Verabschiedung des ausländischen Agentengesetzes in Georgien: Was auf dem Spiel steht
Trotz Polizeigewalt und Festnahmen protestieren seit Wochen Zehntausende in Georgien gegen das umstrittene Agentengesetz. Heute wurde es vom Parlament verabschiedet, begleitet von Tumulten im Parlament. Unsere Georgien-Expertin Khatia Kikalishvili über Hintergründe, Inhalt und Konsequenzen des Gesetzes, den Weg Georgiens in die EU – und warum das von der georgischen Regierung angeführte Argument der Transparenz hinfällig ist.
Zusammenfassung: Was bedeutet das „ausländische“ Agentengesetz?
Das Gesetz sieht die Einrichtung eines Registers für „ausländische Agenten“ vor, in dem sich Medien und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit einer ausländischen Finanzierung von mehr als 20 Prozent eintragen müssen, anderenfalls drohen Geldstrafen und ordnungsrechtliche Sanktionen.
Nach dem jetzt verabschiedeten Gesetz ist der Staat gegenüber diesen als „ausländische Agenten“ gebrandmarkten Organisationen und Medien zu Abhörmaßnahmen und „Inspektionen“ ohne richterlichen Beschluss befugt. Er darf auch sensible personenbezogene Daten der Mitarbeiter sammeln und verwenden. Das Gesetz bedeutet also in erster Linie eine Stigmatisierung und Einschüchterung von NGOs und freien Medien. Ein Gesetz mit gleichem Inhalt wurde 2012 in Russland erlassen, was letztlich ein Verbot der kritischen Medien und eine Einschränkung der freien Zivilgesellschaft zur Folge hatte.
Das von der Regierungspartei ins Feld geführte Argument der Transparenz ist indes hinfällig, da bereits jetzt alle georgischen NGOs verpflichtet sind, Informationen über Geldgeber und Höhe der erhaltenen Finanzmittel jährlich in einem öffentlich einsehbaren Register einzutragen.
Begleitet von massiven Protesten haben die 83 Abgeordneten der Regierungspartei „Georgischer Traum“ des Oligarchen Bidzina Ivanishvili in allen drei Lesungen einstimmig dem „russischen Agentengesetz“ zugestimmt. Die proeuropäische Präsidentin Salome Zurabishvili hat bereits angekündigt, dass sie ein Veto einlegen wird. Dieses Veto wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit im Parlament durch die Abgeordneten der Regierungspartei überstimmt werden.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind in ihren Statements zu dem ausländischen Agentengesetz sehr deutlich: Das geplante Gesetz würde die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der EU ausschließen.
Es ist schwer vorauszusehen, wie sich die Situation weiterentwickelt. Eines ist jedoch sehr klar: Die breite Protestbewegung zeigt, dass sich die georgische Zivilgesellschaft zu einer bedeutenden Kraft im Kampf für die Freiheit – und damit zu einem wichtigen Akteur für die EU-Integration Georgiens – entwickelt hat. An diesen Zielen werden die Menschen in Georgien jede zukünftige Regierung messen.
Im Oktober 2024 finden Parlamentswahlen in Georgien statt. Das kann man als Glück im Unglück sehen, denn die Menschen haben in einigen Monaten die Möglichkeit, die Regierung abzuwählen.
Der europäische Weg Georgiens
Die Menschen in Georgien haben ihre Stimme schon oft erfolgreich erhoben. Selbst die 70 Jahre dauernde sowjetische Besatzung konnte den europäischen Gedanken in Georgien nicht auslöschen. Das kleine Land mit 3,7 Millionen Einwohnern wurde 1991 unabhängig und ist seitdem mit russischen Aggressionen konfrontiert. Darüber hinaus sind 20 Prozent des georgischen Territoriums – Südossetien und Abchasien – von Russland besetzt.
Die EU-Annäherung Georgiens begann in den 1990er Jahren mit dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (1999) mit der EU. Insbesondere nach der Rosenrevolution (2003) verpflichtete sich die georgische Regierung, die Beziehungen zu EU zu intensivieren und sich im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik weiter in europäische Strukturen einzugliedern.
Die russische Invasion 2008 in Georgien
Nach der russischen Invasion im August 2008 in Georgien und dem brutalen Vorgehen der russischen Streitkräfte gegen die georgische Bevölkerung hat die EU 2009 die so genannte Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen. Damit begann eine neue Etappe, die 2015 zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens führte und wenig später auch die EU-Visafreiheit für die georgische Bevölkerung mit sich brachte.
