Verab­schiedung des auslän­di­schen Agenten­ge­setzes in Georgien: Was auf dem Spiel steht

Foto: Imago

Trotz Polizei­gewalt und Festnahmen protes­tieren seit Wochen Zehntau­sende in Georgien gegen das umstrittene Agenten­gesetz. Heute wurde es vom Parlament verab­schiedet, begleitet von Tumulten im Parlament. Unsere Georgien-Expertin Khatia Kikalishvili über Hinter­gründe, Inhalt und Konse­quenzen des Gesetzes, den Weg Georgiens in die EU – und warum das von der georgi­schen Regierung angeführte Argument der Trans­parenz hinfällig ist.

Zusam­men­fassung: Was bedeutet das „auslän­dische“ Agentengesetz?

Das Gesetz sieht die Einrichtung eines Registers für „auslän­dische Agenten“ vor, in dem sich Medien und Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen (NGOs) mit einer auslän­di­schen Finan­zierung von mehr als 20 Prozent eintragen müssen, anderen­falls drohen Geldstrafen und ordnungs­recht­liche Sanktionen.

Nach dem jetzt verab­schie­deten Gesetz ist der Staat gegenüber diesen als „auslän­dische Agenten“ gebrand­markten Organi­sa­tionen und Medien zu Abhör­maß­nahmen und „Inspek­tionen“ ohne richter­lichen Beschluss befugt. Er darf auch sensible perso­nen­be­zogene Daten der Mitar­beiter sammeln und verwenden. Das Gesetz bedeutet also in erster Linie eine Stigma­ti­sierung und Einschüch­terung von NGOs und freien Medien. Ein Gesetz mit gleichem Inhalt wurde 2012 in Russland erlassen, was letztlich ein Verbot der kriti­schen Medien und eine Einschränkung der freien Zivil­ge­sell­schaft zur Folge hatte.

Das von der Regie­rungs­partei ins Feld geführte Argument der Trans­parenz ist indes hinfällig, da bereits jetzt alle georgi­schen NGOs verpflichtet sind, Infor­ma­tionen über Geldgeber und Höhe der erhal­tenen Finanz­mittel jährlich in einem öffentlich einseh­baren Register einzutragen.

Begleitet von massiven Protesten haben die 83 Abgeord­neten der Regie­rungs­partei „Georgi­scher Traum“ des Oligarchen Bidzina Ivanishvili in allen drei Lesungen einstimmig dem „russi­schen Agenten­gesetz“ zugestimmt. Die proeu­ro­päische Präsi­dentin Salome Zurabishvili hat bereits angekündigt, dass sie ein Veto einlegen wird. Dieses Veto wird aber mit hoher Wahrschein­lichkeit im Parlament durch die Abgeord­neten der Regie­rungs­partei überstimmt werden.

Die EU und ihre Mitglied­staaten sind in ihren State­ments zu dem auslän­di­schen Agenten­gesetz sehr deutlich: Das geplante Gesetz würde die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen mit der EU ausschließen.

Es ist schwer voraus­zu­sehen, wie sich die Situation weiter­ent­wi­ckelt. Eines ist jedoch sehr klar: Die breite Protest­be­wegung zeigt, dass sich die georgische Zivil­ge­sell­schaft zu einer bedeu­tenden Kraft im Kampf für die Freiheit – und damit zu einem wichtigen Akteur für die EU-Integration Georgiens – entwi­ckelt hat. An diesen Zielen werden die Menschen in Georgien jede zukünftige Regierung messen.

Im Oktober 2024 finden Parla­ments­wahlen in Georgien statt. Das kann man als Glück im Unglück sehen, denn die Menschen haben in einigen Monaten die Möglichkeit, die Regierung abzuwählen.

Der europäische Weg Georgiens

Die Menschen in Georgien haben ihre Stimme schon oft erfolg­reich erhoben. Selbst die 70 Jahre dauernde sowje­tische Besatzung konnte den europäi­schen Gedanken in Georgien nicht auslö­schen. Das kleine Land mit 3,7 Millionen Einwohnern wurde 1991 unabhängig und ist seitdem mit russi­schen Aggres­sionen konfron­tiert. Darüber hinaus sind 20 Prozent des georgi­schen Terri­to­riums – Südos­setien und Abchasien – von Russland besetzt.

