Die roman­ti­schen Jahre sind vorbei

© Shut­ter­stock

Die poli­ti­schen Bera­ter­zirkel in Deutsch­land würden seit Jahr­zehnten von einer Gene­ra­tion von China­for­schern dominiert, die blind seien für die Macht­po­litik des chine­si­schen Partei­staats, schrieb Didi Kirsten Tatlow jüngst in einem Essay für LibMod. Die Diagnose über­rascht, findet unser Autor Thorsten Benner. Wenn die KP-Versteher so einfluss­reich sind, wie ist dann der Kurs­schwenk der Bundes­re­gie­rung hin zu einer realis­ti­scheren Haltung gegenüber Peking zu erklären?

Im Sommer 2016 habe ich unter dem Titel „Merkels China-Illusion“ die drei Fehl­an­nahmen deutscher China-Politik kriti­siert: dass Deutsch­land und China wirt­schaft­lich komple­men­täre Partner sind, dass China sich innen­po­li­tisch libe­ra­li­siert und sich als „verant­wort­li­cher Teilhaber“ in inter­na­tio­nale Insti­tu­tionen einbringt sowie dass Deutsch­lands enge bila­te­rale Bezie­hungen für den Rest Europas von Vorteil sind. Heute könnte ich ein solches Stück nicht mehr schreiben. In den letzten beiden Jahren hat sich die Regierung von allen drei Annahmen verabschiedet. 

Portrait von Thorsten Benner

Thorsten Benner ist Direktor des Berliner Thinktanks Global Public Policy Institute (GPPi).

Die Bundes­re­gie­rung sieht China jetzt als staats­ka­pi­ta­lis­tisch orga­ni­sierten Wett­be­werber, der mit seiner „Made in China 2025“-Strategie der deutschen Industrie die Butter vom Brot nehmen will und gleich­zeitig die Vorherr­schaft im Bereich Künst­liche Intel­li­genz anstrebt. Statt das Land zu öffnen, mache der neue Dauer­prä­si­dent Xi Jinping gefähr­liche Anleihen bei den Repres­si­ons­me­thoden der Mao-Ära mit den neuen Möglich­keiten des digitalen Über­wa­chungs­staates. China höhle bestehende inter­na­tio­nale Insti­tu­tionen von innen aus und umgehe diese gleich­zeitig durch den Aufbau von Paral­lel­in­sti­tu­tionen. Es verhalte sich zunehmend aggressiv in seiner eigenen Nach­bar­schaft, etwa im Südchi­ne­si­schen Meer. Man mache es China zu leicht, Europa zu spalten, so die neue Sicht­weise. Kurz: In Berlin hat man ein Sensorium für die Macht­po­litik des Partei­staats entwickelt.

Wer – wie Deutsch­land – bila­te­rale Regie­rungs­kon­sul­ta­tionen mit der chine­si­schen Regierung pflegt, braucht sich nicht wundern, wenn auch andere Staaten ihre bila­te­ralen Kanäle ausbauen wollen. Und kleinere Staaten haben dafür keine andere Möglich­keit, als dies gebündelt in dem vom China orga­ni­sierten 16+1‑Format zu tun. Ja, Deutsch­land blickt immer noch zu stark mit einer wirt­schaft­li­chen und nicht mit einer politisch-geostra­te­gi­schen Brille nach China und Asien. Das schmälert jedoch nicht die Tatsache, dass in den letzten beiden Jahren ein großes Umdenken der Top-Entscheider in der Regierung (sowohl in den Minis­te­rien als auch im Parlament) statt­ge­funden hat. Dieses mani­fes­tiert sich etwa in verschärften Inves­ti­ti­ons­schutz­ge­setzen und einer erhöhten Wach­sam­keit gegenüber den Bemü­hungen des chine­si­schen Partei­staates, in Deutsch­land und Europa Einfluss zu nehmen.

