Die Ultra­or­tho­doxie gegen den Staat Israel

Demons­tra­tion am 10. Oktober 2020 in Tel Aviv gegen die Coro­na­po­litik der israe­li­schen Regierung, Foto: Jose HERNANDEZ Camera 51/​Shutterstock

Die zweite Covid-19-Welle hat die Spal­tungs­li­nien in der israe­li­schen Gesell­schaft vertieft. In der säkularen Bevöl­ke­rung wächst der Unmut über die Sonder­rechte für die Ultra­or­tho­doxen, die nach ihren eigenen Gesetzen leben, gleich­zeitig aber die Soli­da­rität der Mehr­heits­ge­sell­schaft in Anspruch nehmen. Premier Netanyahu hat sich zum Gefan­genen seiner ultra­re­li­giösen Koali­ti­ons­partner gemacht.

Die Ursache der Probleme, die Israel in diesen Tagen mit den Ultra­or­tho­doxen hat, liegt weit zurück. Genauer gesagt: im Jahr 1947. Damals machte Zionis­ten­führer David Ben Gurion einen stra­te­gi­schen Fehler, den er zunächst als solchen gar nicht erkennen konnte. In seinem „Status Quo Brief“ gestand er der Ultra­or­tho­doxie Autonomie zu. In reli­giösen Fragen, in schu­li­sche Fragen. Und sie bekamen das Monopol für die zivil­recht­li­chen Dinge in Israel, von der Geburt bis zum Tod, sie bekamen das Verspre­chen, nicht zur Armee zu müssen, wenn sie in den Reli­gi­ons­schulen die Heiligen Schriften studierten. Ben Gurion fand die Idee eines autonomen Schul­sys­tems nicht gut, aber es gab damals nur mal rund 400 fromme Reli­gi­ons­stu­denten, im Gegensatz zu mehreren Hundert­tau­send heute. Und er musste damals gegenüber der ultra­or­tho­doxen rabbi­ni­schen Führungs­fi­guren Konzes­sionen machen. Der Brief wurde elf Monate vor der eigent­li­chen Staats­grün­dung geschrieben und Ben Gurion wollte sicher gehen, dass die „Frommen“ gegenüber der UN nicht andere Stand­punkte vertreten würden als die Zionisten. Denn viele Ultra­or­tho­doxe sahen und sehen den Staat Israel als Blas­phemie. Eigent­lich dürfte es erst dann wieder einen jüdischen Staat geben, wenn der Messias kommt, so die Lehre. Aber die Frommen begriffen, zwei Jahre nach der Shoah, dass es einer prag­ma­ti­schen Lösung für das jüdische Volk bedurfte. Sie ließen sich auf den Handel ein.

Und so darf es nicht verwun­dern, dass in den ultra­or­tho­doxen Hoch­burgen in Israel ein „anderes Gesetz“ gilt als das des Staates. Obwohl das formal­ju­ris­tisch natürlich so nicht stimmt. Doch nach dem zweiten Lockdown bekam Israels Premier Netanyahu eine riesige Klatsche. Die regulären Schulen blieben geschlossen, doch die Rabbiner riefen ihre Schüler und Studenten auf, ab Sonntag, den 18. Oktober 2020, wieder zum Unter­richt zu kommen. Das säkulare Israel tobt. Schon seit Jahren eigent­lich. Viele normalen Israelis ereifern sich, dass ihre Kinder Mili­tär­dienst leisten müssen und die Ultras nicht. Dass sie Steuern zahlen müssen und jene mit Hilfe dieser Steuern subven­tio­niert werden. Doch nichts änderte sich. Denn die großen Parteien brauchten die reli­giösen Parteien stets für ihre Koali­tionen. Die Arbeits­partei ebenso wie natürlich der Likud.

Was sich in den letzten Jahren aller­dings verän­derte, war die eiserne Allianz, die Premier Netanyahu mit den reli­giösen Parteien geschmiedet hat. Sein Likud und die Frommen treten als ein poli­ti­scher Block auf. Aber das heißt auch: der Premier ist auf sie ange­wiesen, ist in ihrer Hand. Sie garan­tieren ihm inzwi­schen seine Macht­po­si­tion, nachdem er bei den letzten drei Wahlen in den vergan­genen andert­halb Jahren keine eigene Mehrheit mehr zusam­men­brachte und letztlich das Glück hatte, dass Blau-Weiss unter ihrem Führer Benny Gantz das eigene Wahl­ver­spre­chen brach und sich doch Netanyahu und den Frommen zu einer Koalition anschloss.