Die EU-Annäherung Georgiens begann in den 1990er Jahren mit dem Partner­schafts- und Koope­ra­ti­ons­ab­kommen (1999) mit der EU. Insbe­sondere nach der Rosen­re­vo­lution (2003) verpflichtete sich die georgische Regierung, die Bezie­hungen zu EU zu inten­si­vieren und sich im Rahmen der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik weiter in europäische Struk­turen einzugliedern.

Die russische Invasion 2008 in Georgien

Nach der russi­schen Invasion im August 2008 in Georgien und dem brutalen Vorgehen der russi­schen Streit­kräfte gegen die georgische Bevöl­kerung hat die EU 2009 die so genannte Östliche Partner­schaft ins Leben gerufen. Damit begann eine neue Etappe, die 2015 zur Unter­zeichnung des Assozi­ie­rungs­ab­kommens führte und wenig später auch die EU-Visafreiheit für die georgische Bevöl­kerung mit sich brachte.

Voraus­setzung für einen EU-Beitritt Georgiens ist eine freie Zivilgesellschaft

Nach Beginn des vollum­fäng­lichen Angriffs­kriegs Russlands gegen die Ukraine begann ein Umbruch in der EU-Außen­po­litik und ein geopo­li­ti­sches Erwachen der Europäi­schen Union – was in der Verleihung des Kandi­da­ten­status an die Ukraine, Moldau und Georgien sichtbar geworden ist. Damit ist ein „Window of Oppor­tunity“ für einen realen Beitritt dieser Länder in abseh­barer Zukunft entstanden.

Der Krieg in der Ukraine hat, 20 Jahre nach der letzten Erwei­terung, wieder erstmalig eine Möglichkeit der schritt­weisen Mitglied­schaft in der europäi­schen Gemein­schaft geschaffen. Im Herbst wird die EU entscheiden, ob die offizi­ellen Verhand­lungen mit Georgien über den Beitritt eröffnet werden können. Dafür müssen die von der EU-Kommission festge­legten neun Verpflich­tungen erfüllt werden. Darunter ist auch die Gewähr­leistung und Unter­stützung einer freien georgi­schen Zivil­ge­sell­schaft. In den 33 Jahren seiner Unabhän­gigkeit war Georgien der EU noch nie so nah wie heute.

Hinter­gründe, Ziele und Konse­quenzen des „auslän­di­schen Agenten­ge­setzes“ 

Das sogenannte „Agenten­gesetz“ wurde im Frühling des vergan­genen Jahres von der Regie­rungs­partei „Georgi­scher Traum“ (GT) initiiert. Wegen massiver Proteste hat die Regierung das Gesetz damals zurück­ge­nommen und zugesi­chert, es auch zukünftig nicht zu verabschieden.

Nun hat die Regierung das Gesetz erneut einge­bracht und verab­schiedet– nach ihrer Verlaut­barung mit dem Ziel, Trans­parenz hinsichtlich derje­nigen NGOs und freien Medien zu schaffen, die finan­zielle Unter­stützung aus dem Ausland erhalten. Die Regie­rungs­partei argumen­tiert, dass die Souve­rä­nität Georgiens in Gefahr sei, und die NGOs mit Hilfe auslän­di­scher Agenten eine Revolution planten.

Nach Aussagen des Premier­mi­nisters Irakli Kobak­hidze wollen die EU und USA durch liberale NGOs die Sicherheit Georgiens gefährden und eine zweite Front gegen Russland in Georgien öffnen. Durch die Pflicht zur Eintragung in das öffent­liche Register als auslän­dische Agenten hätte die georgische Gesell­schaft Trans­parenz darüber, welche auslän­di­schen Personen oder Insti­tu­tionen hinter der jewei­ligen Finan­zierung stehen. Darüber hinaus beschuldigt die Regie­rungs­partei die NGOs, pseudo­li­berale und LGBTQ-Propa­ganda zu verbreiten.

Warum wird dieses Gesetz als „russisch“ bezeichnet?

Weil es gegen die wichtigsten westlichen, strate­gi­schen Partner gerichtet ist, die die NGOs seit den 1990er Jahren bei der Demokra­tie­ent­wicklung unter­stützen. Laut Gesetz sei diese Unter­stützung aber ein auslän­di­scher Einfluss und die Finan­zierung „Schwarzgeld“.