Junge China­for­scher betrachten China in verglei­chender Perspektive

Dieser Kurs­schwenk zeigt, dass die maßgeb­li­chen Stimmen, welche die Regierung zur Beratung heran­zieht, nicht die von Didi Kirsten Tatlow zurecht kriti­sierten KP-Versteher sind. Tatlow erwähnt eine jüngere Gene­ra­tion, die oft kriti­scher sei, aber kaum Gehör finde. Das unter­schätzt nach meiner Beob­ach­tung deren Rolle. Das junge Team von MERICS sowie andere exzel­lente China­for­scher haben besseren Zugang zu den rele­vanten Entschei­dungs­trä­gern als die meisten KP-Versteher. In manchen Fällen haben Entschei­dungs­träger deren Expertise (etwa bei der Neufas­sung der Inves­ti­ti­ons­schutz­re­geln) sehr konkret in Anspruch genommen. Viele von diesen China­for­schern verstehen sich nicht als klas­si­sche Sinologen. Sie haben oft in anderen Diszi­plinen ihre wissen­schaft­liche Heimat, sehen China in verglei­chender Perspek­tive und nicht als Exzep­tio­na­lismus und legen Wert auf die Poli­tik­re­le­vanz ihrer Arbeit. Eine zentrale Rolle spielen auch die Bericht­erstatter unserer Quali­täts­me­dien in China, die fast ausschließ­lich einen macht­po­li­tisch geschärften und sicher nicht späto­ri­en­ta­lis­tisch verklärten Blick haben.

Die oft jüngeren Chinaforscher*innen und die Jour­na­listen sind es auch, die das China-Bild der breiteren außen­po­li­ti­schen Community beein­flussen. China ist zu allge­gen­wärtig, als dass es die alleinige Domäne der Sinologen bleiben könnte – schließ­lich über­lassen wir die Außen­po­litik gegenüber den USA auch nicht den Ameri­ka­nisten. Der Unter­schied ist, dass ein großer Teil der deutschen außen­po­li­ti­schen Elite in den USA sozia­li­siert wurde oder zumindest die Sprache spricht und eigene Kanäle in die ameri­ka­ni­sche Gesell­schaft unterhält. Kaum jemand käme da auch nur auf die Idee, auf einen Ameri­ka­nisten zurückzugreifen.

Bei China ist das anders. Vergleichs­weise wenige in der deutschen außen­po­li­ti­schen Elite haben in China gelebt und sprechen die Sprache. Insofern spielen China­for­scher eine wichtige Rolle. Ich etwa profi­tiere enorm von der Expertise der jüngeren Gene­ra­tion von deutschen wie auslän­di­schen Chinakenner*innen. Sie haben meine eigenen Posi­tionen zu China mitge­formt. Und ich habe an dieser Gene­ra­tion über die letzten zehn Jahre hinweg beob­achten können, wie sich ihr Blick auf den chine­si­schen Partei­staat verändert hat. Ihre Grund­er­fah­rung in China waren die Jahre der relativen Öffnung und die Hoffnung auf eine zuneh­mende wirt­schaft­liche und gesell­schaft­liche, wenn auch nicht poli­ti­sche Libe­ra­li­sie­rung. Umso sensibler reagiert diese jüngere Gene­ra­tion auf die zuneh­menden Verhär­tungen des chine­si­schen Partei­staats. Die jüngeren Chinaforscher*innen haben einen sehr klaren Blick für die Macht­po­litik des KP-Apparates – nach innen wie nach außen. Und sie verstehen sehr gut, welche Rolle moderne Tech­no­lo­gien bei der Perfek­tio­nie­rung der Repres­sion spielen.

Kultur­re­la­ti­vismus erleich­tert das Gewissen

Die von Didi Kirsten Tatlow zu Recht kriti­sierten Sinologen, welche blind gegenüber der Macht­po­litik des KP-Staates sind, gibt es aber durchaus. Der Grund für diese Blindheit ist jedoch nicht allein der „Exo­tis­mus“, den Tatlow als Grundlage des Späto­ri­en­ta­lismus ausmacht. Diese Art von Späto­ri­en­ta­lismus lässt sich oft vor allem bei Wissen­schaft­lern beob­achten, die wenig Erfahrung mit China, aber jetzt wegen des chine­si­schen Aufstiegs vermehrt mit dem Partei­staat und chine­si­schen Forschern und Studenten zu tun haben. Späto­ri­en­ta­lismus gibt diesen Wissen­schaft­lern eine Orien­tie­rung. China ist eben „anders“. Kultur­re­la­ti­vismus erleich­tert das Gewissen, wenn man mit repres­siven Partei­staats­struk­turen zu tun hat. Unter Sinologen gibt es zudem einige weitere Faktoren, die diese zu bewussten oder unbe­wussten KP-Verste­hern machen.

