Nach Trump 1: The Blame Game

Biden-Siegesfeier Foto: Shutterstock, Never Settle Media
Biden-Sieges­feier Foto: Shut­ter­stock, Never Settle Media

Die Präsi­dent­schaft Donald Trumps war ein schwerer Test für die Insti­tu­tionen der USA. Er etablierte Denk- und Diskurs­muster, die seine Amtszeit auch im Freien Westen über­dauern werden. Der erste von zwei Teilen eines philo­so­phi­schen Einordnungsversuchs.

Die klas­si­schen Programme von Vernunft und Aufklä­rung sind in der Krise. Und zwar nicht nur dort, wo man sie als bloße Statt­halter eines univer­sa­lis­tisch verbrämten Willens zur Macht miss­ver­steht, sondern auch dort, wo nur die Erwei­te­rungs­logik in Frage steht, durch die Aufklä­rung sich in Fort­schritts­pro­gramme einschrieb. Denn auf Erwei­te­rung waren diese Programme angelegt – darauf, dass mehr Selbst­be­stim­mung und freie Entfal­tung des Geistes möglich ist, dass wissen­schaft­li­cher Fort­schritt und Wirt­schafts­wachstum mehr Sicher­heit und Wohlstand bringen und die Kinder es einmal besser haben können. Gemäß einer solchen Erwei­te­rungs­logik erscheinen Vernunft und Aufklä­rung auch in der wohl berühm­testen Aufklä­rungs­schrift, in Kants Beant­wor­tung der Frage: Was ist Aufklä­rung? – nämlich als Teil eines Prozesses. Sie zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Autor seinem Zeitalter abspricht, bereits ein aufge­klärtes zu sein – um es statt­dessen als ein im Fort­schreiten begrif­fenes Zeitalter der Aufklä­rung zu charakterisieren.

Wie Kant sich diesen Prozess näher vorstellt, verdeut­licht sein Lob der Reli­gi­ons­po­litik Fried­richs des Zweiten, der seinen Unter­tanen in Glau­bens­dingen die Freiheit ließ. Kant sah darin einen Keim, der sich zum freien öffent­li­chen Gebrauch der eigenen Vernunft auswachsen sollte – ange­fangen mit dem freien öffent­li­chen Räso­nieren des Gelehrten einem lesenden Publikum gegenüber, und sich erwei­ternd über Reli­gi­ons­sa­chen, Wissen­schaften, Künste  und Buch­me­dien hinaus, um sich schließ­lich im öffent­li­chen Räso­nieren der Unter­tanen in Sachen Gesetz­ge­bung und eines Tages viel­leicht sogar hinsicht­lich der Regie­rungs­an­ge­le­gen­heiten Geltung zu verschaffen. Das Grund­stür­zende an diesem wenige Jahre vor der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion formu­lierten und aus heutiger Sicht eher zahm anmu­tenden Aufklä­rungs­pro­gramm erhellt dann, wenn man es vor der Folie einer 1000-jährigen Geschichte des euro­päi­schen Feuda­lismus liest, die zu Kants Zeiten noch nicht zu Ende war.

Kants Aufklä­rungs­pro­gramm lieferte den Grund­stock für vieles, was nach ihm kam. Auch für Hegels Idee eines Fort­schritts im Bewusst­sein der Freiheit als einer sich in einer histo­ri­schen Stufen­folge erwei­ternden Freiheit – ein Prozess, den Hegel auch in der nach­na­po­leo­ni­schen Restau­ra­ti­ons­zeit noch unter­gründig wirksam sah. Und – so vermit­telt (auch für Marx, der den Motor der Entwick­lung tiefer­legte) von der Welt des Geistes in die der mate­ri­ellen Produktivkräfte.