Voraussetzung für einen EU-Beitritt Georgiens ist eine freie Zivilgesellschaft
Nach Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine begann ein Umbruch in der EU-Außenpolitik und ein geopolitisches Erwachen der Europäischen Union – was in der Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine, Moldau und Georgien sichtbar geworden ist. Damit ist ein „Window of Opportunity“ für einen realen Beitritt dieser Länder in absehbarer Zukunft entstanden.
Der Krieg in der Ukraine hat, 20 Jahre nach der letzten Erweiterung, wieder erstmalig eine Möglichkeit der schrittweisen Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft geschaffen. Im Herbst wird die EU entscheiden, ob die offiziellen Verhandlungen mit Georgien über den Beitritt eröffnet werden können. Dafür müssen die von der EU-Kommission festgelegten neun Verpflichtungen erfüllt werden. Darunter ist auch die Gewährleistung und Unterstützung einer freien georgischen Zivilgesellschaft. In den 33 Jahren seiner Unabhängigkeit war Georgien der EU noch nie so nah wie heute.
Hintergründe, Ziele und Konsequenzen des „ausländischen Agentengesetzes“
Das sogenannte „Agentengesetz“ wurde im Frühling des vergangenen Jahres von der Regierungspartei „Georgischer Traum“ (GT) initiiert. Wegen massiver Proteste hat die Regierung das Gesetz damals zurückgenommen und zugesichert, es auch zukünftig nicht zu verabschieden.
Nun hat die Regierung das Gesetz erneut eingebracht und verabschiedet– nach ihrer Verlautbarung mit dem Ziel, Transparenz hinsichtlich derjenigen NGOs und freien Medien zu schaffen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Die Regierungspartei argumentiert, dass die Souveränität Georgiens in Gefahr sei, und die NGOs mit Hilfe ausländischer Agenten eine Revolution planten.
Nach Aussagen des Premierministers Irakli Kobakhidze wollen die EU und USA durch liberale NGOs die Sicherheit Georgiens gefährden und eine zweite Front gegen Russland in Georgien öffnen. Durch die Pflicht zur Eintragung in das öffentliche Register als ausländische Agenten hätte die georgische Gesellschaft Transparenz darüber, welche ausländischen Personen oder Institutionen hinter der jeweiligen Finanzierung stehen. Darüber hinaus beschuldigt die Regierungspartei die NGOs, pseudoliberale und LGBTQ-Propaganda zu verbreiten.
Warum wird dieses Gesetz als „russisch“ bezeichnet?
Weil es gegen die wichtigsten westlichen, strategischen Partner gerichtet ist, die die NGOs seit den 1990er Jahren bei der Demokratieentwicklung unterstützen. Laut Gesetz sei diese Unterstützung aber ein ausländischer Einfluss und die Finanzierung „Schwarzgeld“.
Tatsächlich aber arbeiten fast alle der vom Westen finanzierten Organisationen im Interesse Georgiens für die Entwicklung des Landes – beispielsweise an der Erarbeitung von Reformen für Justiz, fürKorruptionsbekämpfung, Menschenrechte oder Stadtentwicklung, sie unterstützen Binnenflüchtlinge und gewährleisten Sozialhilfen für Menschen mit Behinderungen. Die Liste ist lang.
Das Gesetz ist auch „russisch“, weil es eine Entfernung von EU und NATO zur Folge hat – was gegen die georgische Verfassung gerichtet ist. Laut Art. 78 der georgischen Verfassung sind die Verfassungsorgane verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen, um die vollständige EU- und NATO-Integration zu gewährleisten.
Dementsprechend ist jedes Handeln, das die verfassungsgemäße Tätigkeit der NGOs beschränkt, ein direkter Angriff auf die Bestrebungen Georgiens, der EU beizutreten. Für ein kleines Land wie Georgien, zwischen Russland und der EU, würde dies bedeuten, gleichermaßen zurück in eine Sowjetära zu fallen. Eine Ära, die wahrlich zu den Katastrophen des letzten Jahrhunderts zählt.
