestimmung und freie Entfaltung des Geistes möglich ist, dass wissenschaftlicher Fortschritt und Wirtschaftswachstum mehr Sicherheit und Wohlstand bringen und die Kinder es einmal besser haben können. Gemäß einer solchen Erweiterungslogik erscheinen Vernunft und Aufklärung auch in der wohl berühmtesten Aufklärungsschrift, in Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? – nämlich als Teil eines Prozesses. Sie zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Autor seinem Zeitalter abspricht, bereits ein aufgeklärtes zu sein – um es stattdessen als ein im Fortschreiten begriffenes Zeitalter der Aufklärung zu charakterisieren.
Wie Kant sich diesen Prozess näher vorstellt, verdeutlicht sein Lob der Religionspolitik Friedrichs des Zweiten, der seinen Untertanen in Glaubensdingen die Freiheit ließ. Kant sah darin einen Keim, der sich zum freien öffentlichen Gebrauch der eigenen Vernunft auswachsen sollte – angefangen mit dem freien öffentlichen Räsonieren des Gelehrten einem lesenden Publikum gegenüber, und sich erweiternd über Religionssachen, Wissenschaften, Künste und Buchmedien hinaus, um sich schließlich im öffentlichen Räsonieren der Untertanen in Sachen Gesetzgebung und eines Tages vielleicht sogar hinsichtlich der Regierungsangelegenheiten Geltung zu verschaffen. Das Grundstürzende an diesem wenige Jahre vor der französischen Revolution formulierten und aus heutiger Sicht eher zahm anmutenden Aufklärungsprogramm erhellt dann, wenn man es vor der Folie einer 1000-jährigen Geschichte des europäischen Feudalismus liest, die zu Kants Zeiten noch nicht zu Ende war.
Kants Aufklärungsprogramm lieferte den Grundstock für vieles, was nach ihm kam. Auch für Hegels Idee eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit als einer sich in einer historischen Stufenfolge erweiternden Freiheit – ein Prozess, den Hegel auch in der nachnapoleonischen Restaurationszeit noch untergründig wirksam sah. Und – so vermittelt (auch für Marx, der den Motor der Entwicklung tieferlegte) von der Welt des Geistes in die der materiellen Produktivkräfte.
Krise der Vernunft
Die heute verspürte Krise der Vernunft gründet nicht zuletzt darin, dass sich weder die bürgerlichen noch die marxisch-proletarischen Aufklärungsprogramme ungebrochen weiterführen lassen. Wichtige Problemdiagnosen lassen sich bereits Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung aus den 1940er Jahren entnehmen. Auch gegenwärtig scheint der öffentliche Gebrauch der Vernunft vielerorts wieder in eine öffentliche Artikulation von Unvernunft umzuschlagen. Populismus und Autoritarismus bedrohen die Errungenschaften des friedlichen, demokratischen Konfliktaustrags. Und eine um die ökologischen Folgen unbesorgte ökonomische Erweiterungslogik, die für mehr als 200 Jahre der Produktivkraftentwicklung in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zugrunde lag, hat mit Erderhitzung und Artensterben tiefe globale Krisen ausgelöst. Statt aufklärerische Erweiterung erleben wir eine Doppelkrise der Aufklärung, eine veritable Verwahrlosung sowohl der instrumentellen wie auch der kommunikativen Vernunft.
Auch die Erweiterungsgeschichte der Medien und der zumindest von ihren technischen Möglichkeiten her epochal erleichterten Massenkommunikation im digitalen Zeitalter, konterkariert das Bild nicht, sondern festigt und verstärkt es auf ihre Weise. Dabei hatten sich nicht zuletzt mit den neuen sozialen Medien viele Freiheits- und Demokratisierungserwartungen verbunden – bis hin zur Arabellion und der Hoffnung auf eine Pluralisierung und Liberalisierung autoritärer Staatswesen durch neue Wege der Massenkommunikation. Faktisch haben sich vielerorts staatliche Praktiken der Bespitzelung, Kontrolle und Blockade der neuen Kanäle bemächtigt. Andernorts sehen wir eine Monopolisierung durch wenige private IT-Konzerne. Und als dritter und nicht weniger wichtiger Trend kommt eine Selbstabschließung von Social-Media-Nutzern in Kommunikationsblasen hinzu, die sich wechselseitig oft nur noch feindlich-abweisend und nicht mehr argumentativ abwägend aufeinander beziehen. In der Summe läuft eine ungute Trias aus autoritärer Kontrolle, ökonomischer Monopolisierung und sozialer Tribalisierung dem erhofften und erwünschten Wirken einer aufklärerischen Erweiterungslogik bei Social Media entgegen.