Krise der Vernunft

Die heute verspürte Krise der Vernunft gründet nicht zuletzt darin, dass sich weder die bürger­li­chen noch die marxisch-prole­ta­ri­schen Aufklä­rungs­pro­gramme unge­bro­chen weiter­führen lassen. Wichtige Problem­dia­gnosen lassen sich bereits Hork­heimer und Adornos Dialektik der Aufklä­rung aus den 1940er Jahren entnehmen. Auch gegen­wärtig scheint der öffent­liche Gebrauch der Vernunft vieler­orts wieder in eine öffent­liche Arti­ku­la­tion von Unver­nunft umzu­schlagen. Popu­lismus und Auto­ri­ta­rismus bedrohen die Errun­gen­schaften des fried­li­chen, demo­kra­ti­schen Konflikt­aus­trags. Und eine um die ökolo­gi­schen Folgen unbe­sorgte ökono­mi­sche Erwei­te­rungs­logik, die für mehr als 200 Jahre der Produk­tiv­kraft­ent­wick­lung in der wissen­schaft­lich-tech­ni­schen Zivi­li­sa­tion zugrunde lag, hat mit Erder­hit­zung und Arten­sterben tiefe globale Krisen ausgelöst. Statt aufklä­re­ri­sche Erwei­te­rung erleben wir eine Doppel­krise der Aufklä­rung, eine veritable Verwahr­lo­sung sowohl der instru­men­tellen wie auch der kommu­ni­ka­tiven Vernunft.

Auch die Erwei­te­rungs­ge­schichte der Medien und der zumindest von ihren tech­ni­schen Möglich­keiten her epochal erleich­terten Massen­kom­mu­ni­ka­tion im digitalen Zeitalter, konter­ka­riert das Bild nicht, sondern festigt und verstärkt es auf ihre Weise. Dabei hatten sich nicht zuletzt mit den neuen sozialen Medien viele Freiheits- und Demo­kra­ti­sie­rungs­er­war­tungen verbunden – bis hin zur Arabel­lion und der Hoffnung auf eine Plura­li­sie­rung und Libe­ra­li­sie­rung auto­ri­tärer Staats­wesen durch neue Wege der Massen­kom­mu­ni­ka­tion. Faktisch haben sich vieler­orts staat­liche Praktiken der Bespit­ze­lung, Kontrolle und Blockade der neuen Kanäle bemäch­tigt. Andern­orts sehen wir eine Mono­po­li­sie­rung durch wenige private IT-Konzerne. Und als dritter und nicht weniger wichtiger Trend kommt eine Selb­st­ab­schlie­ßung von Social-Media-Nutzern in Kommu­ni­ka­ti­ons­blasen hinzu, die sich wech­sel­seitig oft nur noch feindlich-abweisend und nicht mehr argu­men­tativ abwägend aufein­ander beziehen. In der Summe läuft eine ungute Trias aus auto­ri­tärer Kontrolle, ökono­mi­scher Mono­po­li­sie­rung und sozialer Triba­li­sie­rung dem erhofften und erwünschten Wirken einer aufklä­re­ri­schen Erwei­te­rungs­logik bei Social Media entgegen.

Wir gegen die Anderen

Tatsäch­lich scheint sich hier, aber auch in vielen anderen Bereichen der Kommu­ni­ka­tion, nicht ein demo­kra­tisch-frei­heit­li­ches Prinzip des vernünf­tigen Dialogs und der geistigen Öffnung und Erwei­te­rung, sondern ein ganz anderes Ordnungs­prinzip durch­zu­setzen – ein Prinzip der Reduktion von Komple­xität durch eine archaisch anmutende Schlie­ßung, die die Welt mittels der Entge­gen­set­zung eines Wir gegen die Anderen verständ­lich machen will. Ein solches Prinzip ist hinrei­chend einfach, um einen starken Orien­tie­rungs­punkt in einer als unüber­sicht­lich, verwir­rend oder bedroh­lich empfun­denen Welt abzugeben. Gleich­zeitig ist es in sich hinrei­chend span­nungs­voll, um daraus eine ganze Welt­nar­ra­tion zu entwi­ckeln – einen großen und epischen Kampf, in dem man auch als Social-Media-Nutzer an Smart­phone und heimi­schem Bild­schirm irgendwie mitkli­cken kann.

Ein solches Ordnungs­schema entfaltet eine große struk­tu­rie­rende und mobi­li­sie­rende Kraft. Gleich­zeitig wäre es falsch, seine archai­sche Anmutung als evolu­ti­ons­bio­lo­gi­sches Relikt zu deuten, mit dem sozio­bio­lo­gi­sche Ansätze Grup­pen­bil­dungen ja im Ausgang von einer ersten und vermeint­lich unhin­ter­geh­baren, primor­dialen Urhor­den­so­zia­lität eher verun­klaren als erklären. Auch das konser­va­tive Bild einer unauf­hebbar schlechten und darum autoritär einzu­he­genden Menschen­natur, das sich mit dem Sozio­bio­lo­gismus schnell verbindet, führt in die Irre. Möglich – und für ein zurei­chendes Verständnis der gegen­wär­tigen medialen Triba­li­sie­rungen auch nötig – ist ein sozio-kultu­relles Verständnis des sich spontan und ohne größeren Aufwand einspie­lenden Ordnungs­schemas – ein Verständnis, das von der wert­haften Orien­tie­rung und Selbst­ver­ge­gen­wär­ti­gung ausgeht, die zur alltäg­li­chen sozialen Praxis gehört.