Der Staat darf künftig registrierte NGOs abhören und personenbezogenen Daten von Mitarbeitern sammeln
Ähnlich wie in Russland haben die georgischen NGOs bereits angekündigt, dass sie sich nicht als ausländische Agenten registrieren werden. Zum einen, weil es herabwürdigend ist, sich als ausländische Agenten zu bezeichnen. Zum anderen ist der Staat nach diesem Gesetz zu Abhörmaßnahmen befugt und darf auch sensible personenbezogene Daten der Mitarbeiter sammeln und verwenden. Nicht mehr viele Menschen werden in diesen NGOs arbeiten wollen. Die Erfahrung in Russland zeigt, dass regierungskritische NGOs innerhalb weniger Jahren nach Inkrafttreten des Agentengesetzes gezwungen waren, ihre Tätigkeit einzustellen.
Das Agentengesetz sieht weitreichende Eingriffsbefugnisse vor – ohne eindeutige Rechtsgrundlagen
Nach Einschätzung der OECD sieht das georgische Agentengesetz staatliche Eingriffsbefugnisse vor – einschließlich der Möglichkeit außerplanmäßiger Inspektionen bzw. Überwachungen –, die weder auf eindeutigen Rechtsgrundlagen beruhen, noch streng abgegrenzt sind und die auch keiner richterlichen Genehmigung bedürfen. Dies hat eine abschreckende Wirkung und die Behörden können es als Instrument der Einschüchterung und Schikane gegen Organisationen nutzen, die Kritik äußern.
Die geforderte Transparenz der Finanzierung existiert bereits
Zudem sind nach der georgischen Gesetzgebung bereits jetzt alle NGOs verpflichtet, Informationen über Geldgeber und die Höhe der erhaltenen Finanzierung jährlich in einem öffentlichen Register einzutragen. Damit haben das Finanzministerium sowie andere Behörden ausreichend Ansatzpunkte, um bei Bedarf weitere Informationen anzufordern.
Russland begrüßt das Gesetz
Es liegt auf der Hand, dass die Einführung des Agentengesetzes im Interesse des Kremls ist. In Zeiten hybrider Kriegsführung gibt die Schwächung der prowestlichen Zivilgesellschaft Russland größere Möglichkeiten, die politische Landschaft und geostrategische Ausrichtung Georgiens zu beeinflussen. Alexander Dugin, der russische Außenminister Lavrov und andere russischen Propagandisten fanden bereits lobende Worte für das Gesetz.
Klare Positionierung der EU: das Gesetz zielt darauf ab, Georgien von der EU zu entfernen
Hochrangige EU-Beamte, Europaparlamentarier, Bundestagsabgeordnete, Bundeskanzler Scholz und andere westliche strategische Partner haben deutlich gemacht: Dieses Gesetz zielt darauf ab, Georgien in diesem historischen Moment der EU-Erweiterung von der EU zu entfernen. Denn das Ziel und die Folgen dieses Gesetzes sind mit den Werten und Grundsätzen der EU unvereinbar.
Warum das Agentengesetz nicht mit dem FARA-Gesetz in den USA zu vergleichen ist
Die georgische Regierungspartei argumentiert, dass das Agentengesetz die Ziele des US-amerikanischen FARA-Gesetzes widerspiegele. Das FARA-Gesetz über die Registrierung ausländischer Agenten wurde im Jahr 1938 zur Abwehr von Einflussnahme Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion eingeführt. Gemäß FARA gilt eine Organisation oder Person als ausländischer Agent, wenn sie tatsächlich die Interessen einer ausländischen Kraft (eines Staates) lobbyiert. Es werden nur die Lobbyorganisationen eines anderen Staates ins Register eingetragen.
Nach dem georgischen Gesetzentwurf hingegen gelten NGOs und Medien bereits dann als ausländische Agenten, wenn sie 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland bekommen – ganz gleich, was das Ziel ihrer Arbeit ist. Es müssten sich fast alle NGOs und Medien als ausländische Agenten registrieren, unabhängig davon, in welchem Bereich sie tätig sind, auch wenn sie keinerlei Lobbyarbeit durchführen.
Es gibt keine Parallelen zum Entwurf einer EU-Richtlinie
Die Befürworter des georgischen Agentengesetzes sehen auch eine direkte Parallele zum Entwurf einer EU-Richtlinie„Zur Festlegung harmonisierter Anforderungen im Binnenmarkt an die Transparenz der Interessenvertretung im Auftrag von Drittländern“. Bundeskanzler Scholz hat dem georgischen Premierminister bereits widersprochen, als dieser behauptete, die EU-Kommission habe ebensolche Regelungen beschlossen und es gebe vergleichbare Gesetze in EU-Staaten. Olaf Scholz ergänzte, dass der EuGH ein gleiches Gesetz in Ungarn bereits zurückgewiesen habe und der Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung ausländischer Einflussnahme ein anderes Konzept verfolge und voraussichtlich nicht umgesetzt werde.
