Nach Trump 1: The Blame Game

Biden-Siegesfeier Foto: Shutterstock, Never Settle Media
Biden-Sieges­feier Foto: Shutter­stock, Never Settle Media

Die Präsi­dent­schaft Donald Trumps war ein schwerer Test für die Insti­tu­tionen der USA. Er etablierte Denk- und Diskurs­muster, die seine Amtszeit auch im Freien Westen überdauern werden. Der erste von zwei Teilen eines philo­so­phi­schen Einordnungsversuchs.

Die klassi­schen Programme von Vernunft und Aufklärung sind in der Krise. Und zwar nicht nur dort, wo man sie als bloße Statt­halter eines univer­sa­lis­tisch verbrämten Willens zur Macht missver­steht, sondern auch dort, wo nur die Erwei­te­rungs­logik in Frage steht, durch die Aufklärung sich in Fortschritts­pro­gramme einschrieb. Denn auf Erwei­terung waren diese Programme angelegt – darauf, dass mehr Selbst­be­stimmung und freie Entfaltung des Geistes möglich ist, dass wissen­schaft­licher Fortschritt und Wirtschafts­wachstum mehr Sicherheit und Wohlstand bringen und die Kinder es einmal besser haben können. Gemäß einer solchen Erwei­te­rungs­logik erscheinen Vernunft und Aufklärung auch in der wohl berühm­testen Aufklä­rungs­schrift, in Kants Beant­wortung der Frage: Was ist Aufklärung? – nämlich als Teil eines Prozesses. Sie zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Autor seinem Zeitalter abspricht, bereits ein aufge­klärtes zu sein – um es statt­dessen als ein im Fortschreiten begrif­fenes Zeitalter der Aufklärung zu charakterisieren.

Wie Kant sich diesen Prozess näher vorstellt, verdeut­licht sein Lob der Religi­ons­po­litik Fried­richs des Zweiten, der seinen Unter­tanen in Glaubens­dingen die Freiheit ließ. Kant sah darin einen Keim, der sich zum freien öffent­lichen Gebrauch der eigenen Vernunft auswachsen sollte – angefangen mit dem freien öffent­lichen Räsonieren des Gelehrten einem lesenden Publikum gegenüber, und sich erwei­ternd über Religi­ons­sachen, Wissen­schaften, Künste  und Buchmedien hinaus, um sich schließlich im öffent­lichen Räsonieren der Unter­tanen in Sachen Gesetz­gebung und eines Tages vielleicht sogar hinsichtlich der Regie­rungs­an­ge­le­gen­heiten Geltung zu verschaffen. Das Grund­stür­zende an diesem wenige Jahre vor der franzö­si­schen Revolution formu­lierten und aus heutiger Sicht eher zahm anmutenden Aufklä­rungs­pro­gramm erhellt dann, wenn man es vor der Folie einer 1000-jährigen Geschichte des europäi­schen Feuda­lismus liest, die zu Kants Zeiten noch nicht zu Ende war.

Kants Aufklä­rungs­pro­gramm lieferte den Grund­stock für vieles, was nach ihm kam. Auch für Hegels Idee eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit als einer sich in einer histo­ri­schen Stufen­folge erwei­ternden Freiheit – ein Prozess, den Hegel auch in der nachna­po­leo­ni­schen Restau­ra­ti­onszeit noch unter­gründig wirksam sah. Und – so vermittelt (auch für Marx, der den Motor der Entwicklung tiefer­legte) von der Welt des Geistes in die der materi­ellen Produktivkräfte.

