Was darf die Politik in der Pandemie?
Marisa Kurz (Philosophin, Biochemikerin und angehende Ärztin, Bloggerin bei SciLogs) spricht im Interview mit Libmod über die aktuell beschlossenen Covid-Maßnahmen.
Libmod: Das nun verabschiedete Maßnahmenpaket inklusive vorerst weiterhin staatlich finanzierter Schnelltests wird von Kritikern als „Impfpflicht durch die Hintertüre“ kritisiert – ist es eine?
Kurz: Nein. In meinen Augen wird es auch keine, wenn die Tests kostenpflichtig werden. Man muss sich ja auch dann nicht impfen lassen. Nur hat man dann eben keinen Anspruch darauf, sich mit anderen Leuten in Innenräumen aufzuhalten und die dadurch zu gefährden. Aber das alleine zwingt niemanden zur Entscheidung für die Impfung.
Der CDU-Kanzlerkandidat Laschet hat heute eine Ausnahme von der 3‑G-Regel im von ihm regierten NRW verkündet: Dort ist zum Besuch von Gottesdiensten kein Test notwendig. Das Publikum sei nicht vergleichbar mit dem eines Clubs.
Kurz: Zunächst mal verstehe ich als Atheistin Religionsfreiheit so, dass jeder sich zu jedem – oder eben keinem – Glauben bekennen kann, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Deutschland ist kein laizistischer Staat, aber solche Sonderrechte für Kirchen halte ich für falsch. Die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung ist wichtiger als die Freiheit, religiöse Riten auszuführen. Ich darf glauben, was ich will, aber ich kann nicht religiös begründet tun, was ich will, wenn das bedeutet, ungetestet und ungeimpft in einer Kirche meine Mitmenschen einem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Deren Recht auf körperliche Unversehrtheit überwiegt mein Recht, meine Religion in der Öffentlichkeit auszuüben. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch Laschets Begründung, dass das Publikum sich von dem in Diskotheken unterscheidet. Denn das tut es zwar gewiss einerseits dadurch, dass in den älteren Bevölkerungsschichten die Durchimpfungsquote höher ist als in den jüngeren. Andererseits hat das ja einen guten Grund: Dies sind eben die durch eine Infektion am meisten gefährdeten Menschen, was diese Entscheidung für mich noch weniger verständlich macht.
Wenn künftig die Tests privat bezahlt werden müssen, ist davon auszugehen, dass sehr viel weniger Leute sich testen lassen werden. Ist das – unabhängig davon, ob es fair ist – nicht von Nachteil für die Kontrolle der Pandemie? Anekdotisch weiß ja jeder von Fällen, in denen eine unbemerkte Infektion auf diese Weise entdeckt und eine potentielle Infektionskette so unterbrochen wurde.
Kurz: Ich weiß einfach nicht, wie effektiv das Schnelltestprogramm ist. Und ohne diese Datenbasis kann sich schlicht niemand qualifiziert zu dieser Frage äußern. Gewiss wurden so einige Infizierte gefunden, die sonst vielleicht unentdeckt geblieben wären. Aber was das für das gesamte Pandemiegeschehen bedeutet, bleibt völlig offen.
So lange wir keine Herdenimmunität erreicht haben, bedeutet das für Menschen, die z.B. immunsupprimiert sind und also durch eine Impfung nicht geschützt werden können, dass sie sich um eine Infektion zu vermeiden, faktisch isolieren müssen. Ist das nicht ein valides Argument dafür, sobald jedem ein Impfangebot unterbreitet wurde, sämtliche Maßnahmen zu beenden? Wer will, kann und wird dann eben statt mit der Impfung mit dem Virus Bekanntschaft machen, dafür kommen wir als Gesamtgesellschaft aber schneller in den Status der Herdenimmunität, und ab einer gewissen Impfquote kann man davon ausgehen, dass das Gesundheitssystem das absorbieren könnte.
Kurz: Als angehende Ärztin kann ich niemandem wünschen, diese Infektion zu bekommen. Ich habe auf der Infektiologie, also der Covid-Station gearbeitet und betreue die Mutter einer Krankenschwester bei uns im Haus, die wegen ihrer Post-Covid-Symptome seit einem Dreivierteljahr das Bett nicht verlassen konnte. Daher kann ich das nicht unterschreiben. Es ist eine Frage der Fairness, dass Kinder, Schwangere, Immunsupprimierte, Allergiker und andere, die nicht geimpft werden können, dauerhaft nicht mit den Kosten für Tests belastet werden. Nach der aktuellen Beschlusslage wurde das ja glücklicherweise berücksichtigt. Wobei natürlich fraglich bleibt, ob jemand in einer solchen Situation unbedingt in einem Restaurant innen essen gehen sollte.