Das Hauptziel des Richtlinienvorschlags der EU ist die Einführung gemeinsamer Standards hinsichtlich Transparenz und Rechenschaftspflicht für Interessenvertretungen, die im Auftrag von Drittländern im Binnenmarkt tätig werden. Ein Kernelement des Vorschlags ist die Errichtung von nationalen Registern für derartige Einrichtungen.
Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von den Gesetzen über „ausländische Agenten“ in Russland oder Georgien, die den zivilen Raum unangemessen einschränken, indem sie bestimmte zivilgesellschaftliche Organisationen, Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger stigmatisieren, einschüchtern und in ihrer Tätigkeit einschränken.
Das georgische Gesetz hingegen sieht unter dem Deckmantel der Transparenz die Diskreditierung des zivilgesellschaftlichen Sektors vor
Im Gegensatz zu solchen „Gesetzen über ausländische Agenten“ werden im Vorschlag der EU weder die Tätigkeiten bestimmter Organisationen, einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen, negativ bewertet, noch wird versucht, den zivilgesellschaftlichen Raum einzuschränken. Weiterhin werden durch die Maßnahmen weder Tätigkeiten verboten noch wird die Transparenz von Finanzmitteln aus dem Ausland vorgeschrieben, die nicht im Zusammenhang mit im Auftrag von Drittländern durchgeführten Interessenvertretungstätigkeiten stehen. Schließlich enthält der EU-Vorschlag Garantien, die eine verhältnismäßige Umsetzung und Durchsetzung gewährleisten und die Gefahr einer Stigmatisierung vermeiden sollen. Das georgische Gesetz hingegen sieht unter dem Deckmantel der Transparenz die Diskreditierung des zivilgesellschaftlichen Sektors vor.
Die Regierungspartei will Georgien vor „westlichen Sünden“ schützen
Die Verwandlung von „Georgischer Traum“ in eine ultrakonservative Partei, die nach ihren Worten nur mit „Würde“ in die EU beitreten und die georgischen Traditionen vor den „westlichen Sünden“ schützen will, deutet darauf hin, dass sie NGOs, die im sozialen Bereich tätig sind und liberale Werte unterstützen, zum Schweigen bringen will.
Die Rolle des Oligarchen Bidzina Ivanishvili und der georgische „Albtraum“
Der „Georgische Traum“ ist seit 2012 an der Macht, nachdem der ehemalige Präsident Saakashvili seine Niederlage bei den Wahlen anerkannt und eine friedliche Machtübergabe ermöglicht hat. Und obwohl die Partei noch immer behauptet, dass sie das Land in die EU führen will, wurden die kritischen Stimmen sowohl in Georgien als auch im Westen insbesondere nach dem umstrittenen Wahlsieg im Jahr 2021 lauter.
Die strategischen Partner Georgiens, deren Partnerschaft in erster Linie auf gemeinsamen Werten basiert, haben offen geäußert, dass von der georgischen Regierung der Weg hin zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie nicht weiter beschritten werde. Dieser Vertrauensverlust wurde durch Hinweise auf die Überwachung westlicher Diplomaten durch den georgischen Geheimdienst noch verstärkt.
Hinzu kamen die zunehmend abwertenden Bemerkungen und eine gewisse Ignoranz seitens der georgischen Regierung gegenüber der EU.
Entfremdung vom Westen und Annäherung an Russland
Gleichzeitig hat die Regierungspartei schon immer jegliche Auseinandersetzung mit dem Kreml gescheut. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Entfremdung vom Westen mit dem vollumfänglichen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Der faktische Regent des Landes – der Oligarch Bidzina Ivanishvili – und seine Anhänger warfen der Ukraine und dem Westen vor, in Georgien eine zweite Front gegen Russland eröffnen zu wollen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gibt es keine Gespräche mehr mit der ukrainischen Regierung. Dazu kommt, dass regierungsnahe Medien in Georgien seit Beginn des Krieges gezielt Narrative verbreiten wie etwa: „Frieden oder Freiheit“ – womit suggeriert wird, Frieden sei wichtiger als Freiheit.
Auch die deutliche georgische Zurückhaltung zur Frage einer NATO-Integration des Landes auf dem Gipfel in Vilnius macht deutlich, dass der euroatlantische georgische Zug zu entgleisen droht.