Krise der Vernunft

Die heute verspürte Krise der Vernunft gründet nicht zuletzt darin, dass sich weder die bürger­lichen noch die marxisch-prole­ta­ri­schen Aufklä­rungs­pro­gramme ungebrochen weiter­führen lassen. Wichtige Problem­dia­gnosen lassen sich bereits Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung aus den 1940er Jahren entnehmen. Auch gegen­wärtig scheint der öffent­liche Gebrauch der Vernunft vielerorts wieder in eine öffent­liche Artiku­lation von Unver­nunft umzuschlagen. Populismus und Autori­ta­rismus bedrohen die Errun­gen­schaften des fried­lichen, demokra­ti­schen Konflikt­aus­trags. Und eine um die ökolo­gi­schen Folgen unbesorgte ökono­mische Erwei­te­rungs­logik, die für mehr als 200 Jahre der Produk­tiv­kraft­ent­wicklung in der wissen­schaftlich-techni­schen Zivili­sation zugrunde lag, hat mit Erder­hitzung und Arten­sterben tiefe globale Krisen ausgelöst. Statt aufklä­re­rische Erwei­terung erleben wir eine Doppel­krise der Aufklärung, eine veritable Verwahr­losung sowohl der instru­men­tellen wie auch der kommu­ni­ka­tiven Vernunft.

Auch die Erwei­te­rungs­ge­schichte der Medien und der zumindest von ihren techni­schen Möglich­keiten her epochal erleich­terten Massen­kom­mu­ni­kation im digitalen Zeitalter, konter­ka­riert das Bild nicht, sondern festigt und verstärkt es auf ihre Weise. Dabei hatten sich nicht zuletzt mit den neuen sozialen Medien viele Freiheits- und Demokra­ti­sie­rungs­er­war­tungen verbunden – bis hin zur Arabellion und der Hoffnung auf eine Plura­li­sierung und Libera­li­sierung autori­tärer Staats­wesen durch neue Wege der Massen­kom­mu­ni­kation. Faktisch haben sich vielerorts staat­liche Praktiken der Bespit­zelung, Kontrolle und Blockade der neuen Kanäle bemächtigt. Andernorts sehen wir eine Monopo­li­sierung durch wenige private IT-Konzerne. Und als dritter und nicht weniger wichtiger Trend kommt eine Selbst­ab­schließung von Social-Media-Nutzern in Kommu­ni­ka­ti­ons­blasen hinzu, die sich wechsel­seitig oft nur noch feindlich-abweisend und nicht mehr argumen­tativ abwägend aufein­ander beziehen. In der Summe läuft eine ungute Trias aus autori­tärer Kontrolle, ökono­mi­scher Monopo­li­sierung und sozialer Triba­li­sierung dem erhofften und erwünschten Wirken einer aufklä­re­ri­schen Erwei­te­rungs­logik bei Social Media entgegen.

Wir gegen die Anderen

Tatsächlich scheint sich hier, aber auch in vielen anderen Bereichen der Kommu­ni­kation, nicht ein demokra­tisch-freiheit­liches Prinzip des vernünf­tigen Dialogs und der geistigen Öffnung und Erwei­terung, sondern ein ganz anderes Ordnungs­prinzip durch­zu­setzen – ein Prinzip der Reduktion von Komple­xität durch eine archaisch anmutende Schließung, die die Welt mittels der Entge­gen­setzung eines Wir gegen die Anderen verständlich machen will. Ein solches Prinzip ist hinrei­chend einfach, um einen starken Orien­tie­rungs­punkt in einer als unüber­sichtlich, verwirrend oder bedrohlich empfun­denen Welt abzugeben. Gleich­zeitig ist es in sich hinrei­chend spannungsvoll, um daraus eine ganze Weltnar­ration zu entwi­ckeln – einen großen und epischen Kampf, in dem man auch als Social-Media-Nutzer an Smart­phone und heimi­schem Bildschirm irgendwie mitklicken kann.

Ein solches Ordnungs­schema entfaltet eine große struk­tu­rie­rende und mobili­sie­rende Kraft. Gleich­zeitig wäre es falsch, seine archaische Anmutung als evolu­ti­ons­bio­lo­gi­sches Relikt zu deuten, mit dem sozio­bio­lo­gische Ansätze Gruppen­bil­dungen ja im Ausgang von einer ersten und vermeintlich unhin­ter­geh­baren, primor­dialen Urhor­den­so­zia­lität eher verun­klaren als erklären. Auch das konser­vative Bild einer unauf­hebbar schlechten und darum autoritär einzu­he­genden Menschen­natur, das sich mit dem Sozio­bio­lo­gismus schnell verbindet, führt in die Irre. Möglich – und für ein zurei­chendes Verständnis der gegen­wär­tigen medialen Triba­li­sie­rungen auch nötig – ist ein sozio-kultu­relles Verständnis des sich spontan und ohne größeren Aufwand einspie­lenden Ordnungs­schemas – ein Verständnis, das von der werthaften Orien­tierung und Selbst­ver­ge­gen­wär­tigung ausgeht, die zur alltäg­lichen sozialen Praxis gehört.

