Was darf die Politik in der Pandemie?

Foto: Shutter­stock, Ron Adar

Marisa Kurz (Philo­sophin, Bioche­mi­kerin und angehende Ärztin, Bloggerin bei SciLogs) spricht im Interview mit Libmod über die aktuell beschlos­senen Covid-Maßnahmen.

Libmod: Das nun verab­schiedete Maßnah­men­paket inklusive vorerst weiterhin staatlich finan­zierter Schnell­tests wird von Kritikern als „Impfpflicht durch die Hintertüre“ kriti­siert – ist es eine?

Kurz: Nein. In meinen Augen wird es auch keine, wenn die Tests kosten­pflichtig werden. Man muss sich ja auch dann nicht impfen lassen. Nur hat man dann eben keinen Anspruch darauf, sich mit anderen Leuten in Innen­räumen aufzu­halten und die dadurch zu gefährden. Aber das alleine zwingt niemanden zur Entscheidung für die Impfung.

Der CDU-Kanzler­kan­didat Laschet hat heute eine Ausnahme von der 3‑G-Regel im von ihm regierten NRW verkündet: Dort ist zum Besuch von Gottes­diensten kein Test notwendig. Das Publikum sei nicht vergleichbar mit dem eines Clubs.

Kurz: Zunächst mal verstehe ich als Atheistin Religi­ons­freiheit so, dass jeder sich zu jedem – oder eben keinem – Glauben bekennen kann, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Deutschland ist kein laizis­ti­scher Staat, aber solche Sonder­rechte für Kirchen halte ich für falsch. Die körper­liche Unver­sehrtheit der Bevöl­kerung ist wichtiger als die Freiheit, religiöse Riten auszu­führen. Ich darf glauben, was ich will, aber ich kann nicht religiös begründet tun, was ich will, wenn das bedeutet, ungetestet und ungeimpft in einer Kirche meine Mitmen­schen einem Anste­ckungs­risiko auszu­setzen. Deren Recht auf körper­liche Unver­sehrtheit überwiegt mein Recht, meine Religion in der Öffent­lichkeit auszuüben. Inter­essant finde ich in diesem Zusam­menhang auch Laschets Begründung, dass das Publikum sich von dem in Disko­theken unter­scheidet. Denn das tut es zwar gewiss einer­seits dadurch, dass in den älteren Bevöl­ke­rungs­schichten die Durch­imp­fungs­quote höher ist als in den jüngeren. Anderer­seits hat das ja einen guten Grund: Dies sind eben die durch eine Infektion am meisten gefähr­deten Menschen, was diese Entscheidung für mich noch weniger verständlich macht.

Wenn künftig die Tests privat bezahlt werden müssen, ist davon auszu­gehen, dass sehr viel weniger Leute sich testen lassen werden. Ist das – unabhängig davon, ob es fair ist – nicht von Nachteil für die Kontrolle der Pandemie? Anekdo­tisch weiß ja jeder von Fällen, in denen eine unbemerkte Infektion auf diese Weise entdeckt und eine poten­tielle Infek­ti­ons­kette so unter­brochen wurde. 

Kurz: Ich weiß einfach nicht, wie effektiv das Schnell­test­pro­gramm ist. Und ohne diese Daten­basis kann sich schlicht niemand quali­fi­ziert zu dieser Frage äußern. Gewiss wurden so einige Infizierte gefunden, die sonst vielleicht unent­deckt geblieben wären. Aber was das für das gesamte Pande­mie­ge­schehen bedeutet, bleibt völlig offen.

So lange wir keine Herden­im­mu­nität erreicht haben, bedeutet das für Menschen, die z.B. immun­sup­p­ri­miert sind und also durch eine Impfung nicht geschützt werden können, dass sie sich um eine Infektion zu vermeiden, faktisch isolieren müssen. Ist das nicht ein valides Argument dafür, sobald jedem ein Impfan­gebot unter­breitet wurde, sämtliche Maßnahmen zu beenden? Wer will, kann und wird dann eben statt mit der Impfung mit dem Virus Bekannt­schaft machen, dafür kommen wir als Gesamt­ge­sell­schaft aber schneller in den Status der Herden­im­mu­nität, und ab einer gewissen Impfquote kann man davon ausgehen, dass das Gesund­heits­system das absor­bieren könnte.

Kurz: Als angehende Ärztin kann ich niemandem wünschen, diese Infektion zu bekommen. Ich habe auf der Infek­tio­logie, also der Covid-Station gearbeitet und betreue die Mutter einer Kranken­schwester bei uns im Haus, die wegen ihrer Post-Covid-Symptome seit einem Dreivier­teljahr das Bett nicht verlassen konnte. Daher kann ich das nicht unter­schreiben. Es ist eine Frage der Fairness, dass Kinder, Schwangere, Immun­sup­p­ri­mierte, Aller­giker und andere, die nicht geimpft werden können, dauerhaft nicht mit den Kosten für Tests belastet werden. Nach der aktuellen Beschlusslage wurde das ja glück­li­cher­weise berück­sichtigt. Wobei natürlich fraglich bleibt, ob jemand in einer solchen Situation unbedingt in einem Restaurant innen essen gehen sollte.