Ivanishvili sieht den Westen als globale Kriegspartei und droht eine „kollektive Bestrafung der westlichen Agenten“ an
Am 29. April 2024 hat Ivanishvili in einer provozierenden Rede vor angeblichen „Wählern“ – Menschen, die aus allen Teilen des Landes in die Hauptstadt gebracht wurden – einen Krieg gegen die „globale Kriegspartei“, den Westen, angekündigt. Er beschuldigte „ausländische Agenten“, Georgien 2008 in eine Konfrontation mit Russland verwickelt, und 2014 und 2022 die Ukraine in eine noch schwierigere Lage gebracht zu haben. Darüber hinaus drohte er eine „kollektiven Bestrafung der westlichen Agenten“ nach den Parlamentswahlen im Oktober an – also oppositioneller Kräfte, NGOs, Experten, freier Medien. Die Rede war die offizielle Ankündigung einer Diktatur und eines Wechsels des außenpolitischen Kurses Georgiens.
Massendemonstrationen trotz Repressionen und Verhaftungen
Ganz offensichtlich haben die Autoren des Agentengesetzes nicht damit gerechnet, dass die überwältigende Mehrheit der georgischen Bevölkerung sich für die NGOs und freie Medien einsetzen würde. Angesichts der Einigkeit des Volkes versuchen die Machhabenden mit brutaler Gewalt und Terror kritisch Denkende und deren Familienangehörige einzuschüchtern. Schlägertrupps greifen auch Frauen und ältere Personen unmittelbar vor ihren Wohnungen an. Die gegen die eigene Bevölkerung eingesetzte Gewalt ist eine Kombination der aus Sowjetzeiten bekannten Methoden, kombiniert mit dem modernen Instrumentarium digitaler Troll-Fabriken.
Der Parlamentspräsident kündigte eine „Schwarze Liste“ an
Die Polizei hat bisher niemanden festgenommen, obwohl die Täter auf Videos im Internet teilweise zu erkennen sind. Statt die Gewalt zu unterbinden, kündigte der Parlamentspräsident Schalva Papuashvili die Veröffentlichung einer „Schwarzen Liste“ an. In einer solchen Datenbank sollen Informationen über alle Personen gesammelt werden, die entweder Regimegegner sind oder Regimegegner öffentlich unterstützen. Diese Liste dient in erster Linie dazu, die Kritiker des Oligarchen Ivanishvili öffentlich einzuschüchtern und zu bedrohen. Darüber hinaus werden Menschen, die gegen das russische Agentengesetz protestieren, und auch ihre Angehörigen, telefonisch bedroht und beschimpft.
Wer steht an der Seite des Oligarchen Ivanishvili?
Von den regierungsnahen Medien wird das Narrativ verbreitet, dass der Westen in Georgien einen zweiten Maidan zu organisieren versuche und dass durch gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen große Gefahr drohe. Diese Behauptung scheint jedoch aktuell fern der Realität zu sein. Denn an der Seite des Oligarchen stehen nur seine Unterstützer im Parlament, Marionetten-Minister, spezielle Einheiten der Sicherheitsorgane (die so genannte Sonderbrigade) und Angehörige der Verwaltungsorgane. Dass die georgischen Streitkräfte, die 2008 gegen die russische Armee gekämpft haben, die Hand gegen die eigene Bevölkerung erheben, ist schwer vorstellbar.
Auf der anderen Seite steht eine geeinte georgische Bevölkerung, die sich mehrheitlich und entschlossen für eine europäische Zukunft des Landes ausspricht und gegen den „russischen Traum“ des Oligarchen und der Regierungspartei kämpfen wird.
Die Rolle und Verantwortung der georgischen Opposition
Der „Georgische Traum“ hat bisher bei jedem Wahlkampf darauf gesetzt, Saakashvilis Partei „Nationale Bewegung“ als Feinbild zu zeichnen. Und bis zur Initiierung des Agenten-Gesetzes herrschte in breiten Kreisen der Gesellschaft die Meinung vor, dass das politische Spektrum in Georgien nur diese zwei Parteien umfasst. GT hat mit großem Erfolg darauf hingearbeitet, dass alle Gegner der Regierung als Unterstützer von Saakaschwili angesehen wurden, was zu einer gewissen Zurückhaltung und einem Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den oppositionellen Parteien führte. Aus diesem Grund ist es für die oppositionellen Kräfte bis heute schwer, sich auf ein gemeinsames Wahlprogramm zu verständigen.