Wir gegen die Anderen
Tatsächlich scheint sich hier, aber auch in vielen anderen Bereichen der Kommunikation, nicht ein demokratisch-freiheitliches Prinzip des vernünftigen Dialogs und der geistigen Öffnung und Erweiterung, sondern ein ganz anderes Ordnungsprinzip durchzusetzen – ein Prinzip der Reduktion von Komplexität durch eine archaisch anmutende Schließung, die die Welt mittels der Entgegensetzung eines Wir gegen die Anderen verständlich machen will. Ein solches Prinzip ist hinreichend einfach, um einen starken Orientierungspunkt in einer als unübersichtlich, verwirrend oder bedrohlich empfundenen Welt abzugeben. Gleichzeitig ist es in sich hinreichend spannungsvoll, um daraus eine ganze Weltnarration zu entwickeln – einen großen und epischen Kampf, in dem man auch als Social-Media-Nutzer an Smartphone und heimischem Bildschirm irgendwie mitklicken kann.
Ein solches Ordnungsschema entfaltet eine große strukturierende und mobilisierende Kraft. Gleichzeitig wäre es falsch, seine archaische Anmutung als evolutionsbiologisches Relikt zu deuten, mit dem soziobiologische Ansätze Gruppenbildungen ja im Ausgang von einer ersten und vermeintlich unhintergehbaren, primordialen Urhordensozialität eher verunklaren als erklären. Auch das konservative Bild einer unaufhebbar schlechten und darum autoritär einzuhegenden Menschennatur, das sich mit dem Soziobiologismus schnell verbindet, führt in die Irre. Möglich – und für ein zureichendes Verständnis der gegenwärtigen medialen Tribalisierungen auch nötig – ist ein sozio-kulturelles Verständnis des sich spontan und ohne größeren Aufwand einspielenden Ordnungsschemas – ein Verständnis, das von der werthaften Orientierung und Selbstvergegenwärtigung ausgeht, die zur alltäglichen sozialen Praxis gehört.
Die Matrix des Blame Game
Die Wir-gegen-Sie-Logik wirkt an vielen Orten – im negativen Alltagsklatsch ebenso wie in der Kommunikation von Social-Media-Gruppen. Sie kann auch vorsätzlich und strategisch zur Geltung gebracht werden, etwa in der Rhetorik von populistischer Politik oder von boulevardisierten Medien, die mit der Hilfe dieses Wir-gegen-die Anderen-Prinzips auf Reichweite, politische Zustimmung oder ökonomischen Erfolg zielen. Das Prinzip strukturiert nicht zuletzt die Twitter-Aktivitäten von Politikern wie Trump oder Salvini. In der Mehrzahl der Botschaften, die diese Politiker – oft mehrmals täglich – einer millionenfachen Anhängerschaft senden, bilden Blame Games die Aufhänger und Referenzpunkte – negative Werturteile über Dritte, über politische Gegner oder ehemalige Verbündete, über Migranten und Flüchtlinge, die angeblich das Land überschwemmen, über Gutmenschen, die dem nicht genug Widerstand entgegensetzen, oder über korrupte Eliten, zu denen die Tweeter selbst nicht gehören wollen. In fast jeder Äußerung finden sich entsprechende Schmähbotschaften – direkt oder über Anspielungen vermittelt. Ihr Vorhandensein ist ein starkes Kriterium dafür, dass eine populistische Äußerung vorliegt. Blame Games bilden den Kern der populistischen Kommunikation.