Tatsächlich aber arbeiten fast alle der vom Westen finan­zierten Organi­sa­tionen im Interesse Georgiens für die Entwicklung des Landes – beispiels­weise an der Erarbeitung von Reformen für Justiz, fürKor­rup­ti­ons­be­kämpfung, Menschen­rechte oder Stadt­ent­wicklung, sie unter­stützen Binnen­flücht­linge und gewähr­leisten Sozial­hilfen für Menschen mit Behin­de­rungen. Die Liste ist lang.

Das Gesetz ist auch „russisch“, weil es eine Entfernung von EU und NATO zur Folge hat – was gegen die georgische Verfassung gerichtet ist. Laut Art. 78 der georgi­schen Verfassung sind die Verfas­sungs­organe verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen, um die vollständige EU- und NATO-Integration zu gewährleisten.

Dementspre­chend ist jedes Handeln, das die verfas­sungs­gemäße Tätigkeit der NGOs beschränkt, ein direkter Angriff auf die Bestre­bungen Georgiens, der EU beizu­treten. Für ein kleines Land wie Georgien, zwischen Russland und der EU, würde dies bedeuten, gleicher­maßen zurück in eine Sowjetära zu fallen. Eine Ära, die wahrlich zu den Katastrophen des letzten Jahrhun­derts zählt.

Der Staat darf künftig regis­trierte NGOs abhören und perso­nen­be­zo­genen Daten von Mitar­beitern sammeln

Ähnlich wie in Russland haben die georgi­schen NGOs bereits angekündigt, dass sie sich nicht als auslän­dische Agenten regis­trieren werden. Zum einen, weil es herab­wür­digend ist, sich als auslän­dische Agenten zu bezeichnen. Zum anderen ist der Staat nach diesem Gesetz zu Abhör­maß­nahmen befugt und darf auch sensible perso­nen­be­zogene Daten der Mitar­beiter sammeln und verwenden. Nicht mehr viele Menschen werden in diesen NGOs arbeiten wollen. Die Erfahrung in Russland zeigt, dass regie­rungs­kri­tische NGOs innerhalb weniger Jahren nach Inkraft­treten des Agenten­ge­setzes gezwungen waren, ihre Tätigkeit einzustellen.

Das Agenten­gesetz sieht weitrei­chende Eingriffs­be­fug­nisse vor – ohne eindeutige Rechtsgrundlagen

Nach Einschätzung der OECD sieht das georgische Agenten­gesetz staat­liche Eingriffs­be­fug­nisse vor – einschließlich der Möglichkeit außer­plan­mä­ßiger Inspek­tionen bzw. Überwa­chungen –, die weder auf eindeu­tigen Rechts­grund­lagen beruhen, noch streng abgegrenzt sind und die auch keiner richter­lichen Geneh­migung bedürfen. Dies hat eine abschre­ckende Wirkung und die Behörden können es als Instrument der Einschüch­terung und Schikane gegen Organi­sa­tionen nutzen, die Kritik äußern.

Die gefor­derte Trans­parenz der Finan­zierung existiert bereits

Zudem sind nach der georgi­schen Gesetz­gebung bereits jetzt alle NGOs verpflichtet, Infor­ma­tionen über Geldgeber und die Höhe der erhal­tenen Finan­zierung jährlich in einem öffent­lichen Register einzu­tragen. Damit haben das Finanz­mi­nis­terium sowie andere Behörden ausrei­chend Ansatz­punkte, um bei Bedarf weitere Infor­ma­tionen anzufordern.

Russland begrüßt das Gesetz

Es liegt auf der Hand, dass die Einführung des Agenten­ge­setzes im Interesse des Kremls ist. In Zeiten hybrider Kriegs­führung gibt die Schwä­chung der prowest­lichen Zivil­ge­sell­schaft Russland größere Möglich­keiten, die politische Landschaft und geostra­te­gische Ausrichtung Georgiens zu beein­flussen. Alexander Dugin, der russische Außen­mi­nister Lavrov und andere russi­schen Propa­gan­disten fanden bereits lobende Worte für das Gesetz.

Klare Positio­nierung der EU: das Gesetz zielt darauf ab, Georgien von der EU zu entfernen

Hochrangige EU-Beamte, Europa­par­la­men­tarier, Bundes­tags­ab­ge­ordnete, Bundes­kanzler Scholz und andere westliche strate­gische Partner haben deutlich gemacht: Dieses Gesetz zielt darauf ab, Georgien in diesem histo­ri­schen Moment der EU-Erwei­terung von der EU zu entfernen. Denn das Ziel und die Folgen dieses Gesetzes sind mit den Werten und Grund­sätzen der EU unvereinbar.

