Russland und China: der digitale Systemkonflikt
Die Digitalisierung befeuert die Auseinandersetzung der Gesellschaftsmodelle. China perfektioniert die Totalüberwachung und auch Russland forscht intensiver über Künstliche Intelligenz als man denkt. Der liberale Westen muss die Demokratie im Internet-Zeitalter mutig fortentwickeln und zugleich Freiheit und Privatsphäre schützen – sonst werden ihm autoritäre Regime den Rang ablaufen.
Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Zwar ist die Digitalisierung kein Teufelswerk, aber man fühlt sich doch an diese Lebensweisheit erinnert. Was wurde sie doch gefeiert. Das Internet, so glaubten viele, sei der Schlüssel in eine helle Zukunft. Die Technologiekonzerne aus Kalifornien galten als Weltverbesserer.
Die Digitalisierung ist keine bloße technische Angelegenheit. Sie stellt die Machtfrage und ist damit zutiefst politisch.
Mittlerweile ist die Euphorie verflogen. In der Tat haben digitale Technologien ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Aber zugleich wurden die Schattenseiten sichtbar: Cyberangriffe, Fake News, manipulierte Wahlen, eine Verrohung der Debattenkultur, Einbruch in die Privatsphäre, digitale Persönlichkeitsprofile, massive Umbrüche in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Die Liste lässt sich fortführen.
Russland und China nutzen Digitaltechnologie
Und die Politik? Autoritäre Regimes haben die digitale Revolution früh unter ihre Fittiche genommen und für ihre Zwecke genutzt. Dagegen wurde Digitalisierung in Europa und Amerika im Wesentlichen als apolitische Technologie-Förderung betrieben, obwohl auch hier Geheimdienste und Militär ihre Finger im Spiel haben. Aber die Digitalisierung ist keine bloße technische Angelegenheit. Sie stellt die Machtfrage und ist damit zutiefst politisch.
Wer beherrscht wen? Dieses machtpolitische Leitmotiv steht im Mittelpunkt der Digitalisierung, von den individuellen Nutzern bis zur Geopolitik. Es zieht sich quer durch alle Ebenen, denn die digitale Revolution wälzt alles um.
Technologischer Kalter Krieg
Russlands Präsident Putin hat schon erkannt: Wer die Künstliche Intelligenz dominiert, beherrscht die Welt. Er hat nicht Unrecht. Geopolitische Dominanz beruht auch auf der Kontrolle einer bedeutenden Informations-Infrastruktur. Wissen ist Macht. Das römische Reich kontrollierte die Straßen, Großbritannien die Seewege. Wer in Zukunft die digitalen Technologien und Datenströme kontrolliert, kann die Weltordnung prägen. Data is king.
Wir befinden uns in einen technologischen Kalten Krieg. Die USA und China wetteifern um die technologische Führung bei der Künstlichen Intelligenz. Staaten schließen ihre digitalen Märkte ab und wollen ihre Datensouveränität schützen. Gesetze werden eingeführt, um den Datenfluss in andere Länder zu verhindern. Das Internet wird zum „Splinternet“.
Industrien des 20. Jahrhunderts in Gefahr
Wirtschaftlich fordert die Digitalisierung die alte, analoge Wirtschaftsordnung heraus. Vor allem Europa ist betroffen. Europa ist stark in den Industrien des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht ausgemacht, ob sie die digitale Revolution überleben werden. Im 21. Jahrhundert dominiert Software die Hardware. Europäische Unternehmen könnten schnell zu Zulieferer großer Technologiefirmen werden. Schon heute hat Software einen angeblichen Anteil von 40 Prozent an der Wertschöpfung eines Autos.
Die weltweit größten Unternehmen sind mittlerweile junge Technologiefirmen aus Amerika und China. Daten sind ihr Treibstoff. Anhand dieser Daten breiten sich die Unternehmen mit ihren Plattformökonomien und Netzwerk-Effekten aus. Chinas Tencent ist zugleich eine Chat-Plattform, eine Reiseagentur, eine Filmagentur, eine Suchmaschine, ein Computerspieleentwickler, ein Musikunternehmen, eine Versicherungsagentur und so weiter. Die Technologietitanen erobern Branchen, schaffen Abhängigkeiten und mächtige Monopolstrukturen. Wenn Europa nicht selber eine starke Digitalindustrie entwickelt, muss es sich, so Joschka Fischer, als Cyberkolonie zwischen Silicon Valley und Shenzhen entscheiden.