Die Matrix des Blame Game

Die Wir-gegen-Sie-Logik wirkt an vielen Orten – im negativen Alltags­klatsch ebenso wie in der Kommu­ni­ka­tion von Social-Media-Gruppen. Sie kann auch vorsätz­lich und stra­te­gisch zur Geltung gebracht werden, etwa in der Rhetorik von popu­lis­ti­scher Politik oder von boule­var­di­sierten Medien, die mit der Hilfe dieses Wir-gegen-die Anderen-Prinzips auf Reich­weite, poli­ti­sche Zustim­mung oder ökono­mi­schen Erfolg zielen. Das Prinzip struk­tu­riert nicht zuletzt die Twitter-Akti­vi­täten von Poli­ti­kern wie Trump oder Salvini. In der Mehrzahl der Botschaften, die diese Politiker – oft mehrmals täglich – einer millio­nen­fa­chen Anhän­ger­schaft senden, bilden Blame Games die Aufhänger und Refe­renz­punkte – negative Wert­ur­teile über Dritte, über poli­ti­sche Gegner oder ehemalige Verbün­dete, über Migranten und Flücht­linge, die angeblich das Land über­schwemmen, über Gutmen­schen, die dem nicht genug Wider­stand entge­gen­setzen, oder über korrupte Eliten, zu denen die Tweeter selbst nicht gehören wollen. In fast jeder Äußerung finden sich entspre­chende Schmäh­bot­schaften – direkt oder über Anspie­lungen vermit­telt.  Ihr Vorhan­den­sein ist ein starkes Kriterium dafür, dass eine popu­lis­ti­sche Äußerung vorliegt. Blame Games bilden den Kern der popu­lis­ti­schen Kommunikation.

Sie sind auch das wich­tigste sprach­prak­ti­sche Mittel, um vernunft­ge­lei­tete und aufklä­re­ri­sche Rede zu desavou­ieren. Ihre kommu­ni­ka­tive Matrix wird deutlich, wenn man sie mit dem rheto­ri­schen Modell konfron­tiert, wie es seit Aris­to­teles für die sach­an­ge­mes­sene argu­men­ta­tive Rede entwi­ckelt wurde. Der Unter­schied erhellt vor allem am Rede­ge­gen­stand, den Aris­to­teles´ als einen der drei Eckpunkte in der Grund­be­stim­mung seines rheto­ri­schen Dreiecks einführt: „Es basiert nämlich die Rede auf Dreierlei: dem Redner, dem Gegen­stand, über den er redet, sowie jemandem, zu dem er redet ...“ (Aris­to­teles 1358a f.). Diese Grund­be­stim­mung gilt auch für die popu­lis­ti­sche Verlaut­ba­rung. Aller­dings gibt es hier eine Auffäl­lig­keit. Primärer Rede­ge­gen­stand dieser Rede ist eigent­lich nie eine Sache, sondern so gut wie immer eine Person oder Perso­nen­gruppe. Tatsäch­lich ist die popu­lis­ti­sche Rede in doppelter Hinsicht perso­na­li­sie­rend. Ihr Gegen­stand ist ein perso­naler. Und er wird stets persön­lich und gerade nicht sachlich adres­siert. Er wird mit negativen Wert­ur­teilen überzogen.

Genauer lässt sich diese perso­na­li­sie­rende Matrix an der beson­deren Verwen­dung des Systems der Perso­nal­pro­nomen erschließen, in die sie sich einschreibt. Der popu­lis­ti­sche Redner und sein Hörer belegen dabei die Posi­tionen des Ich und Du. Sie bilden eine – oft nur imagi­nierte und meist sehr einseitig bestimmte – Zwei­er­be­zie­hung wech­sel­sei­tiger kommu­ni­ka­tiver Zuwendung. Diese aktua­li­siert sich, wenn das Smart­phone summt und der Präsident oder Innen­mi­nister seinen Followern live und in Echtzeit mitteilt, welche neue unwerte Handlung von dritter Seite zu vermelden ist. Ich und Du versus Er, Sie oder Es – die popu­lis­ti­sche Rede aktua­li­siert das rheto­ri­sche Dreieck als werthaft aufge­la­denen tria­di­schen Personenbezug.