Was die Abhän­gig­keit Netan­yahus von den Rabbinern bedeutet, sah man kurz vor dem gene­rellen Lockdown. Zunächst sollte es nur partielle Lockdowns geben. Und das hätte vor allem die Städte getroffen, die Corona-Hotspots waren, insbe­son­dere also arabische Ortschaften innerhalb Israels und die Städte der „Haredim“, der Ortho­doxen. Doch ein Brief der rabbi­ni­schen Führer, sie würden die Koalition verlassen, wenn Bibi das zulassen würde, sorgte innerhalb von 24 Stunden für die totale Umkehr: ein gene­reller Lockdown für alle wurde ange­kün­digt. An den sich die Ultras kaum hielten. Dieje­nigen Israelis, die aber brav zuhause ausharrten, fühlten sich verraten und verkauft. Denn die Ultra­or­tho­doxen, die gerade mal 11% der Bevöl­ke­rung stellen, machen 40% der Corona-Kranken aus. Und auch während des gene­rellen Lockdowns waren ihnen die Anord­nungen ziemlich egal. Der große Bibi, wie Israelis ihren Premier nennen, war machtlos, drückte alle Augen zu. Und bekam nun noch die Ohrfeige mit der Wieder­öff­nung der Cheders und Jeshivot, der Religionsschulen.

Was sich hier endgültig heraus­kris­tal­li­siert: Israel ist nicht nur ein gespal­tenes Land, es besteht eigent­lich aus zwei Staaten. Einem Staat der Ultra­or­tho­doxen, die leben, wie sie wollen, und denen das Wort ihrer Rabbiner mehr gilt als das der Regierung in Jerusalem. Und jenes Israel, das einem „normalen“ Staat noch am nächsten kommt.

Für Premier Netanyahu könnte sein eisernes Bündnis nun zum Verhängnis werden. Die Menschen, die während der Lockdowns arbeitslos wurden, werden nicht vergessen, was die “Frommen“ getan haben, werden nicht vergessen, wie Netanyahu sie hat gewähren lassen. Selbst viele rechte Wähler sind empört. Die Sturheit der ultra­or­tho­doxen Rabbiner, ihr Wort für wichtiger zu erachten als das des Premiers, wird auf alle Fälle Netanyahu weiter schwächen. Lang­fristig könnten die Ereig­nisse der letzten Wochen das Ende des von Ben Gurion verspro­chenen Status Quo bedeuten. Doch Froh­lo­ckungen, dies könnte schon ganz bald der Fall sein, wie linke Kommen­ta­toren in Israel überzeugt sind, greifen zu kurz. Der Drang, irgendwie an der Macht zu bleiben, könnte nicht nur Netanyahu, sondern jeden anderen rechten Politiker am Ende doch dazu verführen, zumindest eine der frommen Parteien in eine Koalition aufzu­nehmen. Das Gros der israe­li­schen Bevöl­ke­rung ist da weiter als ihre Führer. Die meisten Israelis werden zweierlei Maß in Zukunft nicht mehr akzep­tieren. Schon jetzt hielten sich auch so manche nicht-orthodoxe Israelis nur bedingt an die Lockdown-Auflagen. „Wenn die sich an nichts halten, warum sollen wir das dann?“, so die Stimmung. Das aber bedeutet mittel­fristig erst mal wachsende Anarchie. Und wenn dann noch dazukommt, dass sich nicht einmal Minister und Staats­be­amte an die Lockdown-Rege­lungen halten, dann darf man sich über den Zerfall von Autorität in Israel wahrlich nicht wundern. Mit Sicher­heit aber haben die ultrafrommen Rabbiner jegliche Sympathie beim Rest der Israelis verspielt. Die viel geprie­sene Einheit des Volkes, es gibt sie nun nicht mehr. Die Spaltung wird sich fortsetzen.

Textende

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