Qualifikationsdruck nimmt zu
Die digitale Machtfrage wird auch in der Arbeitswelt gestellt. Der Druck auf die Qualifikation von Arbeitnehmer/innen nimmt zu. Die Digitalisierung stellt traditionelle Jobs in Frage. In welchem Umfang sie neue schafft, ist eine offene Frage. Arbeiter und Angestellte werden zwischen Arbeitskosten und Robotern in die Zange genommen. Einige amerikanische Studien belegen, dass eine Anhebung des Mindestlohns die Automatisierung stärkt. Neue Formen prekärer Selbständigkeit breiten sich aus. Risiken werden auf digitale Subunternehmer abgewälzt. Während die Chancen und Einkommen der hochqualifizierten, global vernetzten digitalen Eliten eher steigen, fühlt sich ein anderer Teil der Gesellschaft überrollt. Die Digitalisierung der Arbeitswelt stellt auch den Sozialstaat vor Herausforderungen. Wenn Beschäftigung durch Roboter ersetzt wird, woher kommen die Einnahmen, um den Sozialstaat zu finanzieren?
Zweifel am demokratischen Verfahren
Die Digitalisierung mischt selbstverständlich auch gesellschaftlich mit. Ähnlich wie der Buchdruck im 15. Jahrhundert hat sie die Bedeutung von Information radikal verändert. Der Buchdruck machte Informationen leichter verfügbar und schuf eine neue Form der Öffentlichkeit. Das förderte Reflektion, Zweifel und Kritik. Das war, so Henry Kissinger, die Grundlage für das Zeitalter der Aufklärung. Die Digitalisierung zieht dies ins Extreme. Informationen verbreiten sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Es bleibt kaum Zeit für Reflektion. Alles kann in Zweifel gezogen und das Gegenteil behauptet werden. Fake News verbreiten sich und immer mehr Menschen stecken in einer Informations-Echokammer, wo man nur das hört, was man hören will. Mittels Künstlicher Intelligenz können Bilder oder Videos auf raffinierte Weise verfälscht und Stimmen imitiert werden. Manipulierte Informationen werden durch Bots verbreitet und erreichen ein Millionenpublikum. Mit gezielten Werbebotschaften (micro-targeting) werden zahlreiche Nutzer im Netz beeinflusst.
Das gefährdet die Grundlage jeder zivilen Gesellschaft: Vertrauen. Vertrauen ist das unsichtbare Band, das eine Gesellschaft zusammenhält. Aber das Vertrauen schwindet. Facebook und Cambridge Analytica haben gezeigt, wie partizipative Verfahren manipuliert werden können. Das schafft Kontrolle. Denn Macht ist nicht nur der „Sturm auf die Bastille“. Es ist, im Hegemoniebegriff Gramscis, auch der Kampf um Ideen und die Narrative einer Gesellschaft.
Auseinandersetzung der Gesellschaftsmodelle
Die Digitalisierung befeuert die Auseinandersetzung der Gesellschaftsmodelle. China nutzt die Digitalisierung, um sein autokratisches System mit einer Totalüberwachung und menschlicher Konditionierung zu verfestigen. Peking hat die beste Gesichtserkennungssoftware. Läuft man bei Rot über die Straße, wird die Person samt Name und Adresse gleich auf einer Leinwand aufgezeichnet und öffentlich an den Pranger gestellt. Mit dem chinesischen Sozialkreditpunktesystem sammelt man dazu gleich Minuspunkte ein. Wer gegen die Verhaltensregeln verstößt und zu viele Minuspunkte hat, bekommt Schwierigkeiten beim Erwerb einer Wohnung oder bei Schulplätzen für Kinder. Totalüberwachung und Sozialkreditpunktesystem – hier trifft Big Brother den Pawlowschen Hund.
In den USA wiederum herrscht ein weitgehend unregulierter Hyper-Datenkapitalismus. Die Privatsphäre ist Marktplatz. Daten werden an den höchsten Bieter verkauft und soziale Medien verkaufen Einflussmöglichkeiten auf ihre Plattformen – gerne auch an unbekannte Firmen aus Russland. So werden demokratische Wahlen beeinflusst.
Internet als Chance
Vor Jahren bedrohte die neue Welt des Internets noch autokratische Staaten. Sie schien ein Werkzeug der Demokratisierung. Die sozialen Medien beschleunigten den arabischen Frühling. Aber das Blatt hat sich gewendet. Mittlerweile bedroht die Internetwelt die Demokratie.
Digitale Technologien schaffen Kontrollgewinn und Kontrollverlust. Sie ermächtigen und entmachten. So ist es mit den meisten Technologien. Sie enthalten Keimformen der Freiheit und der Unterdrückung. Das Besondere der digitalen Technologien ist ihre enorme Hebelwirkung. Sie durchdringen alle Branchen und breiten sich mit enormer Geschwindigkeit aus. Sie eröffnen enorme Chancen für Kostenreduktion, Öko-Effizienz und soziale Teilhabe und enorme Potentiale für Kontrolle, Manipulation und wachsende soziale Polarisierung.
Vor diesem Hintergrund müssen die liberalen Demokratien die neuen digitalen Technologien aktiv gestalten. Sonst werden es andere tun.
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