In dieser tria­di­schen Anordung amal­ga­miert der Redner Narzissmus und Ressen­ti­ment, die zum psychi­schen Treib­stoff des ganzen Vorgangs werden. In der zweisamen Inner­lich­keit finden Redner und Hörer eine wech­sel­sei­tige, die jeweilige Eigen­liebe tragende und versi­chernde Bestä­ti­gung.  Zur Außen­seite des abge­wer­teten Dritten hin lebt sich dagegen Ressen­ti­ment aus, ein Ankla­ge­willen, der den eigenen Wert im vermeint­li­chen Unwert dritter Personen spiegelt.

Biggest Show on Earth

Die so charak­te­ri­sierte tria­di­sche Matrix ist es, die die popu­lis­ti­sche Kommu­ni­ka­tion immer wieder neu und buch­stäb­lich bis zum Erbrechen durch­spielt. Es handelt sich um das offen­kundig wirk­mäch­tigste Sprach­spiel der Welt. Und es war auch ein Welt­pu­blikum, das in vier Jahren Trump reichlich Zeit hatte, es kennen­zu­lernen. Mit großer Zuver­läs­sig­keit kata­pul­tierte das Spiel die täglichen Verlaut­ba­rungen des Präsi­denten auf Platz eins – und oft auch noch Platz zwei und drei – der täglichen Welt­nach­richten. Trumps Mittei­lungen faszi­nierten die Medien und belegten ein Großteil des Zeit­bud­gets, das viele Bürge­rinnen und Bürger für poli­ti­sche Infor­ma­tion aufwenden. Die Wahr­neh­mung der Welt­öf­fent­lich­keit folgte den Darbie­tungen des Präsi­denten fast so, als wäre jeden zweiten Tag Mond­lan­dung, Mauerfall oder ein Kampf von Muhammed Ali.

Vier Jahre Trump – das war die größte Medi­en­show aller Zeiten, in Gang gesetzt vom kleinen und immer wieder gleichen Trick der öffent­li­chen Abwertung und Demü­ti­gung eines Dritten. Es war letztlich das ins Poli­ti­sche gewendete Verfahren, das Trump bereits mit dem Kernsatz seiner Fern­seh­show „The Appren­tice“ vor großem Publikum eingeübt hatte, nämlich den Versto­ßungsakt des „You are fired!“ Es ist die narziss­tisch-ressen­ti­men­tale Grund­ope­ra­tion eines sich als über­mächtig imagi­nie­renden Ich, das ein Du exklu­diert und eine nicht mehr dazu­ge­hö­rige Dritt­person aus ihm macht. Diesen Akt sollte Trump als Präsident auch im twit­ter­öf­fent­li­chen Feuern und Schlecht­reden von Mitar­bei­tern dutzend­fach wiederholen.

Mit seinen blame games faszi­nierte Trump zunächst einen wach­senden Fanblock, dem er die Nähe zu sich zuletzt in einer fast reli­giösen Über­hö­hung vorgau­kelte – selbst viel­leicht kein Heiliger, aber gerade deshalb ein robuster Kämpfer für eine heilige Sache. In dieser Einklei­dung gelang es ihm sogar, die klerikale Rechte für sich zu verein­nahmen. Die Anhän­ger­schaft sollte die schein­bare Nähe zur täglich mehrfach einget­wit­terten präsi­dialen Macht und der epischen Größe des Gesche­hens als eigene Macht, Größe und Wich­tig­keit mitimaginieren.

Aber das Schau­spiel funk­tio­nierte auch bei denen, die sich nicht auf der Wir-Seite des Wir-gegen-die Anderen-Spiels einfanden. Jenseits des eigenen Fanblocks faszi­nierte Trump mit dem Roi-Ubu-Spektakel eines Narren an der Macht, das nun vor allem von Boris Johnson gepflegt wird. Trump bot zuver­lässig ein zwischen erschröck­lich und vergnüg­lich chan­gie­rendes Gothic-Erlebnis mit einem – einge­standen oder nicht – hohen Unter­hal­tungs­wert. Und selbst wer genervt wegsehen wollte, konnte sich nicht ganz entziehen. Denn immerhin spielte das Stück im wich­tigsten Macht­zen­trum einer inter­de­pen­denten Welt. Nun ist die Macht des Haupt­ak­teurs verfallen. Man wird sehen, was vom poli­ti­schen Clown, der sie mit seinem einfachen, aber wirkungs­vollen Trick eroberte und ausübte, übrigbleibt.

