Von Angst und Freiheit – eine neue Kritik des Nationalismus
Die Wurzel des politischen Handelns ist die existenzielle Angst vor dem eigenen Tod, schreibt Vlatko Sekulovic. Während der Nationalismus Unsterblichkeit durch die Nation verspricht und die Feindseligkeit gegenüber „dem Anderen“ aufrechterhält, zielt der Liberalismus darauf ab, Angst durch Kreativität und Freiheit zu transformieren und so Raum für Dialog und Pluralität zu schaffen. Eine neue Kritik am Nationalismus muss daher falsche Versprechungen aufdecken, fordert der serbische Anwalt und frühere Staatssekretär.
In diesem Essay möchte ich mich an den Lehren des großen italienischen Liberalen und Vaters der Politikwissenschaft in Italien, Gaetano Mosca, orientieren: Er argumentierte, dass die Untersuchung psychologischer Dynamiken auf kollektiver Ebene im Zentrum der Politikwissenschaften steht. Genau diesen Ansatz möchte ich in diesem Essay verfolgen.
Existenzielle Angst
Jeder Mensch trägt unweigerlich das Bewusstsein seiner Sterblichkeit in sich. Dieses Bewusstsein ist die Quelle einer grundlegenden Angst – der Angst vor dem Tod und mehr noch der Angst vor einem sinnlosen Tod. Daraus ergibt sich der zentrale Widerspruch der menschlichen Existenz: die Spannung zwischen dem Lebenstrieb und dem Bewusstsein seines unvermeidlichen Endes. Dieser Widerspruch prägt nicht nur den Einzelnen, sondern auch ganze Gemeinschaften, Ideologien und politische Systeme. Genau dieses Bewusstsein, das unvermeidlich Angst erzeugt, schafft den Rahmen, innerhalb dessen Menschen und Gemeinschaften nach Sinn, Sicherheit und Rechtfertigung für ihre Existenz suchen. In diesem Sinne ist jede Ideologie, mit den Worten von Otto Rank, eine Ideologie der Unsterblichkeit. Damit wird deutlich: Nicht Interesse und rationale Entscheidungen sind, wie gemeinhin angenommen, die Haupttreiber der Politik, sondern die Angst selbst ist die eigentliche Quelle des politischen Handelns.
Der hier vorgestellte Ansatz distanziert sich bewusst von der „klassischen” Psychologie. Er geht weder von Freuds Widerspruch zwischen Lebens- und Todestrieb aus noch von kognitiver Dissonanz als grundlegender Erklärung menschlichen Verhaltens. Stattdessen liegt ihm ein existenzieller Widerspruch zugrunde: Leben im Bewusstsein der Endlichkeit, das der Lauf der Zeit mit sich bringt.
Nationalismus, der Angst überwindet
Aus dieser Perspektive kann Nationalismus als eine Ideologie der Manipulation durch Angst verstanden werden. Seine Anziehungskraft beruht nicht auf wirtschaftlichen Interessen oder rationalen Berechnungen, sondern auf dem Versprechen der Unsterblichkeit durch die Nation als Objekt der Transzendenz, das so sehr sakralisiert ist, dass es zu einer „säkularen Religion” geworden ist. Der Einzelne, der sich seiner Sterblichkeit bewusst ist, findet Trost in der Vorstellung von der Ewigkeit des Volkes, zu dem er gehört. Das Opfer für die Nation erscheint nicht mehr als sinnloser Tod, sondern erhält im Gegenteil eine Aura von Bedeutung und Kontinuität – einen symbolischen „Sieg“ über den Tod, der ein Gefühl der Kontrolle über das Leben vermittelt. Genau darin liegt die Anziehungskraft des Nationalismus – in dem Versprechen, dass der individuelle Tod nicht das Ende ist, sondern Teil der ewigen Geschichte des Kollektivs.