Warum das Agenten­gesetz nicht mit dem FARA-Gesetz in den USA zu vergleichen ist

Die georgische Regie­rungs­partei argumen­tiert, dass das Agenten­gesetz die Ziele des US-ameri­ka­ni­schen FARA-Gesetzes wider­spiegele. Das FARA-Gesetz über die Regis­trierung auslän­di­scher Agenten wurde im Jahr 1938 zur Abwehr von Einfluss­nahme Nazi-Deutsch­lands und der Sowjet­union einge­führt. Gemäß FARA gilt eine Organi­sation oder Person als auslän­di­scher Agent, wenn sie tatsächlich die Inter­essen einer auslän­di­schen Kraft (eines Staates) lobbyiert. Es werden nur die Lobby­or­ga­ni­sa­tionen eines anderen Staates ins Register eingetragen.

Nach dem georgi­schen Gesetz­entwurf hingegen gelten NGOs und Medien bereits dann als auslän­dische Agenten, wenn sie 20 Prozent ihrer Finan­zierung aus dem Ausland bekommen – ganz gleich, was das Ziel ihrer Arbeit ist. Es müssten sich fast alle NGOs und Medien als auslän­dische Agenten regis­trieren, unabhängig davon, in welchem Bereich sie tätig sind, auch wenn sie keinerlei Lobby­arbeit durchführen.

Es gibt keine Paral­lelen zum Entwurf einer EU-Richtlinie

Die Befür­worter des georgi­schen Agenten­ge­setzes sehen auch eine direkte Parallele zum Entwurf einer EU-Richt­linie„Zur Festlegung harmo­ni­sierter Anfor­de­rungen im Binnen­markt an die Trans­parenz der Inter­es­sen­ver­tretung im Auftrag von Dritt­ländern“. Bundes­kanzler Scholz hat dem georgi­schen Premier­mi­nister bereits wider­sprochen, als dieser behauptete, die EU-Kommission habe ebensolche Regelungen beschlossen und es gebe vergleichbare Gesetze in EU-Staaten. Olaf Scholz ergänzte, dass der EuGH ein gleiches Gesetz in Ungarn bereits zurück­ge­wiesen habe und der Richt­li­ni­en­vor­schlag zur Bekämpfung auslän­di­scher Einfluss­nahme ein anderes Konzept verfolge und voraus­sichtlich nicht umgesetzt werde.

Das Hauptziel des Richt­li­ni­en­vor­schlags der EU ist die Einführung gemein­samer Standards hinsichtlich Trans­parenz und Rechen­schafts­pflicht für Inter­es­sen­ver­tre­tungen, die im Auftrag von Dritt­ländern im Binnen­markt tätig werden. Ein Kernelement des Vorschlags ist die Errichtung von natio­nalen Registern für derartige Einrichtungen.

Dieser Ansatz unter­scheidet sich grund­legend von den Gesetzen über „auslän­dische Agenten“ in Russland oder Georgien, die den zivilen Raum unange­messen einschränken, indem sie bestimmte zivil­ge­sell­schaft­liche Organi­sa­tionen, Journa­listen oder Menschen­rechts­ver­tei­diger stigma­ti­sieren, einschüchtern und in ihrer Tätigkeit einschränken.

Das georgische Gesetz hingegen sieht unter dem Deckmantel der Trans­parenz die Diskre­di­tierung des zivil­ge­sell­schaft­lichen Sektors vor

Im Gegensatz zu solchen „Gesetzen über auslän­dische Agenten“ werden im Vorschlag der EU weder die Tätig­keiten bestimmter Organi­sa­tionen, einschließlich zivil­ge­sell­schaft­licher Organi­sa­tionen, negativ bewertet, noch wird versucht, den zivil­ge­sell­schaft­lichen Raum einzu­schränken. Weiterhin werden durch die Maßnahmen weder Tätig­keiten verboten noch wird die Trans­parenz von Finanz­mitteln aus dem Ausland vorge­schrieben, die nicht im Zusam­menhang mit im Auftrag von Dritt­ländern durch­ge­führten Inter­es­sen­ver­tre­tungs­tä­tig­keiten stehen. Schließlich enthält der EU-Vorschlag Garantien, die eine verhält­nis­mäßige Umsetzung und Durch­setzung gewähr­leisten und die Gefahr einer Stigma­ti­sierung vermeiden sollen. Das georgische Gesetz hingegen sieht unter dem Deckmantel der Trans­parenz die Diskre­di­tierung des zivil­ge­sell­schaft­lichen Sektors vor.