Sie sind auch das wichtigste sprachpraktische Mittel, um vernunftgeleitete und aufklärerische Rede zu desavouieren. Ihre kommunikative Matrix wird deutlich, wenn man sie mit dem rhetorischen Modell konfrontiert, wie es seit Aristoteles für die sachangemessene argumentative Rede entwickelt wurde. Der Unterschied erhellt vor allem am Redegegenstand, den Aristoteles´ als einen der drei Eckpunkte in der Grundbestimmung seines rhetorischen Dreiecks einführt: „Es basiert nämlich die Rede auf Dreierlei: dem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, sowie jemandem, zu dem er redet ...“ (Aristoteles 1358a f.). Diese Grundbestimmung gilt auch für die populistische Verlautbarung. Allerdings gibt es hier eine Auffälligkeit. Primärer Redegegenstand dieser Rede ist eigentlich nie eine Sache, sondern so gut wie immer eine Person oder Personengruppe. Tatsächlich ist die populistische Rede in doppelter Hinsicht personalisierend. Ihr Gegenstand ist ein personaler. Und er wird stets persönlich und gerade nicht sachlich adressiert. Er wird mit negativen Werturteilen überzogen.
Genauer lässt sich diese personalisierende Matrix an der besonderen Verwendung des Systems der Personalpronomen erschließen, in die sie sich einschreibt. Der populistische Redner und sein Hörer belegen dabei die Positionen des Ich und Du. Sie bilden eine – oft nur imaginierte und meist sehr einseitig bestimmte – Zweierbeziehung wechselseitiger kommunikativer Zuwendung. Diese aktualisiert sich, wenn das Smartphone summt und der Präsident oder Innenminister seinen Followern live und in Echtzeit mitteilt, welche neue unwerte Handlung von dritter Seite zu vermelden ist. Ich und Du versus Er, Sie oder Es – die populistische Rede aktualisiert das rhetorische Dreieck als werthaft aufgeladenen triadischen Personenbezug.
In dieser triadischen Anordung amalgamiert der Redner Narzissmus und Ressentiment, die zum psychischen Treibstoff des ganzen Vorgangs werden. In der zweisamen Innerlichkeit finden Redner und Hörer eine wechselseitige, die jeweilige Eigenliebe tragende und versichernde Bestätigung. Zur Außenseite des abgewerteten Dritten hin lebt sich dagegen Ressentiment aus, ein Anklagewillen, der den eigenen Wert im vermeintlichen Unwert dritter Personen spiegelt.
Biggest Show on Earth
Die so charakterisierte triadische Matrix ist es, die die populistische Kommunikation immer wieder neu und buchstäblich bis zum Erbrechen durchspielt. Es handelt sich um das offenkundig wirkmächtigste Sprachspiel der Welt. Und es war auch ein Weltpublikum, das in vier Jahren Trump reichlich Zeit hatte, es kennenzulernen. Mit großer Zuverlässigkeit katapultierte das Spiel die täglichen Verlautbarungen des Präsidenten auf Platz eins – und oft auch noch Platz zwei und drei – der täglichen Weltnachrichten. Trumps Mitteilungen faszinierten die Medien und belegten ein Großteil des Zeitbudgets, das viele Bürgerinnen und Bürger für politische Information aufwenden. Die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit folgte den Darbietungen des Präsidenten fast so, als wäre jeden zweiten Tag Mondlandung, Mauerfall oder ein Kampf von Muhammed Ali.
Vier Jahre Trump – das war die größte Medienshow aller Zeiten, in Gang gesetzt vom kleinen und immer wieder gleichen Trick der öffentlichen Abwertung und Demütigung eines Dritten. Es war letztlich das ins Politische gewendete Verfahren, das Trump bereits mit dem Kernsatz seiner Fernsehshow „The Apprentice“ vor großem Publikum eingeübt hatte, nämlich den Verstoßungsakt des „You are fired!“ Es ist die narzisstisch-ressentimentale Grundoperation eines sich als übermächtig imaginierenden Ich, das ein Du exkludiert und eine nicht mehr dazugehörige Drittperson aus ihm macht. Diesen Akt sollte Trump als Präsident auch im twitteröffentlichen Feuern und Schlechtreden von Mitarbeitern dutzendfach wiederholen.
Mit seinen blame games faszinierte Trump zunächst einen wachsenden Fanblock, dem er die Nähe zu sich zuletzt in einer fast religiösen Überhöhung vorgaukelte – selbst vielleicht kein Heiliger, aber gerade deshalb ein robuster Kämpfer für eine heilige Sache. In dieser Einkleidung gelang es ihm sogar, die klerikale Rechte für sich zu vereinnahmen. Die Anhängerschaft sollte die scheinbare Nähe zur täglich mehrfach eingetwitterten präsidialen Macht und der epischen Größe des Geschehens als eigene Macht, Größe und Wichtigkeit mitimaginieren.