Die Matrix des Blame Game

Die Wir-gegen-Sie-Logik wirkt an vielen Orten – im negativen Alltags­klatsch ebenso wie in der Kommu­ni­kation von Social-Media-Gruppen. Sie kann auch vorsätzlich und strate­gisch zur Geltung gebracht werden, etwa in der Rhetorik von populis­ti­scher Politik oder von boule­var­di­sierten Medien, die mit der Hilfe dieses Wir-gegen-die Anderen-Prinzips auf Reich­weite, politische Zustimmung oder ökono­mi­schen Erfolg zielen. Das Prinzip struk­tu­riert nicht zuletzt die Twitter-Aktivi­täten von Politikern wie Trump oder Salvini. In der Mehrzahl der Botschaften, die diese Politiker – oft mehrmals täglich – einer millio­nen­fachen Anhän­ger­schaft senden, bilden Blame Games die Aufhänger und Referenz­punkte – negative Wertur­teile über Dritte, über politische Gegner oder ehemalige Verbündete, über Migranten und Flücht­linge, die angeblich das Land überschwemmen, über Gutmen­schen, die dem nicht genug Wider­stand entge­gen­setzen, oder über korrupte Eliten, zu denen die Tweeter selbst nicht gehören wollen. In fast jeder Äußerung finden sich entspre­chende Schmäh­bot­schaften – direkt oder über Anspie­lungen vermittelt.  Ihr Vorhan­densein ist ein starkes Kriterium dafür, dass eine populis­tische Äußerung vorliegt. Blame Games bilden den Kern der populis­ti­schen Kommunikation.

Sie sind auch das wichtigste sprach­prak­tische Mittel, um vernunft­ge­leitete und aufklä­re­rische Rede zu desavou­ieren. Ihre kommu­ni­kative Matrix wird deutlich, wenn man sie mit dem rheto­ri­schen Modell konfron­tiert, wie es seit Aristo­teles für die sachan­ge­messene argumen­tative Rede entwi­ckelt wurde. Der Unter­schied erhellt vor allem am Redege­gen­stand, den Aristo­teles´ als einen der drei Eckpunkte in der Grund­be­stimmung seines rheto­ri­schen Dreiecks einführt: „Es basiert nämlich die Rede auf Dreierlei: dem Redner, dem Gegen­stand, über den er redet, sowie jemandem, zu dem er redet ...“ (Aristo­teles 1358a f.). Diese Grund­be­stimmung gilt auch für die populis­tische Verlaut­barung. Aller­dings gibt es hier eine Auffäl­ligkeit. Primärer Redege­gen­stand dieser Rede ist eigentlich nie eine Sache, sondern so gut wie immer eine Person oder Perso­nen­gruppe. Tatsächlich ist die populis­tische Rede in doppelter Hinsicht perso­na­li­sierend. Ihr Gegen­stand ist ein perso­naler. Und er wird stets persönlich und gerade nicht sachlich adres­siert. Er wird mit negativen Wertur­teilen überzogen.

Genauer lässt sich diese perso­na­li­sie­rende Matrix an der beson­deren Verwendung des Systems der Perso­nal­pro­nomen erschließen, in die sie sich einschreibt. Der populis­tische Redner und sein Hörer belegen dabei die Positionen des Ich und Du. Sie bilden eine – oft nur imagi­nierte und meist sehr einseitig bestimmte – Zweier­be­ziehung wechsel­sei­tiger kommu­ni­ka­tiver Zuwendung. Diese aktua­li­siert sich, wenn das Smart­phone summt und der Präsident oder Innen­mi­nister seinen Followern live und in Echtzeit mitteilt, welche neue unwerte Handlung von dritter Seite zu vermelden ist. Ich und Du versus Er, Sie oder Es – die populis­tische Rede aktua­li­siert das rheto­rische Dreieck als werthaft aufge­la­denen triadi­schen Personenbezug.