Ein Faktor ist die Grund­er­fah­rung einer älteren Gene­ra­tion von Sinologen. Für viele ist das China der Kultur­re­vo­lu­tion die Grund­er­fah­rung – und auch Messlatte für das gegen­wär­tige China. Alles, was nicht so schlimm ist wie die Auswüchse unter Mao, kann so proble­ma­tisch nicht sein, so der Blick auf die heutige Situation. Ein Bespiel dafür ist Thomas Heberer von der Univer­sität Duisburg-Essen. Über seine eigenen Prägungen hat er in einem höchst aufschluss­rei­chen Interview mit dem chine­si­schen Staats­me­dium People’s Daily berichtet. Heberer ist beseelt von den rapiden Fort­schritten Chinas seit der Öffnung vor 40 Jahren und der Lern­fä­hig­keit seiner Herr­scher­elite. Entspre­chend blind ist sein Blick für die gegen­wär­tigen poli­ti­schen Entwick­lungen. Gefragt nach den Fort­schritten, die er in China in der nächsten Dekade erwartet, nennt er quali­ta­tives Wachstum, Armuts­be­sei­ti­gung, Umwelt­ver­bes­se­rungen und ein indus­tri­elles Upgrade. Und weil er viel­leicht das flaue Gefühl hat, dass das doch nicht alles sein kann, schiebt er noch nach: „Fünftens, und das ist mehr eine Hoffnung von mir, dass sich China auch stärker an inter­na­tio­nalen Normen orien­tiert und zu einem verläss­li­chen Partner in der Welt­po­litik wird.“ In dem gesamten Interview kein einziges Wort zur Macht­po­litik des Partei­staats nach innen und nach außen.

Ein damit verbun­dener zweiter Faktor ist Macht­blind­heit aus Angst vor Gene­ra­li­sie­rung und Schwarz-Weiß-Malerei. China ist eine diverse Gesell­schaft, kein Monolith. Darauf weisen Sinologen mit Recht hin. Heberer tut dies auch: „China ist nicht einfach ein einheit­li­ches Gebilde, über das man generelle und verall­ge­mei­nernde Aussagen machen kann. Hier gibt es viel­fäl­tige Unter­schiede von Provinz zu Provinz, von Bezirk zu Bezirk und von Landkreis zu Landkreis.“ Das sollte einen Sinologen jedoch nicht davon abhalten, die Macht­po­litik der Zentral­re­gie­rung in ihren Auswir­kungen nach innen und außen in den Blick zu nehmen. Viele der KP-Versteher unter den Sinologen richten es sich bequem in ihrer Begeis­te­rung über die Diver­sität der Gesell­schaft ein. Das ist ungefähr so, als würde sich ein Deutsch­land­for­scher weigern, Aussagen darüber zu treffen, ob die Euro­zo­nen­po­litik der Bundes­re­gie­rung schädlich oder nützlich für den Rest Europas ist, nur weil es Unter­schiede zwischen den Land­kreisen Arnsberg und Potsdam-Mittel­mark gibt.

Drittens spielen bei einigen unbe­wußten KP-Verste­hern andere außen­po­li­ti­sche Über­zeu­gungen eine Rolle, etwa eine starke Ablehnung der USA. Frank Pieke etwa, der neue MERICS-Direktor, sprach in einem Interview mit der chine­si­schen Nach­rich­ten­platt­form Jiemian davon, dass wir uns vom dem Konzept des „Westens“ verab­schieden sollten. Die Vorstel­lung von einer Äqui­di­stanz Europas gegenüber China und Amerika, von der Pieke Anfang September bei der MERICS China Lounge redete, mag hier ihren Ursprung nehmen.

Viertens geht es auch um handfeste Karrie­re­an­reize. 2010 schon ergrün­dete Kai Stritt­matter in der Süddeut­schen Zeitung das Schweigen der deutschen Sinologen nach der Verlei­hung des Nobel­preises an den Dissi­denten Liu Xiaobo. Die chine­si­sche Autorin Dai Qing mutmaßte zu den Gründen: „Ich tippe mehr auf mensch­liche Schwäche denn auf fehlende Intel­li­genz. Chinas Einfluss wächst rasant. China hat Geld. Als deutscher Wissen­schaftler, der es sich mit dem Regime nicht verdirbt, kann man es sich hier gut gehen lassen: Forschungs­gelder und Ehren­dok­tor­titel, die gibt es hier im Überfluss.“ In anderen Worten: Man kann sich ein schönes kleines Imperium aufbauen in der Forschungs­ko­ope­ra­tion mit China. Und zunehmend ist dafür Voraus­set­zung, dass man sich gut stellt mit den Herr­schenden. Der Vize­prä­si­dent der Freien Univer­sität, Klaus Mühlhahn,  ist so ein Fall. In einem Interview mit People’s Daily zu chine­si­schen Univer­si­täten gibt er seiner Begeis­te­rung über die „dyna­mi­sche Entwick­lung des chine­si­schen Wissen­schafts­sys­tems“ Ausdruck. „China arbeitet heut­zu­tage in manchem [sic] Gebieten auf einem welt­weiten Spit­zen­ni­veau“, so Mühlhahn. Es findet sich kein kriti­sches Wort zur Reideo­lo­gi­sie­rung und zuneh­mender Über­wa­chung an Top-Hoch­schulen wie der Peking-Univer­sität (Beida). Mühlhahn lobt die Part­ner­schaft in den höchsten Tönen und malt eine rosige Zukunft. In der Realität wurde gerade ein Kader aus der Staats­si­cher­heit zum Partei-Über­wa­cher der Beida ernannt.