Versprechen der Sicherheit braucht die Bedrohung von außen
Dieses Versprechen ist jedoch in sich widersprüchlich. Um die Sicherheit „im Inneren“ zu garantieren, muss der Nationalismus ständig Bedrohungen von „außen“ erzeugen. Die Angst wird nicht beseitigt, sondern durch Mythen von Gefährdung, ewigen Feinden und der Notwendigkeit des Kampfes ums Überleben neu entfacht. Auf diese Weise kolonisiert der Nationalismus die Zukunft durch Versklavung: Anstatt zu einem Raum der freien Schöpfung zu werden, verwandelt er sich in einen vorbestimmten Weg der ewigen Angst und der Wiederholung vergangener Konflikte. In diesem Sinne ist Nationalismus nicht Liebe oder Zuneigung zur eigenen Gruppe, einer Weberschen Kulturgemeinschaft, sondern vor allem Angst vor einer anderen Kulturgemeinschaft und ihren Mitgliedern, die wir als Nation oder Volk definieren.
Angesichts der Tatsache, dass der Nationalismus eine erneute Hauptbedrohung für den Frieden und die Stabilität in Europa, wenn nicht sogar in der ganzen Welt darstellt, muss sich das liberale Denken ihm entgegenstellen. Eine neue Kritik des Nationalismus muss genau an diesem Punkt ansetzen: Der Nationalismus befreit nicht von der Angst, sondern perpetuiert sie. Er bietet die Illusion von Sinn, bezahlt dafür aber mit der Unterdrückung von Pluralität und individueller Freiheit. In seinem Wesen verschließt der Nationalismus den Raum für eine offene Suche nach Sinn, weil er alle Antworten auf eine einzige Gemeinschaft und einen einzigen symbolischen Rahmen reduziert. Damit schränkt er nicht nur die individuelle und soziale Entwicklung ein, sondern verstärkt auch die existenzielle Unsicherheit und nährt ständig das Gefühl der Bedrohung.
Liberalismus: Kollektive Suche nach Sinn statt vorgefertigter Antworten
Im Gegensatz dazu kann der Liberalismus als eine Ideologie verstanden werden, die keine Ewigkeit verspricht, sondern Raum. Er bietet keine vorbestimmte Bedeutung, sondern schafft einen Rahmen, in dem verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der Endgültigkeit zusammenleben können. Der Liberalismus versucht nicht, die existenzielle Angst mit der Illusion einer ewigen Nation zu verdrängen, sondern akzeptiert sie als Ausgangspunkt. Genau aus diesem Grund eröffnet der Liberalismus die Möglichkeit, dass Angst zu einem Motor für Dialog, Solidarität und Zusammenarbeit wird – anstatt Konflikte zu schüren.
In diesem Sinne bietet der Liberalismus den größten Raum für die kollektive Suche nach Sinn. Er akzeptiert den Menschen als endlich, betont aber, dass Sinn durch Wahlfreiheit, Gedankenaustausch und den Aufbau von Vertrauen in der Gemeinschaft geschaffen werden kann. Gesellschaften, denen es gelingt, auf Recht und Dialog basierende Institutionen zu entwickeln, Gesellschaften, die Gewalt und sinnlose Todesfälle minimieren, werden zu Gesellschaften, in denen Angst von einer zerstörerischen Kraft zu einer Motivation für Schöpfung wird.
Ehemaliges Jugoslawien: Der Verlust eines ontologischen Rahmens
Die traumatische Erfahrung des Zerfalls Jugoslawiens sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch nach der sozialistischen Ära zeigt deutlich, was passiert, wenn Angst instrumentalisiert wird, anstatt ihr einen Sinn zu geben. Jahrzehntelang fungierte Jugoslawien als Rahmen, der verschiedenen Völkern und Kulturen ein Gefühl der gemeinsamen Sicherheit und Sinnhaftigkeit vermittelte. Sein Zusammenbruch war nicht nur ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch, sondern auch ein tiefgreifendes existenzielles Trauma. Die Menschen verloren den ontologischen Rahmen der Realität, die Gewissheit, dass sie einer Gemeinschaft angehörten, die Bestand haben würde. In dem darauffolgenden Vakuum war der serbische Nationalismus innerhalb der serbischen Kulturgemeinschaft sowohl Ursache als auch Folge und bot einfache, aber verheerende Antworten: ewige Angst vor dem Anderen und das Versprechen der Unsterblichkeit durch die Nation. Kriege, ethnische Säuberungen und kollektive Traumata zeugten davon, dass Nationalismus nicht von Angst befreit, sondern sie zum ständigen Treibstoff politischen Handelns macht. Ein sehr ähnliches, wenn nicht identisches Muster lässt sich beim Zusammenbruch der UdSSR und im heutigen Krieg in der Ukraine erkennen. Der neu erfundene russische Nationalismus kann die Existenz von „Anderen“ wie den Ukrainern oder dem „liberalen Westen“ einfach nicht akzeptieren, die allein durch ihre Existenz als Bedrohung für die Existenz Russlands und der Russen konstruiert werden – neu definiert in nationalistischen Begriffen.