 Die Regie­rungs­partei will Georgien vor „westlichen Sünden“ schützen

Die Verwandlung von „Georgi­scher Traum“ in eine ultra­kon­ser­vative Partei, die nach ihren Worten nur mit „Würde“ in die EU beitreten und die georgi­schen Tradi­tionen vor den „westlichen Sünden“ schützen will, deutet darauf hin, dass sie NGOs, die im sozialen Bereich tätig sind und liberale Werte unter­stützen, zum Schweigen bringen will.

Die Rolle des Oligarchen Bidzina Ivanishvili und der georgische „Albtraum“

Der „Georgische Traum“ ist seit 2012 an der Macht, nachdem der ehemalige Präsident Saakashvili seine Niederlage bei den Wahlen anerkannt und eine fried­liche Macht­übergabe ermög­licht hat. Und obwohl die Partei noch immer behauptet, dass sie das Land in die EU führen will, wurden die kriti­schen Stimmen sowohl in Georgien als auch im Westen insbe­sondere nach dem umstrit­tenen Wahlsieg im Jahr 2021 lauter.

Die strate­gi­schen Partner Georgiens, deren Partner­schaft in erster Linie auf gemein­samen Werten basiert, haben offen geäußert, dass von der georgi­schen Regierung der Weg hin zu Recht­staat­lichkeit und Demokratie nicht weiter beschritten werde. Dieser Vertrau­ens­verlust wurde durch Hinweise auf die Überwa­chung westlicher Diplo­maten durch den georgi­schen Geheim­dienst noch verstärkt.

Hinzu kamen die zunehmend abwer­tenden Bemer­kungen und eine gewisse Ignoranz seitens der georgi­schen Regierung gegenüber der EU.

Entfremdung vom Westen und Annäherung an Russland

Gleich­zeitig hat die Regie­rungs­partei schon immer jegliche Ausein­an­der­setzung mit dem Kreml gescheut. Einen vorläu­figen Höhepunkt fand die Entfremdung vom Westen mit dem vollum­fäng­lichen Angriffs­krieg Russlands auf die Ukraine.

Der faktische Regent des Landes – der Oligarch Bidzina Ivanishvili – und seine Anhänger warfen der Ukraine und dem Westen vor, in Georgien eine zweite Front gegen Russland eröffnen zu wollen. Seit dem Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs gibt es keine Gespräche mehr mit der ukrai­ni­schen Regierung. Dazu kommt, dass regie­rungsnahe Medien in Georgien seit Beginn des Krieges gezielt Narrative verbreiten wie etwa: „Frieden oder Freiheit“ – womit sugge­riert wird, Frieden sei wichtiger als Freiheit.

Auch die deutliche georgische Zurück­haltung zur Frage einer NATO-Integration des Landes auf dem Gipfel in Vilnius macht deutlich, dass der euroat­lan­tische georgische Zug zu entgleisen droht.

Ivanishvili sieht den Westen als globale Kriegs­partei und droht eine „kollektive Bestrafung der westlichen Agenten“ an

Am 29. April 2024 hat Ivanishvili in einer provo­zie­renden Rede vor angeb­lichen „Wählern“ – Menschen, die aus allen Teilen des Landes in die Haupt­stadt gebracht wurden – einen Krieg gegen die „globale Kriegs­partei“, den Westen, angekündigt. Er beschul­digte „auslän­dische Agenten“, Georgien 2008 in eine Konfron­tation mit Russland verwi­ckelt, und 2014 und 2022 die Ukraine in eine noch schwie­rigere Lage gebracht zu haben. Darüber hinaus drohte er eine „kollek­tiven Bestrafung der westlichen Agenten“ nach den Parla­ments­wahlen im Oktober an – also opposi­tio­neller Kräfte, NGOs, Experten, freier Medien. Die Rede war die offizielle Ankün­digung einer Diktatur und eines Wechsels des außen­po­li­ti­schen Kurses Georgiens.

