Die Ultraorthodoxie gegen den Staat Israel
Die zweite Covid-19-Welle hat die Spaltungslinien in der israelischen Gesellschaft vertieft. In der säkularen Bevölkerung wächst der Unmut über die Sonderrechte für die Ultraorthodoxen, die nach ihren eigenen Gesetzen leben, gleichzeitig aber die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft in Anspruch nehmen. Premier Netanyahu hat sich zum Gefangenen seiner ultrareligiösen Koalitionspartner gemacht.
Die Ursache der Probleme, die Israel in diesen Tagen mit den Ultraorthodoxen hat, liegt weit zurück. Genauer gesagt: im Jahr 1947. Damals machte Zionistenführer David Ben Gurion einen strategischen Fehler, den er zunächst als solchen gar nicht erkennen konnte. In seinem „Status Quo Brief“ gestand er der Ultraorthodoxie Autonomie zu. In religiösen Fragen, in schulische Fragen. Und sie bekamen das Monopol für die zivilrechtlichen Dinge in Israel, von der Geburt bis zum Tod, sie bekamen das Versprechen, nicht zur Armee zu müssen, wenn sie in den Religionsschulen die Heiligen Schriften studierten. Ben Gurion fand die Idee eines autonomen Schulsystems nicht gut, aber es gab damals nur mal rund 400 fromme Religionsstudenten, im Gegensatz zu mehreren Hunderttausend heute. Und er musste damals gegenüber der ultraorthodoxen rabbinischen Führungsfiguren Konzessionen machen. Der Brief wurde elf Monate vor der eigentlichen Staatsgründung geschrieben und Ben Gurion wollte sicher gehen, dass die „Frommen“ gegenüber der UN nicht andere Standpunkte vertreten würden als die Zionisten. Denn viele Ultraorthodoxe sahen und sehen den Staat Israel als Blasphemie. Eigentlich dürfte es erst dann wieder einen jüdischen Staat geben, wenn der Messias kommt, so die Lehre. Aber die Frommen begriffen, zwei Jahre nach der Shoah, dass es einer pragmatischen Lösung für das jüdische Volk bedurfte. Sie ließen sich auf den Handel ein.
Und so darf es nicht verwundern, dass in den ultraorthodoxen Hochburgen in Israel ein „anderes Gesetz“ gilt als das des Staates. Obwohl das formaljuristisch natürlich so nicht stimmt. Doch nach dem zweiten Lockdown bekam Israels Premier Netanyahu eine riesige Klatsche. Die regulären Schulen blieben geschlossen, doch die Rabbiner riefen ihre Schüler und Studenten auf, ab Sonntag, den 18. Oktober 2020, wieder zum Unterricht zu kommen. Das säkulare Israel tobt. Schon seit Jahren eigentlich. Viele normalen Israelis ereifern sich, dass ihre Kinder Militärdienst leisten müssen und die Ultras nicht. Dass sie Steuern zahlen müssen und jene mit Hilfe dieser Steuern subventioniert werden. Doch nichts änderte sich. Denn die großen Parteien brauchten die religiösen Parteien stets für ihre Koalitionen. Die Arbeitspartei ebenso wie natürlich der Likud.
Was sich in den letzten Jahren allerdings veränderte, war die eiserne Allianz, die Premier Netanyahu mit den religiösen Parteien geschmiedet hat. Sein Likud und die Frommen treten als ein politischer Block auf. Aber das heißt auch: der Premier ist auf sie angewiesen, ist in ihrer Hand. Sie garantieren ihm inzwischen seine Machtposition, nachdem er bei den letzten drei Wahlen in den vergangenen anderthalb Jahren keine eigene Mehrheit mehr zusammenbrachte und letztlich das Glück hatte, dass Blau-Weiss unter ihrem Führer Benny Gantz das eigene Wahlversprechen brach und sich doch Netanyahu und den Frommen zu einer Koalition anschloss.
Was die Abhängigkeit Netanyahus von den Rabbinern bedeutet, sah man kurz vor dem generellen Lockdown. Zunächst sollte es nur partielle Lockdowns geben. Und das hätte vor allem die Städte getroffen, die Corona-Hotspots waren, insbesondere also arabische Ortschaften innerhalb Israels und die Städte der „Haredim“, der Orthodoxen. Doch ein Brief der rabbinischen Führer, sie würden die Koalition verlassen, wenn Bibi das zulassen würde, sorgte innerhalb von 24 Stunden für die totale Umkehr: ein genereller Lockdown für alle wurde angekündigt. An den sich die Ultras kaum hielten. Diejenigen Israelis, die aber brav zuhause ausharrten, fühlten sich verraten und verkauft. Denn die Ultraorthodoxen, die gerade mal 11% der Bevölkerung stellen, machen 40% der Corona-Kranken aus. Und auch während des generellen Lockdowns waren ihnen die Anordnungen ziemlich egal. Der große Bibi, wie Israelis ihren Premier nennen, war machtlos, drückte alle Augen zu. Und bekam nun noch die Ohrfeige mit der Wiederöffnung der Cheders und Jeshivot, der Religionsschulen.
Was sich hier endgültig herauskristallisiert: Israel ist nicht nur ein gespaltenes Land, es besteht eigentlich aus zwei Staaten. Einem Staat der Ultraorthodoxen, die leben, wie sie wollen, und denen das Wort ihrer Rabbiner mehr gilt als das der Regierung in Jerusalem. Und jenes Israel, das einem „normalen“ Staat noch am nächsten kommt.
Für Premier Netanyahu könnte sein eisernes Bündnis nun zum Verhängnis werden. Die Menschen, die während der Lockdowns arbeitslos wurden, werden nicht vergessen, was die “Frommen“ getan haben, werden nicht vergessen, wie Netanyahu sie hat gewähren lassen. Selbst viele rechte Wähler sind empört. Die Sturheit der ultraorthodoxen Rabbiner, ihr Wort für wichtiger zu erachten als das des Premiers, wird auf alle Fälle Netanyahu weiter schwächen. Langfristig könnten die Ereignisse der letzten Wochen das Ende des von Ben Gurion versprochenen Status Quo bedeuten. Doch Frohlockungen, dies könnte schon ganz bald der Fall sein, wie linke Kommentatoren in Israel überzeugt sind, greifen zu kurz. Der Drang, irgendwie an der Macht zu bleiben, könnte nicht nur Netanyahu, sondern jeden anderen rechten Politiker am Ende doch dazu verführen, zumindest eine der frommen Parteien in eine Koalition aufzunehmen. Das Gros der israelischen Bevölkerung ist da weiter als ihre Führer. Die meisten Israelis werden zweierlei Maß in Zukunft nicht mehr akzeptieren. Schon jetzt hielten sich auch so manche nicht-orthodoxe Israelis nur bedingt an die Lockdown-Auflagen. „Wenn die sich an nichts halten, warum sollen wir das dann?“, so die Stimmung. Das aber bedeutet mittelfristig erst mal wachsende Anarchie. Und wenn dann noch dazukommt, dass sich nicht einmal Minister und Staatsbeamte an die Lockdown-Regelungen halten, dann darf man sich über den Zerfall von Autorität in Israel wahrlich nicht wundern. Mit Sicherheit aber haben die ultrafrommen Rabbiner jegliche Sympathie beim Rest der Israelis verspielt. Die viel gepriesene Einheit des Volkes, es gibt sie nun nicht mehr. Die Spaltung wird sich fortsetzen.
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