Existenzielle Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz anerkennen
Der Liberalismus steht heute vor einer großen Herausforderung. Wenn er relevant bleiben will, muss er sich den realen und wachsenden Ängsten der heutigen Menschheit stellen: Angst um die eigene Identität als Hülle des Angstmanagements; Angst vor dem Anderen und dem Fremden, vor Migration und kulturellem Wandel; Angst vor Krankheit, die uns an die Gebrechlichkeit des Körpers erinnert; Angst vor Armut und wirtschaftlicher Unsicherheit; Angst vor dem Alter und dem Verlust der Würde; Angst vor außer Kontrolle geratener Technologie; Angst vor künstlicher Intelligenz, die die Frage nach der Zukunft der menschlichen Freiheit aufwirft. Wenn der Liberalismus keine Antworten auf diese Ängste bietet, wird er an Kraft verlieren und Nationalismen und autoritären Ideologien, die einfache, aber falsche Antworten bieten, Raum geben.
Eine neue Kritik des Nationalismus, die auf dieser Prämisse basiert, beschränkt sich nicht auf eine bloße Verurteilung seiner Exklusivität, sondern geht weiter: Sie zeigt, dass der Nationalismus nicht in der Lage ist, den existenziellen Widerspruch der menschlichen Existenz anzugehen. Er verlängert lediglich die Angst, während der Liberalismus einen Rahmen bietet, in dem Angst nicht zu Konflikten führen muss, sondern zu einer kollektiven Suche nach Sinn. Freiheit wird also nicht durch die Abschaffung der Angst erreicht, sondern indem man ihr einen Sinn gibt – und genau in dieser Transformation liegt die politische Aufgabe unserer Zeit.
Angst neu denken: Kreative Antwort auf existenzielle Angst
Diese Perspektive eröffnet auch den Weg zu einer neuen politischen Ethik. Wenn Angst die grundlegende Kategorie ist, dann darf Politik nicht auf ihrer Instrumentalisierung beruhen, sondern auf ihrer Neukonzeption. Das bedeutet, Gemeinschaften aufzubauen, die keine Mythen von einem ewigen Feind pflegen, sondern Vertrauen und Solidarität fördern. Eine Gemeinschaft, der es gelingt, Angst in einen Raum der Freiheit und des Dialogs zu verwandeln statt in ein Gefängnis nationaler Mythen, wird wirklich frei.
Hier entsteht die Notwendigkeit, sich an eine vergessene Freiheit zu erinnern – die Freiheit von Angst. Darauf bestanden Franklin und Eleanor Roosevelt in den schwierigsten Momenten des 20. Jahrhunderts. Franklin Delano Roosevelt betonte in seiner Rede von 1941, dass die vier Freiheiten universelle Rechte der Menschheit sind: Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und – Freiheit von Angst. Eleanor Roosevelt verankerte diese Idee einige Jahre später in der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und verlieh ihr damit eine universelle, zivilisatorische Bedeutung.
Heute, in einer Zeit globaler Unsicherheit, Ungleichheit und technologischer Herausforderungen, ist es unerlässlich, zu dieser Idee zurückzukehren. Freiheit von Furcht bedeutet nicht die illusorische Abschaffung der Furcht, sondern ihre Neukonzeption durch Menschenrechte, Demokratie und soziale Institutionen, die Sicherheit, Gerechtigkeit und Würde bieten. Es ist die Freiheit, die es den Menschen ermöglicht, sich ihrer eigenen Endlichkeit zu stellen, aber auch einen Sinn im gemeinsamen Leben zu finden.