In dieser triadi­schen Anordung amalga­miert der Redner Narzissmus und Ressen­timent, die zum psychi­schen Treib­stoff des ganzen Vorgangs werden. In der zweisamen Inner­lichkeit finden Redner und Hörer eine wechsel­seitige, die jeweilige Eigen­liebe tragende und versi­chernde Bestä­tigung.  Zur Außen­seite des abgewer­teten Dritten hin lebt sich dagegen Ressen­timent aus, ein Ankla­ge­willen, der den eigenen Wert im vermeint­lichen Unwert dritter Personen spiegelt.

Biggest Show on Earth

Die so charak­te­ri­sierte triadische Matrix ist es, die die populis­tische Kommu­ni­kation immer wieder neu und buchstäblich bis zum Erbrechen durch­spielt. Es handelt sich um das offen­kundig wirkmäch­tigste Sprach­spiel der Welt. Und es war auch ein Weltpu­blikum, das in vier Jahren Trump reichlich Zeit hatte, es kennen­zu­lernen. Mit großer Zuver­läs­sigkeit katapul­tierte das Spiel die täglichen Verlaut­ba­rungen des Präsi­denten auf Platz eins – und oft auch noch Platz zwei und drei – der täglichen Weltnach­richten. Trumps Mittei­lungen faszi­nierten die Medien und belegten ein Großteil des Zeitbudgets, das viele Bürge­rinnen und Bürger für politische Infor­mation aufwenden. Die Wahrnehmung der Weltöf­fent­lichkeit folgte den Darbie­tungen des Präsi­denten fast so, als wäre jeden zweiten Tag Mondlandung, Mauerfall oder ein Kampf von Muhammed Ali.

Vier Jahre Trump – das war die größte Medienshow aller Zeiten, in Gang gesetzt vom kleinen und immer wieder gleichen Trick der öffent­lichen Abwertung und Demütigung eines Dritten. Es war letztlich das ins Politische gewendete Verfahren, das Trump bereits mit dem Kernsatz seiner Fernsehshow „The Apprentice“ vor großem Publikum eingeübt hatte, nämlich den Versto­ßungsakt des „You are fired!“ Es ist die narziss­tisch-ressen­ti­mentale Grund­ope­ration eines sich als übermächtig imagi­nie­renden Ich, das ein Du exklu­diert und eine nicht mehr dazuge­hörige Dritt­person aus ihm macht. Diesen Akt sollte Trump als Präsident auch im twitter­öf­fent­lichen Feuern und Schlecht­reden von Mitar­beitern dutzendfach wiederholen.

Mit seinen blame games faszi­nierte Trump zunächst einen wachsenden Fanblock, dem er die Nähe zu sich zuletzt in einer fast religiösen Überhöhung vorgau­kelte – selbst vielleicht kein Heiliger, aber gerade deshalb ein robuster Kämpfer für eine heilige Sache. In dieser Einkleidung gelang es ihm sogar, die klerikale Rechte für sich zu verein­nahmen. Die Anhän­ger­schaft sollte die scheinbare Nähe zur täglich mehrfach einget­wit­terten präsi­dialen Macht und der epischen Größe des Geschehens als eigene Macht, Größe und Wichtigkeit mitimaginieren.

Aber das Schau­spiel funktio­nierte auch bei denen, die sich nicht auf der Wir-Seite des Wir-gegen-die Anderen-Spiels einfanden. Jenseits des eigenen Fanblocks faszi­nierte Trump mit dem Roi-Ubu-Spektakel eines Narren an der Macht, das nun vor allem von Boris Johnson gepflegt wird. Trump bot zuver­lässig ein zwischen erschröcklich und vergnüglich changie­rendes Gothic-Erlebnis mit einem – einge­standen oder nicht – hohen Unter­hal­tungswert. Und selbst wer genervt wegsehen wollte, konnte sich nicht ganz entziehen. Denn immerhin spielte das Stück im wichtigsten Macht­zentrum einer inter­de­pen­denten Welt. Nun ist die Macht des Haupt­ak­teurs verfallen. Man wird sehen, was vom politi­schen Clown, der sie mit seinem einfachen, aber wirkungs­vollen Trick eroberte und ausübte, übrigbleibt.