Intensive Gespräche zwischen den Oppositionsparteien
Derzeit laufen hinter den Kulissen intensive Gespräche zwischen den oppositionellen Parteien, wie die Massenproteste in einen vernünftigen Wahlkampf zu übersetzen sind. Sie vermeiden es jedoch aus den oben genannten Gründen, eine Führungsrolle bei den aktuellen Demonstrationen zu übernehmen, um die derzeitige Einigkeit im Volk nicht gefährden.
Nichtdestotrotz trägt die Opposition eine enorm große politische Verantwortung, die friedlichen Demonstrationen im Sinne des Volkes zu unterstützen und im entscheidenden Moment richtig zu agieren. Denn nur mit einer geeinten Opposition kann Georgien den „russischen Traum“ bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober abwählen.
Der Opposition gehört auch die Präsidentin Salome Zurabishvili an. Sie ist eine frühere Verbündete Ivanishvilis, der sie in das Amt gebracht hat. Zurabishvili nannte das Verabschieden des Agenten-Gesetzes eine Sabotage der EU-Integration Georgiens. Zurabishvili ist überzeugte Europäerin und versprach dem Volk am 9. Mai, dem Europatag, ihm auf seinem „steinigen Weg“ zur Seite zu stehen und das Land friedlich und verantwortungsvoll bis zu den Parlamentswahlen zu begleiten.
Was kann die EU tun?
Selten waren die EU und ihre Mitgliedstaaten so deutlich in ihren Statements: Das geplante Gesetz würde die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der EU ausschließen. Diese Haltung kommt auch in der vom europäischen Parlament verabschiedeten Resolution zum Ausdruck, die unter anderem Sanktionen gegen Ivanishvili und seine Anhänger fordert.
Darüber hinaus fordert das europäische Parlament die Kommission zu einer umgehenden Bewertung auf, wie sich das Agentengesetz auf die Erfüllung der Zielvorgaben für die Visa-Liberalisierung auswirkt, insbesondere auf die der Grundrechte. Um deutlich zu machen, warum dieses Gesetz mit der EU- Gesetzgebung nicht kompatibel ist, wäre eine solche ausführliche Bewertung wünschenswert. Sollte aufgrund dieser Bewertung jedoch die Visafreiheit ausgesetzt werden, könnte sich das auch kontraproduktiv auswirken.
„Die nächste große EU-Erweiterung wird mit oder ohne Georgien stattfinden“
Der EU- Botschafter in Georgien, Pawel Herczynski, hat sich in seiner Rede am 9. Mai, dem Europatag, an die georgische Bevölkerung gewandt: „Die nächste große EU-Erweiterung wird kommen. Sie wird mit Georgien oder ohne Georgien stattfinden. Das hängt von ihnen allen ab, von allen Georgiern. Das Meer kann manchmal große Wellen haben, aber das georgische Schiff fährt Richtung EU. Bitte haltet den Kurs und wir unterstützen Euch dabei“.
Die versprochene Unterstützung spielt eine wichtige Rolle für die Bevölkerung und die Opposition in Georgien. Dafür sollten in diesen entscheidenden Tagen hochrangige EU-Vertreter nach Georgien reisen, der Bevölkerung ihre Unterstützung zusagen und der Regierungspartei eine klare rote Linie aufzeigen. Dazu sollte auch gehören, die Vertreter der Regierungspartei konsequent zu isolieren und sie als Partner nicht zu Tagungen oder Konferenzen einzuladen.
Der Umgang mit Russland in der Vergangenheit hat gezeigt, dass ein Wandel durch Annäherung gescheitert ist. Georgien steht am Scheideweg zwischen Russland und der EU. Es liegt auch in der Verantwortung des Westens, nicht nochmals wegzusehen, wenn sich ein Land gegen die Expansionsbestrebungen Russlands wehrt. Moldau oder Armenien könnten sonst die nächsten sein.
Es ist schwer vorauszusehen, wie sich die Situation in Georgien weiterentwickelt. Eines ist jedoch sehr klar: Der Geist und Wille der breiten Protestbewegung zeigen, dass sich die georgische Zivilgesellschaft zu einer bedeutenden Kraft im Kampf für die Freiheit – und damit zu einem wichtigen Akteur für die EU-Integration Georgiens – entwickelt hat. An diesen Zielen werden die Menschen in Georgien jede zukünftige Regierung messen.
Die Autorin Khatia Kikalishvili mit einem kurzen Beitrag für die Tagesschau.
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