Reisebericht aus der Ukraine:
Keine Energiesicherheit ohne militärische Sicherheit
Im Januar haben wir mit Abgeordneten und Mitarbeitenden des Deutschen Bundestages zum Thema Energiesicherheit und ‑kooperation eine Reise in die Ukraine organisiert. Die Erfahrung, in einem Luftschutzkeller zu sitzen, und die Zerstörung durch die russischen Angriffe zu sehen, verdeutlichte dabei noch einmal eindrücklich, wie wichtig mehr Luftabwehrsysteme und eine entschlossenere militärische Unterstützung der Ukraine sind.
In einem Raum ohne Fenster stehen mehrere Stühle, ein Sofa, ein Paar Sitzsäcke und eine Kaffeemaschine. Viele Leute unterhalten sich leise in verschiedenen Sprachen oder schauen gebannt auf ihre Handys. Das Thema ihrer Gespräche sind die russischen Raketen, die immer näherkommen. In ihren Smartphones checken sie entweder Telegram-Kanäle, die über die aktuelle Sicherheitslage informieren oder Nachrichten von Freunden und Bekannten.
Wir – das sind die Abgeordneten Holger Becker, Dr. Herbert Wollmann, Katja Adler und Kassem Taher Saleh sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Deutschen Bundestags, Marieluise Beck, Daria Malling und Lukas Daubner – sind im Schutzkeller eines Kyjiwer Hotels, mit uns das Personal und die Gäste.
Eigentlich war unsere LibMod-Reise mit der Bundestagsdelegation dem Thema Energiesicherheit und ‑kooperation gewidmet. Wenn man aber in Kyjiw ist, muss man immer mit russischen Raketenangriffen rechnen. Auf unserer Tagesordnung für den 23. Januar stand, dass wir uns den Ort, an dem am 2. Januar eine russische Rakete eingeschlagen war, anschauen und mit den Freiwilligen sprechen, die geholfen hatten, die Trümmer aufzuräumen und die Fenster mit Brettern zu vernageln.
Doch nach diesem Morgen trauen wir uns nicht, die Freiwilligen aus den lokalen NGOs von ihrer Arbeit abzuhalten. Wenige Stunden nachdem der Luftalarm vorbei ist, sind sie schon neben den staatlichen und kommunalen Stellen unmittelbar dort im Einsatz, wo eine weitere Rakete eingeschlagen ist. Bei dem Angriff wurden mehrere Häuser beschädigt und ein Gebäude einer Sportschule durch eine Rakete direkt getroffen. Hier liegen neben Fußballpokalen und den Fotos von lächelnden Kindern in Fußball-Trikots Glasscherben und Trümmer. Und da, wo noch vor ein paar Stunden das Dach war, klafft ein riesiges Loch.
Die Erfahrung, in einem Luftschutzkeller zu sitzen, und die Bilder der zerstörten Gebäude zeigten einmal mehr, wie wichtig mehr Luftabwehrsysteme und eine entschlossenere militärische Unterstützung der Ukraine sind.
Während der vielen intensiven Diskussionen mit hochrangigen Gesprächspartnern über die Gegenwart und die Zukunft des ukrainischen Energiesystems bekomme ich neue Nachrichten aus meiner Heimatstadt Charkiw im Osten der Ukraine. Anders als Kyjiw ist Charkiw deutlich schlechter vor den russischen Angriffen geschützt. Aus dem benachbarten Belgorod erreichen die Stadt regelmäßig tödliche Raketen. Zwischen Luftalarm und Einschlag bleiben den Menschen etwa 40 Sekunden. Die Zeit, sich in einen Schutzkeller zu flüchten, haben sie in der Regel nicht. Auch an jenem Morgen, als wir im sicheren Schutzkeller in Kyjiw saßen, starben in Charkiw zehn Menschen durch einen russischen Raketenangriff.
Die Frage nach Waffenlieferungen überlagert alles
Das Thema Luftabwehr und Waffenlieferungen, auch von Taurus Langstrecken-Raketen, zieht sich durch alle Gespräche, die wir während dieser Reise führen. Egal ob im Verteidigungsministerium, in einer Arztpraxis in einem kleinen Ort in der Region Kyjiw, im Energieministerium oder im Energieausschuss der Werchowna Rada. Es ist klar: man kann nicht über den Wiederaufbau, über mögliche Energiekooperation und schon gar nicht über Energiesicherheit reden, wenn nicht genug Luftabwehrsysteme vorhanden sind und an der Front die Munition fehlt. Was die Ukraine jetzt für eine effiziente Verteidigung und die Befreiung von den besetzten Territorien braucht, ist eine langfristige und systematische Unterstützung. Das Sicherheitsabkommen zwischen der Ukraine und Großbritannien könnte auch ein Vorbild für eine solche Unterstützung aus Deutschland sein.
Formalisierte Verpflichtungen, der Ukraine zu helfen und ihr in ihrem Kampf für Frieden und Freiheit beiseitezustehen, zumindest bis die Ukraine der Nato beitritt, spielt auch für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes eine wichtige Rolle. Die Ukraine benötigt dringend Investitionen. Und zwar nicht nur um das, was Russland zerstört hat, wiederaufzubauen, sondern auch für die Modernisierung des Landes. Die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur haben eine Art mentaler Revolution in der Gesellschaft ausgelöst: eine neue Wertschätzung von erneuerbaren Energien und dezentraler Energieerzeugung als Schlüssel für mehr Energiesicherheit und Resilienz. Neue Gesetze zur grünen Energiewende befördern diese Entwicklung. Allein PV-Anlagen überall zu installieren, reicht aber nicht. Gleichzeitig müssen genauso wie in Deutschland Stromnetze und Speicherkapazitäten ausgebaut werden. Außerdem braucht die Energieinfrastruktur physischen Schutz vor den russischen Angriffen und weitere Reparaturen. All das benötigt massive Investitionen, die der Ukraine zurzeit fehlen.