Wenn wir ad infinitum noch den letzten Impfgegner durch nichtmedizinische Maßnahmen vor der Infektion retten wollen, dann müssen wir als Gesellschaft aber den sprichwörtlichen Laden für immer geschlossen halten.
Kurz: Wir wollen nicht den Impfgegner schützen, sondern die Impfversager. Also die Leute, die sich trotz Impfung anstecken, die gibt es ja. Zwar ist deren Risiko, schwer zu erkranken, viel geringer, aber Schutz verdienen sie dennoch. Ebenso wie eben jene, die sich nicht durch die Impfung schützen können. Die harten Impfgegner treffen sich im Zweifel sowieso zu fünzigst in einem privaten Wohnzimmer und stecken sich dort an. Aber der freigetestete Immunsupprimierte im Restaurant verdient die Solidarität der Gesamtgesellschaft. Und der Sinn der 3‑G-Regel ist ja erklärtermaßen, die Restaurants, Kinos, Schulen etc. offen zu halten, um den wirtschaftlichen Gesamtschaden der Pandemie einigermaßen zu begrenzen.
Söder hat nun bereits ins Spiel gebracht, dass mittelfristig auch eine „2‑G-Regel“ kommen könnte, die lautet: Ob getestet oder nicht, abgesehen von jenen, die nicht geimpft werden können, darf niemand ohne Impfung oder überstandener Erkrankung in Innenräume. Hier geht es dann nicht mehr primär um den Schutz der vulnerablen Gruppen, sondern ganz klar darum, die Daumenschrauben anzuziehen, um die Leute zur Impfung zu bewegen. Ein legitimer Vorschlag?
Kurz: Aus meiner Sicht absolut legitim. Dann muss der Impfgegner eben abwägen, ob das Fußballspiel im Stadion ihm persönlich wichtiger ist, als seine Abneigung der Impfung gegenüber. Diese Entscheidung steht ihm ja weiterhin frei. Er darf dann halt nicht an Orte voller Menschen, die er potentiell schädigen könnte.
Die allermeisten Geimpften haben nach Umfragen selbst keine Angst vor dem Umgang mit Ungeimpften, weil sie davon überzeugt sind, gut geschützt zu sein. Dennoch halten Sie das für gerechtfertigt?
Kurz: Die subjektive Einschätzung von Lebensrisiken spiegelt ja wie man weiß die Realität recht schlecht wieder. Denken wir an die vielen Menschen, die Angst davor haben, sich in ein Flugzeug zu setzen. Die allermeisten von denen wissen, dass statistisch die Fahrt zum Flughafen um ein vielfaches gefährlicher ist, als der anschließende Flug in die Ferien. Aber die Angst verspüren sie trotzdem erst im Flugzeug. Das scheint mir keine gute Basis für pandemiepolitische Entscheidungen. Ich unterstelle prinzipiell jedem psychisch Gesundem, dass er seine körperliche und seelische Unversehrtheit bewahren will, aber eben oft nicht in der Lage ist, Risiken statistisch korrekt einzuschätzen.
Die StIKo tut sich sichtbar schwer damit, Teenagern die Impfung zu empfehlen. Die Politik hat dennoch beschlossen, entsprechende Angebote zu unterbreiten. Die Eltern müssen dem bis zum Alter von 16 Jahren zustimmen. Man kann aber bereits mit 14 frei entscheiden, welchen Religionsunterricht man besuchen möchte. Dass unter Teenagern Gruppenzwang enorme Dynamiken entwickelt, könnte die Impfkampagne aber doch durchaus positiv beeinflussen. Sollen impfskeptische Eltern ihre 15jährige impfwillige Tochter davon abhalten dürfen, sich impfen zu lassen?
Kurz: Ich verstehe ich die Haltung der Stiko. Schwere Verläufe sind in diesen Altersklassen so extrem selten, dass die Gesellschaft insgesamt mehr von der einzelnen Impfung profitiert als der individuelle geimpfte Jugendliche. Das ist bei praktisch allen anderen Impfungen anders. Ich vermute, dass die Stiko auf die jetzt getroffene politische Entscheidung spekuliert hat. In Deutschland gilt die Weltanschauung der Eltern traditionell oft als höheres Gut als die körperliche Unversehrtheit der Kinder. Ich halte das auch bei anderen Impfungen für falsch. Im konkreten Fall denke ich, dass nach einem Beratungsgespräch mit einem Arzt auch ein Vierzehnjähriger eine solche Entscheidung eigenverantwortlich für sich treffen kann.