Wenn wir ad infinitum noch den letzten Impfgegner durch nicht­me­di­zi­nische Maßnahmen vor der Infektion retten wollen, dann müssen wir als Gesell­schaft aber den sprich­wört­lichen Laden für immer geschlossen halten.

Kurz: Wir wollen nicht den Impfgegner schützen, sondern die Impfver­sager. Also die Leute, die sich trotz Impfung anstecken, die gibt es ja. Zwar ist deren Risiko, schwer zu erkranken, viel geringer, aber Schutz verdienen sie dennoch. Ebenso wie eben jene, die sich nicht durch die Impfung schützen können. Die harten Impfgegner treffen sich im Zweifel sowieso zu fünzigst in einem privaten Wohnzimmer und stecken sich dort an. Aber der freige­testete Immun­sup­p­ri­mierte im Restaurant verdient die Solida­rität der Gesamt­ge­sell­schaft. Und der Sinn der 3‑G-Regel ist ja erklär­ter­maßen, die Restau­rants, Kinos, Schulen etc. offen zu halten, um den wirtschaft­lichen Gesamt­schaden der Pandemie einiger­maßen zu begrenzen.

Söder hat nun bereits ins Spiel gebracht, dass mittel­fristig auch eine „2‑G-Regel“ kommen könnte, die lautet: Ob getestet oder nicht, abgesehen von jenen, die nicht geimpft werden können, darf niemand ohne Impfung oder überstan­dener Erkrankung in Innen­räume. Hier geht es dann nicht mehr primär um den Schutz der vulner­ablen Gruppen, sondern ganz klar darum, die Daumen­schrauben anzuziehen, um die Leute zur Impfung zu bewegen. Ein legitimer Vorschlag?

Kurz: Aus meiner Sicht absolut legitim. Dann muss der Impfgegner eben abwägen, ob das Fußball­spiel im Stadion ihm persönlich wichtiger ist, als seine Abneigung der Impfung gegenüber. Diese Entscheidung steht ihm ja weiterhin frei. Er darf dann halt nicht an Orte voller Menschen, die er poten­tiell schädigen könnte.

Die aller­meisten Geimpften haben nach Umfragen selbst keine Angst vor dem Umgang mit Ungeimpften, weil sie davon überzeugt sind, gut geschützt zu sein. Dennoch halten Sie das für gerechtfertigt?

Kurz: Die subjektive Einschätzung von Lebens­ri­siken spiegelt ja wie man weiß die Realität recht schlecht wieder. Denken wir an die vielen Menschen, die Angst davor haben, sich in ein Flugzeug zu setzen. Die aller­meisten von denen wissen, dass statis­tisch die Fahrt zum Flughafen um ein vielfaches gefähr­licher ist, als der anschlie­ßende Flug in die Ferien. Aber die Angst verspüren sie trotzdem erst im Flugzeug. Das scheint mir keine gute Basis für pande­mie­po­li­tische Entschei­dungen. Ich unter­stelle prinzi­piell jedem psychisch Gesundem, dass er seine körper­liche und seelische Unver­sehrtheit bewahren will, aber eben oft nicht in der Lage ist, Risiken statis­tisch korrekt einzuschätzen.

Die StIKo tut sich sichtbar schwer damit, Teenagern die Impfung zu empfehlen. Die Politik hat dennoch beschlossen, entspre­chende Angebote zu unter­breiten. Die Eltern müssen dem bis zum Alter von 16 Jahren zustimmen. Man kann aber bereits mit 14 frei entscheiden, welchen Religi­ons­un­ter­richt man besuchen möchte. Dass unter Teenagern Gruppen­zwang enorme Dynamiken entwi­ckelt, könnte die Impfkam­pagne aber doch durchaus positiv beein­flussen. Sollen impfskep­tische Eltern ihre 15jährige impfwillige Tochter davon abhalten dürfen, sich impfen zu lassen?

Kurz: Ich verstehe ich die Haltung der Stiko. Schwere Verläufe sind in diesen Alters­klassen so extrem selten, dass die Gesell­schaft insgesamt mehr von der einzelnen Impfung profi­tiert als der indivi­duelle geimpfte Jugend­liche. Das ist bei praktisch allen anderen Impfungen anders. Ich vermute, dass die Stiko auf die jetzt getroffene politische Entscheidung speku­liert hat. In Deutschland gilt die Weltan­schauung der Eltern tradi­tionell oft als höheres Gut als die körper­liche Unver­sehrtheit der Kinder. Ich halte das auch bei anderen Impfungen für falsch. Im konkreten Fall denke ich, dass nach einem Beratungs­ge­spräch mit einem Arzt auch ein Vierzehn­jäh­riger eine solche Entscheidung eigen­ver­ant­wortlich für sich treffen kann.