Die Energiewende birgt große Chancen
Dabei gibt es viel Potential, mit Kooperationen im Energiebereich mehr Einnahmen für den Haushalt zu schaffen. Durch die Synchronisierung mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO‑E) wurde das Limit für Stromexporte auf 400 MW erhöht. Die Handelskapazitäten werden weiter ausgewertet, da es signifikantes Potential für mehr Energieexporte gibt, unter anderem durch den Überschuss an erneuerbarem Strom im Sommer.
In unseren Gesprächen mit Energieexperten und Entscheidungsträgerinnen ging es weniger um langfristige und noch unkonkrete Perspektiven, wie zum Beispiel Wasserstoffexporte. Die Priorität lag auf den Bereichen, in denen die Ukraine und die EU schon jetzt effizient zusammenarbeiten können: unter anderem Biomethan-Exporte, Nutzung von ukrainischen unterirdischen Gasspeichern und Dezentralisierung des Energiesystems.
Gerade bei der Unterstützung dezentraler und erneuerbarer Energiesysteme in der Ukraine spielt Deutschland mit seinen großen Beiträgen zum Ukraine Energy Support Fund eine wichtige Rolle. Deutschlands Zuschüsse sind dabei strikt zweckgebunden: außer der Finanzierung von Anlagen für erneuerbare Energie sind Mittel für die Beschaffung von Energieausrüstung, Brennstoffen und Dienstleistungen vorgesehen. Durch den Krieg mangelt es aber oft an Grundsätzlichem. Es besteht beispielsweise bei Energieunternehmen ein großer Bedarf an Fahrzeugen. Insbesondere bei denjenigen, die in den Frontregionen unter dem ständigen Beschuss durch die russische Armee arbeiten müssen. Denn die Lastwagen für das Reparaturpersonal haben kein besonders langes Leben, wenn sie in der Nähe von der Front eingesetzt werden.
Fachkräftemangel ist ein großes Problem
Ein Problem, das schon jetzt sehr drängend ist und in der Zukunft noch kritischer wird, ist der Fachkräftemangel. Auch vor der großen Invasion im Februar 2022 fehlten Fachkräfte im Energiesektor: Energiemanager in den Kommunen, Ingenieure in staatlichen und privaten Unternehmen, Monteure, Energieberater und Projektentwickler. In einem von Männern dominierten Feld (nur 22 % aller Beschäftigten im Energiesektor sind Frauen) sind die Folgen des Krieges jetzt besonders spürbar. Je länger der Krieg dauert und je mehr Fachleute mobilisiert werden, desto schwieriger wird der Wiederaufbauprozess.
Obwohl bei den massiven Attacken im Winter 2022/2023 und weiteren, wenn auch weniger intensiven Angriffen in den letzten Monaten 50 % der Energieinfrastruktur zerstört oder beschädigt wurden, gibt es momentan keine Blackouts. Die Ausstattung der kritischen Infrastruktur, von Krankenhäusern und Schulen mit PV-Anlagen wurde von ukrainischen NGOs initiiert. Jetzt wird dieser Ansatz auch von der Regierung übernommen, um vor allem die Orte, die am stärksten von Stromausfällen bedroht und von Kampfhandlungen betroffen sind, zu unterstützen. In einigen Regionen, wie zum Beispiel in Odesa, konnten gerade Wind- und Solaranlagen die Resilienz gegen Stromausfälle deutlich erhöhen. Trotz der aktiven Kampfhandlungen im Süden werden schon jetzt weitere Windparks gebaut.
Diese Reise hat zum wiederholten Mal gezeigt, dass die Menschen in der Ukraine bereit sind, für ihre Freiheit zu kämpfen, und dass sie ihr Land als Teil der europäischen Gemeinschaft sehen. Das wird aber nur möglich sein, wenn auch wir im Westen mutig genug sind, die Ukraine mit allen Kräften, militärisch und politisch in diesem Kampf unterstützen. Es liegt in unserem eigenen Interesse.
Mitreisende:
- Katja Adler, MdB, FDP
- Holger Becker, MdB, SPD
- Kassem Taher Saleh, MdB, Bündnis 90/die Grünen
- Herbert Wollmann, MdB, SPD
- Victor Bashkatov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, MdB Christoph Schmid, SPD
- Marieluise Beck, Senior Fellow, LibMod
- Lukas Daubner, Programmdirektor Ökologische Moderne, LibMod
- Daryna Kolesnykova, Büroleiterin/Wissenschaftliche Mitarbeiterin, MdB Herbert Wollmann, SPD
- Yannik Laßhof, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, MdB Philip Krämer, Bündnis 90/die Grünen
- Daria Malling, Projektmanagerin Ökologische Moderne, LibMod
- Vanessa Jessica Maurer, Büroleiterin/Wissenschaftliche Mitarbeiterin, MdB Thomas Erndl, CSU
- Anna Katharina Merkle, Büroleiterin, MdB Harald Ebner, Bündnis 90/die Grünen
- Adrien Désiré Pierre Pagano, Büroleiter, MdB Stefan Wenzel, Bündnis 90/die Grünen
- Roland Hans Papesch, Persönlicher Referent, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, MdB Rainer Semet, FDP
- Anchalee Miriam Rüland, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, MdB Norbert Röttgen, CDU
- Leopold Maria Traugott, Außenpolitischer Referent, MdB Katja Leikert, CDU
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