Sie halten die aktuelle Regelung nicht für eine Impfpflicht. Eine solche wird aber in anderen Ländern teilweise offen diskutiert. Lehnen Sie denn eine solche Maßnahme kategorisch ab, sofern mit Freiwilligkeit der Pandemie nicht beizukommen sein sollte? Ich habe noch eine Pockenimpfungsnarbe am Oberarm – das war verpflichtend und es hat funktioniert, die Krankheit ist ausgerottet.
Kurz: Zunächst mal muss man anerkennen, dass eine Ausrottung dieses Erregers anders als bei den Pocken nicht realistisch ist. Erstens mutiert das jetzt pandemische Virus weiter und zweitens werden – wie ja auch schon vor Covid-19 – andere zoonotische Coronaviren die Menschheit heimsuchen. Vollkommen undenkbar wäre, Menschen gegen ihren Willen die Impfung zu verabreichen. Eine Geldstrafe könnte ich mir maximal vorstellen.
Ein schweizer Nationalrat hat einen anderen Vorschlag: Ungeimpfte sollen im Falle einer Hospitalisierung die Behandlungskosten selbst tragen müssen.
Kurz: Das halte ich aus verschiedenen Gründen für ethisch nicht machbar. Es kann nicht im Sinne der Pandemiebekämpfung sein, wenn man Patienten einen Anreiz gibt, notwendige Arztbesuche wegen finanzieller Risiken zu vermeiden. Jeder Kranke hat das Recht auf die bestmögliche Behandlung. Selbst wenn die Krankenhäuser nicht befürchten müssten, die Behandlungskosten nicht erstattet zu bekommen, gibt es kein Szenario, in dem die behandelnden Ärzte nicht in Gewissenskonflikte gebracht würden. Die medizinische Versorgung ist nie der richtige Ort, um Menschen für ihre Entscheidungen zu belohnen oder zu bestrafen. Wer betrunken in ein Auto fährt, der wird dafür vom Rechtsstaat zur Verantwortung gezogen, aber er hat das selbe Recht auf die bestmögliche medizinische Behandlung wie seine Opfer aus dem anderen Wagen. Menschen machen Fehler und die Medizin ist nicht der Ort, über sie zu richten.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Privatwirtschaft. In den USA ist es Arbeitgebern viel einfacher als in Deutschland, ihren Beschäftigten gewisse Impfungen abzuverlangen. Wäre es nicht sinnvoll, wenigstens bei Beschäftigten, die mit besonders Gefährdeten arbeiten, klar mit Kündigung zu drohen?
Kurz: Ich kannte eine Krankenschwester, die auf einer Kinderkrebsstation gearbeitet hat, wo die Kinder Stammzelltransplantationen bekommen. Die also die allerverletzlichsten Patienten betreute, die überhaupt denkbar sind. Die hat sich nicht mal gegen Grippe impfen lassen. Es gibt zwar Empfehlungen, aber mehr auch nicht. Mehr wäre aber auch gar nicht praktikabel, weil der Pflegenotstand es Arbeitgebern schlicht nicht erlaubt, ernsthafte Kündigungsdrohungen auszusprechen.
Bratwurst, Freigetränk, Bargeld, Lotterieticket, es gibt etliche Ideen, die Leute zum impfen zu motivieren. Ein Einwand dagegen: Die Lektion für die nächste vergleichbare Situation könnte lauten „Abwarten lohnt sich.“
Wir sind aber aktuell in der Situation, in der wir nun mal sind. Daher: Whatever works.
Das Interview führte David Harnasch
Marisa Kurz, Jahrgang 1988, lebt in München. Sie hat ein Studium der Biochemie mit Nebenfach Virologie (M. Sc., B. Sc.) und ein Studium der Philosophie mit Nebenfach Sprache, Literatur und Kultur (B. A.) abgeschlossen. Aktuell studiert sie Humanmedizin, schließt ihr Studium Ende 2021 ab und strebt eine Weiterbildung zur Onkologin an. Sie promoviert in der Krebsforschung zu Immuncheckpoints bei Lungenkrebs und arbeitet außerdem an einem medizinethischen Forschungsprojekt. Von 2014–2020 war sie als wissenschaftliche Hilfskraft an verschiedenen Forschungseinrichtungen in München tätig. Aktuell befindet sie sich im Praktischen Jahr des Medizinstudiums. Neben dem Studium schreibt sie unter anderem für den Georg-Thieme Verlag.
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