Sie halten die aktuelle Regelung nicht für eine Impfpflicht. Eine solche wird aber in anderen Ländern teilweise offen disku­tiert. Lehnen Sie denn eine solche Maßnahme katego­risch ab, sofern mit Freiwil­ligkeit der Pandemie nicht beizu­kommen sein sollte? Ich habe noch eine Pocken­imp­fungs­narbe am Oberarm – das war verpflichtend und es hat funktio­niert, die Krankheit ist ausgerottet.

Kurz: Zunächst mal muss man anerkennen, dass eine Ausrottung dieses Erregers anders als bei den Pocken nicht realis­tisch ist. Erstens mutiert das jetzt pande­mische Virus weiter und zweitens werden – wie ja auch schon vor Covid-19 – andere zoono­tische Corona­viren die Menschheit heimsuchen. Vollkommen undenkbar wäre, Menschen gegen ihren Willen die Impfung zu verab­reichen. Eine Geldstrafe könnte ich mir maximal vorstellen.

Ein schweizer Natio­nalrat hat einen anderen Vorschlag: Ungeimpfte sollen im Falle einer Hospi­ta­li­sierung die Behand­lungs­kosten selbst tragen müssen.

Kurz: Das halte ich aus verschie­denen Gründen für ethisch nicht machbar. Es kann nicht im Sinne der Pande­mie­be­kämpfung sein, wenn man Patienten einen Anreiz gibt, notwendige Arztbe­suche wegen finan­zi­eller Risiken zu vermeiden. Jeder Kranke hat das Recht auf die bestmög­liche Behandlung. Selbst wenn die Kranken­häuser nicht befürchten müssten, die Behand­lungs­kosten nicht erstattet zu bekommen, gibt es kein Szenario, in dem die behan­delnden Ärzte nicht in Gewis­sens­kon­flikte gebracht würden. Die medizi­nische Versorgung ist nie der richtige Ort, um Menschen für ihre Entschei­dungen zu belohnen oder zu bestrafen. Wer betrunken in ein Auto fährt, der wird dafür vom Rechts­staat zur Verant­wortung gezogen, aber er hat das selbe Recht auf die bestmög­liche medizi­nische Behandlung wie seine Opfer aus dem anderen Wagen. Menschen machen Fehler und die Medizin ist nicht der Ort, über sie zu richten.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Privat­wirt­schaft. In den USA ist es Arbeit­gebern viel einfacher als in Deutschland, ihren Beschäf­tigten gewisse Impfungen abzuver­langen. Wäre es nicht sinnvoll, wenigstens bei Beschäf­tigten, die mit besonders Gefähr­deten arbeiten, klar mit Kündigung zu drohen?

Kurz: Ich kannte eine Kranken­schwester, die auf einer Kinder­krebs­station gearbeitet hat, wo die Kinder Stamm­zell­trans­plan­ta­tionen bekommen. Die also die aller­ver­letz­lichsten Patienten betreute, die überhaupt denkbar sind. Die hat sich nicht mal gegen Grippe impfen lassen. Es gibt zwar Empfeh­lungen, aber mehr auch nicht. Mehr wäre aber auch gar nicht prakti­kabel, weil der Pflege­not­stand es Arbeit­gebern schlicht nicht erlaubt, ernst­hafte Kündi­gungs­dro­hungen auszusprechen.

Bratwurst, Freige­tränk, Bargeld, Lotte­rie­ticket, es gibt etliche Ideen, die Leute zum impfen zu motivieren. Ein Einwand dagegen: Die Lektion für die nächste vergleichbare Situation könnte lauten „Abwarten lohnt sich.“

Wir sind aber aktuell in der Situation, in der wir nun mal sind. Daher: Whatever works.


Das Interview führte David Harnasch

Marisa Kurz, Jahrgang 1988, lebt in München. Sie hat ein Studium der Biochemie mit Nebenfach Virologie (M. Sc., B. Sc.) und ein Studium der Philo­sophie mit Nebenfach Sprache, Literatur und Kultur (B. A.) abgeschlossen. Aktuell studiert sie Human­me­dizin, schließt ihr Studium Ende 2021 ab und strebt eine Weiter­bildung zur Onkologin an. Sie promo­viert in der Krebs­for­schung zu Immun­check­points bei Lungen­krebs und arbeitet außerdem an einem medizin­ethi­schen Forschungs­projekt. Von 2014–2020 war sie als wissen­schaft­liche Hilfs­kraft an verschie­denen Forschungs­ein­rich­tungen in München tätig. Aktuell befindet sie sich im Prakti­schen Jahr des Medizin­stu­diums. Neben dem Studium schreibt sie unter anderem für den Georg-Thieme Verlag.

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