Massen­de­mons­tra­tionen trotz Repres­sionen und Verhaftungen

Ganz offen­sichtlich haben die Autoren des Agenten­ge­setzes nicht damit gerechnet, dass die überwäl­ti­gende Mehrheit der georgi­schen Bevöl­kerung sich für die NGOs und freie Medien einsetzen würde. Angesichts der Einigkeit des Volkes versuchen die Machha­benden mit brutaler Gewalt und Terror  kritisch Denkende und deren Famili­en­an­ge­hörige einzu­schüchtern. Schlä­ger­trupps greifen auch Frauen und ältere Personen unmit­telbar vor ihren Wohnungen an. Die gegen die eigene Bevöl­kerung einge­setzte Gewalt ist eine Kombi­nation der aus Sowjet­zeiten bekannten Methoden, kombi­niert mit dem modernen Instru­men­tarium digitaler Troll-Fabriken.

Der Parla­ments­prä­sident kündigte eine „Schwarze Liste“ an

Die Polizei hat bisher niemanden festge­nommen, obwohl die Täter auf Videos im Internet teilweise zu erkennen sind. Statt die Gewalt zu unter­binden, kündigte der Parla­ments­prä­sident Schalva Papuashvili die Veröf­fent­li­chung einer „Schwarzen Liste“ an. In einer solchen Datenbank sollen Infor­ma­tionen über alle Personen gesammelt werden, die entweder Regime­gegner sind oder Regime­gegner öffentlich unter­stützen. Diese Liste dient in erster Linie dazu, die Kritiker des Oligarchen Ivanishvili öffentlich einzu­schüchtern und zu bedrohen. Darüber hinaus werden Menschen, die gegen das russische Agenten­gesetz protes­tieren, und auch ihre Angehö­rigen, telefo­nisch bedroht und beschimpft.

Wer steht an der Seite des Oligarchen Ivanishvili?

Von den regie­rungs­nahen Medien wird das Narrativ verbreitet, dass der Westen in Georgien einen zweiten Maidan zu organi­sieren versuche und dass durch gesell­schaft­liche Konflikte und Ausein­an­der­set­zungen große Gefahr drohe. Diese Behauptung scheint jedoch aktuell fern der Realität zu sein. Denn an der Seite des Oligarchen stehen nur seine Unter­stützer im Parlament, Mario­netten-Minister, spezielle Einheiten der Sicher­heits­organe (die so genannte Sonder­brigade) und Angehörige der Verwal­tungs­organe. Dass die georgi­schen Streit­kräfte, die 2008 gegen die russische Armee gekämpft haben, die Hand gegen die eigene Bevöl­kerung erheben, ist schwer vorstellbar.

Auf der anderen Seite steht eine geeinte georgische Bevöl­kerung, die sich mehrheitlich und entschlossen für eine europäische Zukunft des Landes ausspricht und gegen den „russi­schen Traum“ des Oligarchen und der Regie­rungs­partei kämpfen wird.

Die Rolle und Verant­wortung der georgi­schen Opposition 

Der „Georgische Traum“ hat bisher bei jedem Wahlkampf darauf gesetzt, Saakash­vilis Partei „Nationale Bewegung“ als Feinbild zu zeichnen. Und bis zur Initi­ierung des Agenten-Gesetzes herrschte in breiten Kreisen der Gesell­schaft die Meinung vor, dass das politische Spektrum in Georgien nur diese zwei Parteien umfasst. GT hat mit großem Erfolg darauf hinge­ar­beitet, dass alle Gegner der Regierung als Unter­stützer von Saaka­schwili angesehen wurden, was zu einer gewissen Zurück­haltung und einem Misstrauen in der Bevöl­kerung gegenüber den opposi­tio­nellen Parteien führte. Aus diesem Grund ist es für die opposi­tio­nellen Kräfte bis heute schwer, sich auf ein gemein­sames Wahlpro­gramm zu verständigen.

Intensive Gespräche zwischen den Oppositionsparteien

Derzeit laufen hinter den Kulissen intensive Gespräche zwischen den opposi­tio­nellen Parteien, wie die Massen­pro­teste in einen vernünf­tigen Wahlkampf zu übersetzen sind. Sie vermeiden es jedoch aus den oben genannten Gründen, eine Führungs­rolle bei den aktuellen Demons­tra­tionen zu übernehmen, um die derzeitige Einigkeit im Volk nicht gefährden.