Uns stehen große China-Debatten ins Haus

Diese Faktoren bewegen einige Sinologen, bewusst oder unbewusst zu KP-Verste­hern zu werden. Sie leisten oft wertvolle Forschungs­bei­träge, die bisweilen durchaus einen kriti­schen Blick auf Einzel­aspekte von Staat und Gesell­schaft werfen. Doch für die Gesamt­heit der Macht­po­litik des Partei­staats nach innen wie außen sind sie blind. Gleich­zeitig ist ihr Einfluss auf deutsche China-Politik begrenzt. Heberer etwa reiste mit dem ehema­ligen Bundes­prä­si­denten Joachim Gauck nach China und war Teil einer Dele­ga­tion Nordrhein-West­fa­lens beim Besuch der Huawei-Zentrale. Aber die deutsche China­po­litik hat er in den letzten Jahren nicht wesent­lich infor­miert oder gar geprägt. Entspre­chend frus­triert äußert sich Mühlhahn in dem Interview mit People’s Daily über den mangelnden Einfluss der Sinologen, die seine Weltsicht teilen: „Meine Klage und meine Unzu­frie­den­heit richten sich aller­dings darauf, dass die Sinologie häufig von Entschei­dungs­trä­gern in Politik, Wirt­schaft oder in den Medien nicht wirklich wahr­ge­nommen wird.“

Das könnte sich in den nächsten Jahren jedoch ändern. Der Kurs­wechsel der China­po­litik war eine Entschei­dung in Eliten­zir­keln, die nicht breit disku­tiert wurde. Wir haben in Deutsch­land bislang keine große Diskus­sion zur China­po­litik gehabt. Anders als bei der Russ­land­po­litik sind große Teile der Öffent­lich­keit mit Blick auf China noch nicht poli­ti­siert. In einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung geben sich 46 Prozent der Deutschen „neutral“, wenn sie nach ihrer Meinung zum zuneh­menden Einfluss Chinas gefragt werden.

In Deutsch­land steht uns jedoch wahr­schein­lich unter trans­at­lan­ti­schen Vorzei­chen bald eine große öffent­liche China-Diskus­sion ins Haus. Die Trump-Regierung treibt, mit Unter­stüt­zung beider Parteien, eine Politik der Entkopp­lung der Wirt­schaften des Westens und Chinas voran – mit Blick auf den Hoch­tech­no­lo­gie­sektor und darüber hinaus. Dafür übt die US-Regierung zunehmend Druck auf die Verbün­deten in Europa aus. Dies wird früher oder später zu einer großen öffent­li­chen Kontro­verse führen.

Für diese läuft sich jetzt schon Gerhard Schröder warm, der sich bislang vor allem als Fürspre­cher des Kreml-Staats­ka­pi­ta­lismus einen Namen gemacht hat. Nun scheint er sich auch als Steig­bü­gel­halter des KP-Staats­kom­mu­nismus in Spiel zu bringen. In einem Interview mit der Nach­rich­ten­agentur Reuters sagte er, dass er nicht verstehe, was man gegen chine­si­sche Inves­ti­tionen in Europa haben könne. Anders als die US-ameri­ka­ni­schen Heuschre­cken­in­ves­toren brächten die Chinesen zumindest einen Absatz­markt mit. Und auf die Repres­sion und die Lager in Xinjiang ange­spro­chen, befand der Altkanzler, dass er bei dieser Frage vorsichtig sein müsse, „weil ich keinerlei Infor­ma­tionen habe“.

Wenn es zu einer großen China-Diskus­sion in Deutsch­land kommt, wird es mehr Stimmen à la Schröder geben. Und die Nachfrage nach den KP-Verste­hern unter den Sinologen als Cheer­leader des Partei­staats wird steigen. Grund genug, noch stärker in poli­tik­re­le­vante China­ex­per­tise außerhalb der klas­si­schen Sinologie zu inves­tieren. Wir müssen China, den Partei­staat und seine Bedeutung für uns, im besten Sinne des Wortes, verstehen.

Textende

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