Aber das Schauspiel funktionierte auch bei denen, die sich nicht auf der Wir-Seite des Wir-gegen-die Anderen-Spiels einfanden. Jenseits des eigenen Fanblocks faszinierte Trump mit dem Roi-Ubu-Spektakel eines Narren an der Macht, das nun vor allem von Boris Johnson gepflegt wird. Trump bot zuverlässig ein zwischen erschröcklich und vergnüglich changierendes Gothic-Erlebnis mit einem – eingestanden oder nicht – hohen Unterhaltungswert. Und selbst wer genervt wegsehen wollte, konnte sich nicht ganz entziehen. Denn immerhin spielte das Stück im wichtigsten Machtzentrum einer interdependenten Welt. Nun ist die Macht des Hauptakteurs verfallen. Man wird sehen, was vom politischen Clown, der sie mit seinem einfachen, aber wirkungsvollen Trick eroberte und ausübte, übrigbleibt.
Der Vernunftanspruch der Rede
Das primäre Ordnungsschema der populistischen Rede basiert auf einem personalisierenden – und seinem diskriminatorischen Gehalt nach natürlich auch entpersonalisierenden – Blame Game, das sich die eigene Welt durch soziale Ausgrenzung und Feindbildkonstruktionen konstruiert. Aufgrund dieser Personalisierung fällt die populistische Verlautbarung nicht in die aristotelische Gattung der beratenden Rede, die als Teil eines lösungsorientierten politischen Vorgangs zu verstehen ist. Und trotz ihres anklagenden und verurteilenden Gestus´ gehört sie auch nicht zur Gattung der Gerichtsrede, die ja wie die politisch beratende unter dem Anspruch des sachlichen Benennens und Belegens sowie des argumentativen Begründens steht. Am nächsten verwandt ist das blame game mit Aristoteles dritter Redegattung, der Lobrede – und zwar als deren ins Negative verkehrtes Gegenstück, der Schmährede.
Der Unterschied zwischen blame game und vernünftiger Rede ist besonders erhellend mit Blick auf die gegenwärtige Krise von Vernunft und Aufklärung. Denn der Diskurs der Aufklärung findet eine entscheidende Vorprägung in der beratenden und Gerichtsrede, so wie Aristoteles sie konzipiert, nämlich als eine auf der sachangemessenen Rekonstruktion von Fakten beruhende, rational-argumentative Wertung und Handlungsbegründung. Dem, was in der Beratungssituation unabdingbar ist, dem angemessenen Benennen, Belegen und Begründen, sind gerade die drei klassischen Hauptteile der Rede bei Aristoteles gewidmet: Eingerahmt von einem in die Redesituation einleitenden und einem zusammenfassenden und motivierenden Schlussteil referieren diese Redeteile den Sachstand, über den beraten wird – also die Fakten, zweitens eine These, wie sinnvolles und angemessenes Urteilen und Handeln auf dieser Grundlage aussehen sollte, und drittens eine kritisch-argumentative Auseinandersetzung mit und Zurückweisung von sachlich anderen Thesen und Positionen.
Der Dreischritt der aristotelischen Rhetorik: Sachstand – These – Widerlegung von Gegenthesen liefert ein Grundmodell für rationales kommunikatives Handeln schlechthin. Und im Kern steckt darin auch das Programm des modernen, auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft zielenden Aufklärungsdenkens. Und es liefert einen Ausgangspunkt, von dem her sich die gegenwärtige Krise der Vernunft verstehen und beschreiben lässt. In der Rolle respektive Nichtrolle des Benennens, Belegens und Begründens in der populistischen Rede, liegt das große Erkennungszeichen, das den Irrationalismus dieser Redeform und des von ihr geprägten Geistes anzeigt. Das hat vor allem mit dem ersten, für den Vernunftgebrauch grundlegenden der drei Schritte zu tun, nämlich mit Problemen, die dem Trumpschen Populismus zurecht den Namen des Postfaktizismus eintrugen.