Der Vernunft­an­spruch der Rede

Das primäre Ordnungs­schema der populis­ti­schen Rede basiert auf einem perso­na­li­sie­renden – und seinem diskri­mi­na­to­ri­schen Gehalt nach natürlich auch entper­so­na­li­sie­renden – Blame Game, das sich die eigene Welt durch soziale Ausgrenzung und Feind­bild­kon­struk­tionen konstruiert. Aufgrund dieser Perso­na­li­sierung fällt die populis­tische Verlaut­barung nicht in die aristo­te­lische Gattung der beratenden Rede, die als Teil eines lösungs­ori­en­tierten politi­schen Vorgangs zu verstehen ist.  Und trotz ihres ankla­genden und verur­tei­lenden Gestus´ gehört sie auch nicht zur Gattung der Gerichtsrede, die ja wie die politisch beratende unter dem Anspruch des sachlichen Benennens und Belegens sowie des argumen­ta­tiven Begründens steht. Am nächsten verwandt ist das blame game mit Aristo­teles dritter Redegattung, der Lobrede – und zwar als deren ins Negative verkehrtes Gegen­stück, der Schmährede.

Der Unter­schied zwischen blame game und vernünf­tiger Rede ist besonders erhellend mit Blick auf die gegen­wärtige Krise von Vernunft und Aufklärung. Denn der Diskurs der Aufklärung findet eine entschei­dende Vorprägung in der beratenden und Gerichtsrede, so wie Aristo­teles sie konzi­piert, nämlich als eine auf der sachan­ge­mes­senen Rekon­struktion von Fakten beruhende, rational-argumen­tative Wertung und Handlungs­be­gründung. Dem, was in der Beratungs­si­tuation unabdingbar ist, dem angemes­senen Benennen, Belegen und Begründen, sind gerade die drei klassi­schen Haupt­teile der Rede bei Aristo­teles gewidmet: Einge­rahmt von einem in die Redesi­tuation einlei­tenden und einem zusam­men­fas­senden und motivie­renden Schlussteil referieren diese Redeteile den Sachstand, über den beraten wird – also die Fakten, zweitens eine These, wie sinnvolles und angemes­senes Urteilen und Handeln auf dieser Grundlage aussehen sollte, und drittens eine kritisch-argumen­tative Ausein­an­der­setzung mit und Zurück­weisung von sachlich anderen Thesen und Positionen.

Der Dreischritt der aristo­te­li­schen Rhetorik: Sachstand – These – Wider­legung von Gegen­thesen liefert ein Grund­modell für ratio­nales kommu­ni­ka­tives Handeln schlechthin. Und im Kern steckt darin auch das Programm des modernen, auf den öffent­lichen Gebrauch der Vernunft zielenden Aufklä­rungs­denkens. Und es liefert einen Ausgangs­punkt, von dem her sich die gegen­wärtige Krise der Vernunft verstehen und beschreiben lässt. In der Rolle respektive Nicht­rolle des Benennens, Belegens und Begründens in der populis­ti­schen Rede, liegt das große Erken­nungs­zeichen, das den Irratio­na­lismus dieser Redeform und des von ihr geprägten Geistes anzeigt. Das hat vor allem mit dem ersten, für den Vernunft­ge­brauch grund­le­genden der drei Schritte zu tun, nämlich mit Problemen, die dem Trump­schen Populismus zurecht den Namen des Postfak­ti­zismus eintrugen.

Postfak­ti­zismus

Wenn der Trumpsche Populismus und auch rechts­extreme und verschwö­rungs­my­thische Diskurse einem postfak­ti­schen Denken zugeordnet werden, dann meint das zurück­über­setzt in die Sprache der klassi­schen Rhetorik, dass die elementare Sachbasis der Argumen­tation missachtet und übersprungen wird. Die postfak­tische Rede und alles, was sie an Belegen, Thesen und Wider­le­gungen vorbringt, hängt sozusagen in der Luft – weil sie sich um das funda­mentum in re, nämlich die Fakten nicht schert.