Nicht­de­sto­trotz trägt die Opposition eine enorm große politische Verant­wortung, die fried­lichen Demons­tra­tionen im Sinne des Volkes zu unter­stützen und im entschei­denden Moment richtig zu agieren. Denn nur mit einer geeinten Opposition kann Georgien den „russi­schen Traum“ bei den Parla­ments­wahlen am 26. Oktober abwählen.

Der Opposition gehört auch die Präsi­dentin Salome Zurabishvili an. Sie ist eine frühere Verbündete Ivanish­vilis, der sie in das Amt gebracht hat. Zurabishvili nannte das Verab­schieden des Agenten-Gesetzes eine Sabotage der EU-Integration Georgiens. Zurabishvili ist überzeugte Europäerin und versprach dem Volk am 9. Mai, dem Europatag, ihm auf seinem „steinigen Weg“ zur Seite zu stehen und das Land friedlich und verant­wor­tungsvoll bis zu den Parla­ments­wahlen zu begleiten.

Was kann die EU tun?

Selten waren die EU und ihre Mitglied­staaten so deutlich in ihren State­ments: Das geplante Gesetz würde die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen mit der EU ausschließen. Diese Haltung kommt auch in der vom europäi­schen Parlament verab­schie­deten Resolution zum Ausdruck, die unter anderem Sanktionen gegen Ivanishvili und seine Anhänger fordert.

Darüber hinaus fordert das europäische Parlament die Kommission zu einer umgehenden Bewertung auf, wie sich das Agenten­gesetz auf die Erfüllung der Zielvor­gaben für die Visa-Libera­li­sierung auswirkt, insbe­sondere auf die der Grund­rechte. Um deutlich zu machen, warum dieses Gesetz mit der EU- Gesetz­gebung nicht kompa­tibel ist, wäre eine solche ausführ­liche Bewertung wünschenswert. Sollte aufgrund dieser Bewertung jedoch die Visafreiheit ausge­setzt werden, könnte sich das auch kontra­pro­duktiv auswirken.

 „Die nächste große EU-Erwei­terung wird mit oder ohne Georgien stattfinden“

Der EU- Botschafter in Georgien, Pawel Herczynski, hat sich in seiner Rede am 9. Mai, dem Europatag, an die georgische Bevöl­kerung gewandt: „Die nächste große EU-Erwei­terung wird kommen. Sie wird mit Georgien oder ohne Georgien statt­finden. Das hängt von ihnen allen ab, von allen Georgiern. Das Meer kann manchmal große Wellen haben, aber das georgische Schiff fährt Richtung EU. Bitte haltet den Kurs und wir unter­stützen Euch dabei“.

Die verspro­chene Unter­stützung spielt eine wichtige Rolle für die Bevöl­kerung und die Opposition in Georgien. Dafür sollten in diesen entschei­denden Tagen hochrangige EU-Vertreter nach Georgien reisen, der Bevöl­kerung ihre Unter­stützung zusagen und der Regie­rungs­partei eine klare rote Linie aufzeigen. Dazu sollte auch gehören, die Vertreter der Regie­rungs­partei konse­quent zu isolieren und sie als Partner nicht zu Tagungen oder Konfe­renzen einzuladen.

Der Umgang mit Russland in der Vergan­genheit hat gezeigt, dass ein Wandel durch Annäherung gescheitert ist. Georgien steht am Schei­deweg zwischen Russland und der EU. Es liegt auch in der Verant­wortung des Westens, nicht nochmals wegzu­sehen, wenn sich ein Land gegen die Expan­si­ons­be­stre­bungen Russlands wehrt. Moldau oder Armenien könnten sonst die nächsten sein.

Es ist schwer voraus­zu­sehen, wie sich die Situation in Georgien weiter­ent­wi­ckelt. Eines ist jedoch sehr klar: Der Geist und Wille der breiten Protest­be­wegung zeigen, dass sich die georgische Zivil­ge­sell­schaft zu einer bedeu­tenden Kraft im Kampf für die Freiheit – und damit zu einem wichtigen Akteur für die EU-Integration Georgiens – entwi­ckelt hat. An diesen Zielen werden die Menschen in Georgien jede zukünftige Regierung messen.

TextendeDie Autorin Khatia Kikalishvili mit einem kurzen Beitrag für die Tages­schau.

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.