Furcht als unvermeidlicher Ausgangspunkt für Politik
Zeitgenössische politische Antworten, die auf dem liberalen Rahmen basieren, müssen daher eine Fortsetzung dieser Idee sein. Liberalismus kann nicht mehr nur als eine Reihe von Verfahren und Rechten verstanden werden, sondern als ein Projekt zum Aufbau von Gemeinschaften, die es den Menschen ermöglichen, sich grundlegenden Ängsten zu stellen. Das bedeutet, sich mit der Frage der Vielfalt und Migration auseinanderzusetzen, Gesundheit und soziale Sicherheit zu gewährleisten, wirtschaftliche Ungleichheiten zu verringern, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, die Umwelt zu schützen, einen ethischen Rahmen für Technologie und künstliche Intelligenz zu entwickeln und globale Institutionen aufzubauen, die die Menschenwürde schützen.
Die Verlagerung des Fokus von Interessen auf Ängste als Hauptantriebskraft der Politik stellt einen Versuch dar, neue Antworten auf die Fragen der heutigen Welt zu finden. In einer Zeit, in der globale Krisen – Kriege, Klimawandel, Pandemien, organisierte Kriminalität und technologische Revolutionen – das Leben von Millionen von Menschen prägen, ist klar, dass Interessen allein nicht ausreichen, um kollektives Verhalten zu erklären. Menschen wählen, protestieren und führen Kriege nicht nur aus Interesse, sondern weil sie versuchen, ihre Angst zu verringern, Sicherheit zu finden und ihrem eigenen Sterben einen Sinn zu geben.
Daher muss die neue Kritik am Nationalismus und die neue Bejahung des Liberalismus auf der Erkenntnis beruhen, dass Angst der unvermeidliche Ausgangspunkt der Politik ist. Der Nationalismus bietet einen falschen Ausweg und schürt die Angst durch ständige Drohungen und Mythen. Der Liberalismus hingegen ist keine Ideologie, die lediglich eine Alternative darstellen kann, sondern die Ideologie, die – im Vergleich zu anderen großen Ideologien des Westens – das größte Potenzial hat, Angst in eine treibende Kraft für die konstruktive Neugestaltung des Lebens zu verwandeln, vor allem durch die persönliche Entfaltung des Individuums als Voraussetzung für den Aufbau freier und solidarischer Gemeinschaften.
Freiheit von Angst
Die Rückkehr zur Idee der Freiheit von Angst als vergessener Grundlage der Menschenwürde ist die wichtigste politische Aufgabe unserer Zeit. Sie erfordert vor allem eine klare und unmissverständliche moralische Verurteilung des Nationalismus, aber nicht die Abkehr von der Nation als kollektiver Kategorie. Im Gegenteil, sie erfordert eine Neugestaltung der Nation auf der Grundlage des Umgangs mit Angst, nicht ihrer Manipulation – einer Nation, die nicht mehr auf der Schaffung von Feinden beruht, sondern auf der Fähigkeit, ihren Mitgliedern Sicherheit, Vertrauen und Sinn im gemeinsamen Leben mit „anderen“ Menschen zu bieten, die ebenfalls in entheiligten Nationen organisiert sind.
In diesem Sinne ist auch eine entschiedene Ablehnung der Forderung nach Loyalität gegenüber nur einem „Nationalstaat“, wie sie Nationalisten durchsetzen wollen, erforderlich, und stattdessen die Bekräftigung der Offenheit gegenüber mehreren Gemeinschaften der Zugehörigkeit – lokal, national, regional und global –, die es der Menschheit ermöglichen, der Illusion des Eingeschlossenseins und der ständigen Bedrohung zu entkommen und Angst in einen Raum der Solidarität und der individuellen und kollektiven Suche nach Sinn zu verwandeln. Dies ist nicht nur die Voraussetzung für das Überleben komplexer Gemeinschaften wie der Europäischen Union, sondern auch der notwendige Rahmen für den Umgang mit den Risiken internationaler Unruhen, die von nationalistischen Nationen ausgehen, die ausschließlich von Eigeninteressen getrieben sind und in einem Wettbewerb gefangen sind, der erneut zu ungeahnten Tragödien führen kann.
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