Eine solche Abstinenz von den Fakten mag solange gut gehen, solange die Akteure die Auffüh­rungs­be­din­gungen der Rede selbst bestimmen und kontrol­lieren können und solange die übergan­genen Fakten selbst nicht zurück­schlagen. Trump konnte in seiner Regie­rungszeit trotz einer fünftstel­ligen Zahl von Lügen und Falsch­be­haup­tungen Dutzende Millionen von Menschen in den Bann ziehen. Das hat dem öffent­lichen Gebrauch der Vernunft womöglich mehr geschadet, als Jahrzehnte kanti­scher Aufklärung es aufwiegen können. Dem Bullshitter selbst schadete dies wenig. Erst gegen das härteste Faktum seiner Amtszeit, das Corona­virus, vermochte er nicht erfolg­reich anzulügen. Das Virus in seiner harten Realität kümmerte sich schlicht nicht um seine Sprüche. Es gehört überhaupt nicht zur Welt der mensch­lichen Sprache, Sprüche und Sinnkon­strukte.  Es breitet sich vielmehr seinem viralen Programm gemäß auf den Wegen aus, die Politik und Gesell­schaft ihm offen­lassen. Dass erst ein Virus und in der Folge eines der größten Massen­s­ter­be­er­eig­nisse in der Geschichte der USA einen auch politisch folgen­reichen Beweis für Trumps Bullshit erbringen konnte – worum den sich gewis­sen­hafte Fakten­checks und begründete Argumente zuvor weitgehend folgenlos bemüht hatten – ist ein weiteres Indiz für das Ausmaß der Krise der Vernunft, die das Land und weite Teile der Welt gegen­wärtig durchleben

Ein ähnliches Zurück­schlagen der Fakten lässt sich manchmal aber auch in der weniger harten Welt der mensch­lichen Sinn- und Handlungs­bezüge ausmachen. Wer sich in einem zurei­chend funktio­nie­renden Recht­staat auf das Feld gericht­licher Ausein­an­der­set­zungen begibt, weil er etwa Wahlfäl­schungen unter­stellt, der muss seiner­seits Fakten und Beweise liefern. Sie sind das Eintritts­ticket in das juris­tische Verfahren. Anschul­di­gungen ohne Beweise sind juris­tisch gesehen heiße Luft oder werden selbst zum Faktum einer Falsch­be­hauptung oder üblen Nachrede. Anschul­di­gungen müssen durch Fakten hinrei­chend plausi­bi­liert sein, damit überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, in dem dann in Rede und Gegenrede über sie verhandelt wird. Es darf angenommen werden, dass der juris­tische Zirkus, den Trump nach der verlo­renen Wahl veran­staltete, nicht nur eine Dolch­stoß­le­gende um eine „gestohlene Wahl“ eines im Felde vermeintlich unbesiegten Präsi­denten insze­nieren sollte, sondern viel mit Trumps Postfak­ti­zismus zu tun hat. Das Ergebnis der Wahl muss danach ein Fake sein, ein Faktum, das es nicht gibt – oder nur als Schein gibt, der von außen kommt. So wie das „Chinese Virus“, das Trumps ersten, den mensch­lichen Körper treffen wollte und dabei von seiner schieren Willens­kraft nieder­ge­rungen und in seinem schein­haften Wesen entlarvt wurde. In ähnlicher Weise geht es nun um Fake-Stimmen, die von einem Außen im Innen herrühren, von den Demokraten und ihren weltweiten Agenturen, die gefälschte Stimmen wie Viren in Umlauf brachten, um den zweiten, den präsi­dialen Körper und das höhere und ewige Sein zu treffen, das sich in ihm manifes­tiert. Die Unfähigkeit, eine Niederlage in demokra­ti­schen Wahlen anders als aus der narziss­tisch-ressen­ti­men­talen Perspektive einer tiefen Verstoßung betrachten zu können, macht es nötig, das Wahler­gebnis zur teufli­schen Intrige umzuin­ter­pre­tieren. Sie führt uns auch nahe an eine vorde­mo­kra­tische, feudale Denkweise heran, aus der sich die kantische Aufklärung heraus­ar­beiten wollte.

Textende

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