Postfaktizismus
Wenn der Trumpsche Populismus und auch rechtsextreme und verschwörungsmythische Diskurse einem postfaktischen Denken zugeordnet werden, dann meint das zurückübersetzt in die Sprache der klassischen Rhetorik, dass die elementare Sachbasis der Argumentation missachtet und übersprungen wird. Die postfaktische Rede und alles, was sie an Belegen, Thesen und Widerlegungen vorbringt, hängt sozusagen in der Luft – weil sie sich um das fundamentum in re, nämlich die Fakten nicht schert.
Eine solche Abstinenz von den Fakten mag solange gut gehen, solange die Akteure die Aufführungsbedingungen der Rede selbst bestimmen und kontrollieren können und solange die übergangenen Fakten selbst nicht zurückschlagen. Trump konnte in seiner Regierungszeit trotz einer fünftstelligen Zahl von Lügen und Falschbehauptungen Dutzende Millionen von Menschen in den Bann ziehen. Das hat dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft womöglich mehr geschadet, als Jahrzehnte kantischer Aufklärung es aufwiegen können. Dem Bullshitter selbst schadete dies wenig. Erst gegen das härteste Faktum seiner Amtszeit, das Coronavirus, vermochte er nicht erfolgreich anzulügen. Das Virus in seiner harten Realität kümmerte sich schlicht nicht um seine Sprüche. Es gehört überhaupt nicht zur Welt der menschlichen Sprache, Sprüche und Sinnkonstrukte. Es breitet sich vielmehr seinem viralen Programm gemäß auf den Wegen aus, die Politik und Gesellschaft ihm offenlassen. Dass erst ein Virus und in der Folge eines der größten Massensterbeereignisse in der Geschichte der USA einen auch politisch folgenreichen Beweis für Trumps Bullshit erbringen konnte – worum den sich gewissenhafte Faktenchecks und begründete Argumente zuvor weitgehend folgenlos bemüht hatten – ist ein weiteres Indiz für das Ausmaß der Krise der Vernunft, die das Land und weite Teile der Welt gegenwärtig durchleben
Ein ähnliches Zurückschlagen der Fakten lässt sich manchmal aber auch in der weniger harten Welt der menschlichen Sinn- und Handlungsbezüge ausmachen. Wer sich in einem zureichend funktionierenden Rechtstaat auf das Feld gerichtlicher Auseinandersetzungen begibt, weil er etwa Wahlfälschungen unterstellt, der muss seinerseits Fakten und Beweise liefern. Sie sind das Eintrittsticket in das juristische Verfahren. Anschuldigungen ohne Beweise sind juristisch gesehen heiße Luft oder werden selbst zum Faktum einer Falschbehauptung oder üblen Nachrede. Anschuldigungen müssen durch Fakten hinreichend plausibiliert sein, damit überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, in dem dann in Rede und Gegenrede über sie verhandelt wird. Es darf angenommen werden, dass der juristische Zirkus, den Trump nach der verlorenen Wahl veranstaltete, nicht nur eine Dolchstoßlegende um eine „gestohlene Wahl“ eines im Felde vermeintlich unbesiegten Präsidenten inszenieren sollte, sondern viel mit Trumps Postfaktizismus zu tun hat. Das Ergebnis der Wahl muss danach ein Fake sein, ein Faktum, das es nicht gibt – oder nur als Schein gibt, der von außen kommt. So wie das „Chinese Virus“, das Trumps ersten, den menschlichen Körper treffen wollte und dabei von seiner schieren Willenskraft niedergerungen und in seinem scheinhaften Wesen entlarvt wurde. In ähnlicher Weise geht es nun um Fake-Stimmen, die von einem Außen im Innen herrühren, von den Demokraten und ihren weltweiten Agenturen, die gefälschte Stimmen wie Viren in Umlauf brachten, um den zweiten, den präsidialen Körper und das höhere und ewige Sein zu treffen, das sich in ihm manifestiert. Die Unfähigkeit, eine Niederlage in demokratischen Wahlen anders als aus der narzisstisch-ressentimentalen Perspektive einer tiefen Verstoßung betrachten zu können, macht es nötig, das Wahlergebnis zur teuflischen Intrige umzuinterpretieren. Sie führt uns auch nahe an eine vordemokratische, feudale Denkweise heran, aus der sich die kantische Aufklärung herausarbeiten wollte.
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