Der Vernunft­an­spruch der Rede

Das primäre Ordnungs­schema der popu­lis­ti­schen Rede basiert auf einem perso­na­li­sie­renden – und seinem diskri­mi­na­to­ri­schen Gehalt nach natürlich auch entper­so­na­li­sie­renden – Blame Game, das sich die eigene Welt durch soziale Ausgren­zung und Feind­bild­kon­struk­tionen konstru­iert. Aufgrund dieser Perso­na­li­sie­rung fällt die popu­lis­ti­sche Verlaut­ba­rung nicht in die aris­to­te­li­sche Gattung der bera­tenden Rede, die als Teil eines lösungs­ori­en­tierten poli­ti­schen Vorgangs zu verstehen ist.  Und trotz ihres ankla­genden und verur­tei­lenden Gestus´ gehört sie auch nicht zur Gattung der Gerichts­rede, die ja wie die politisch beratende unter dem Anspruch des sach­li­chen Benennens und Belegens sowie des argu­men­ta­tiven Begrün­dens steht. Am nächsten verwandt ist das blame game mit Aris­to­teles dritter Rede­gat­tung, der Lobrede – und zwar als deren ins Negative verkehrtes Gegen­stück, der Schmährede.

Der Unter­schied zwischen blame game und vernünf­tiger Rede ist besonders erhellend mit Blick auf die gegen­wär­tige Krise von Vernunft und Aufklä­rung. Denn der Diskurs der Aufklä­rung findet eine entschei­dende Vorprä­gung in der bera­tenden und Gerichts­rede, so wie Aris­to­teles sie konzi­piert, nämlich als eine auf der sach­an­ge­mes­senen Rekon­struk­tion von Fakten beruhende, rational-argu­men­ta­tive Wertung und Hand­lungs­be­grün­dung. Dem, was in der Bera­tungs­si­tua­tion unab­dingbar ist, dem ange­mes­senen Benennen, Belegen und Begründen, sind gerade die drei klas­si­schen Haupt­teile der Rede bei Aris­to­teles gewidmet: Einge­rahmt von einem in die Rede­si­tua­tion einlei­tenden und einem zusam­men­fas­senden und moti­vie­renden Schluss­teil refe­rieren diese Redeteile den Sachstand, über den beraten wird – also die Fakten, zweitens eine These, wie sinn­volles und ange­mes­senes Urteilen und Handeln auf dieser Grundlage aussehen sollte, und drittens eine kritisch-argu­men­ta­tive Ausein­an­der­set­zung mit und Zurück­wei­sung von sachlich anderen Thesen und Positionen.

Der Drei­schritt der aris­to­te­li­schen Rhetorik: Sachstand – These – Wider­le­gung von Gegen­thesen liefert ein Grund­mo­dell für ratio­nales kommu­ni­ka­tives Handeln schlechthin. Und im Kern steckt darin auch das Programm des modernen, auf den öffent­li­chen Gebrauch der Vernunft zielenden Aufklä­rungs­den­kens. Und es liefert einen Ausgangs­punkt, von dem her sich die gegen­wär­tige Krise der Vernunft verstehen und beschreiben lässt. In der Rolle respek­tive Nicht­rolle des Benennens, Belegens und Begrün­dens in der popu­lis­ti­schen Rede, liegt das große Erken­nungs­zei­chen, das den Irra­tio­na­lismus dieser Redeform und des von ihr geprägten Geistes anzeigt. Das hat vor allem mit dem ersten, für den Vernunft­ge­brauch grund­le­genden der drei Schritte zu tun, nämlich mit Problemen, die dem Trump­schen Popu­lismus zurecht den Namen des Post­fak­ti­zismus eintrugen.

Post­fak­ti­zismus

Wenn der Trumpsche Popu­lismus und auch rechts­extreme und verschwö­rungs­my­thi­sche Diskurse einem post­fak­ti­schen Denken zuge­ordnet werden, dann meint das zurück­über­setzt in die Sprache der klas­si­schen Rhetorik, dass die elemen­tare Sachbasis der Argu­men­ta­tion miss­achtet und über­sprungen wird. Die post­fak­ti­sche Rede und alles, was sie an Belegen, Thesen und Wider­le­gungen vorbringt, hängt sozusagen in der Luft – weil sie sich um das funda­mentum in re, nämlich die Fakten nicht schert.

Eine solche Abstinenz von den Fakten mag solange gut gehen, solange die Akteure die Auffüh­rungs­be­din­gungen der Rede selbst bestimmen und kontrol­lieren können und solange die über­gan­genen Fakten selbst nicht zurück­schlagen. Trump konnte in seiner Regie­rungs­zeit trotz einer fünftstel­ligen Zahl von Lügen und Falsch­be­haup­tungen Dutzende Millionen von Menschen in den Bann ziehen. Das hat dem öffent­li­chen Gebrauch der Vernunft womöglich mehr geschadet, als Jahr­zehnte kanti­scher Aufklä­rung es aufwiegen können. Dem Bull­shitter selbst schadete dies wenig. Erst gegen das härteste Faktum seiner Amtszeit, das Coro­na­virus, vermochte er nicht erfolg­reich anzulügen. Das Virus in seiner harten Realität kümmerte sich schlicht nicht um seine Sprüche. Es gehört überhaupt nicht zur Welt der mensch­li­chen Sprache, Sprüche und Sinn­kon­strukte.  Es breitet sich vielmehr seinem viralen Programm gemäß auf den Wegen aus, die Politik und Gesell­schaft ihm offen­lassen. Dass erst ein Virus und in der Folge eines der größten Massen­s­ter­be­er­eig­nisse in der Geschichte der USA einen auch politisch folgen­rei­chen Beweis für Trumps Bullshit erbringen konnte – worum den sich gewis­sen­hafte Fakten­checks und begrün­dete Argumente zuvor weit­ge­hend folgenlos bemüht hatten – ist ein weiteres Indiz für das Ausmaß der Krise der Vernunft, die das Land und weite Teile der Welt gegen­wärtig durchleben

Ein ähnliches Zurück­schlagen der Fakten lässt sich manchmal aber auch in der weniger harten Welt der mensch­li­chen Sinn- und Hand­lungs­be­züge ausmachen. Wer sich in einem zurei­chend funk­tio­nie­renden Recht­staat auf das Feld gericht­li­cher Ausein­an­der­set­zungen begibt, weil er etwa Wahl­fäl­schungen unter­stellt, der muss seiner­seits Fakten und Beweise liefern. Sie sind das Eintritts­ti­cket in das juris­ti­sche Verfahren. Anschul­di­gungen ohne Beweise sind juris­tisch gesehen heiße Luft oder werden selbst zum Faktum einer Falsch­be­haup­tung oder üblen Nachrede. Anschul­di­gungen müssen durch Fakten hinrei­chend plau­si­bi­liert sein, damit überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, in dem dann in Rede und Gegenrede über sie verhan­delt wird. Es darf ange­nommen werden, dass der juris­ti­sche Zirkus, den Trump nach der verlo­renen Wahl veran­stal­tete, nicht nur eine Dolch­stoß­le­gende um eine „gestoh­lene Wahl“ eines im Felde vermeint­lich unbe­siegten Präsi­denten insze­nieren sollte, sondern viel mit Trumps Post­fak­ti­zismus zu tun hat. Das Ergebnis der Wahl muss danach ein Fake sein, ein Faktum, das es nicht gibt – oder nur als Schein gibt, der von außen kommt. So wie das „Chinese Virus“, das Trumps ersten, den mensch­li­chen Körper treffen wollte und dabei von seiner schieren Willens­kraft nieder­ge­rungen und in seinem schein­haften Wesen entlarvt wurde. In ähnlicher Weise geht es nun um Fake-Stimmen, die von einem Außen im Innen herrühren, von den Demo­kraten und ihren welt­weiten Agenturen, die gefälschte Stimmen wie Viren in Umlauf brachten, um den zweiten, den präsi­dialen Körper und das höhere und ewige Sein zu treffen, das sich in ihm mani­fes­tiert. Die Unfä­hig­keit, eine Nieder­lage in demo­kra­ti­schen Wahlen anders als aus der narziss­tisch-ressen­ti­men­talen Perspek­tive einer tiefen Versto­ßung betrachten zu können, macht es nötig, das Wahl­er­gebnis zur teuf­li­schen Intrige umzu­in­ter­pre­tieren. Sie führt uns auch nahe an eine vorde­mo­kra­ti­sche, feudale Denkweise heran, aus der sich die kantische Aufklä­rung heraus­ar­beiten wollte.

Textende

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