Wie aktuell ist Hanna Arendt? Der Sinn von Politik ist Freiheit.
Am gestrigen Samstag demonstrierten auf Aufruf von 350 Initiativen zehntausende Menschenunter dem Hashtag #Unteilbar „für eine offene und solidarische Gesellschaft“ und gegen Rassismus, Soziale Ungerechtigkeit und den menschgemachten Klimawandel. Hanna Arendt hätte das mit Wohlwollen betrachtet, analysiert der Experte Dr. Bruno Heidlberger im Essay.
Hannah Arendt (1906–1975) ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie geworden – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von Flucht und Staatenlosigkeit schöpfte und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Es gibt viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, eine führt zu dem, was wir heute „Bürgergesellschaft“ oder „Zivilgesellschaft“ nennen. In den posttotalitären Demokratien sah sie Gefahren in der einseitigen Orientierung an Arbeit und Konsum, in der Vereinsamung und Isolation, bürokratischen Apparaten, der Abgehobenheit von Politik und der Macht der Lügen. In den letzten Jahrzehnten hat das Interesse an ihrem Denken weltweit zugenommen. Arndts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus führt zur Überzeugung, dass der Sinn von politischem Handeln, die Freiheit, das freie, verantwortliche Handeln ist: Einem auf Intersubjektivität und Pluralität beruhenden Verständnis einer freien politischen Gesellschaft, als einem durch öffentlicher Debatte und politisches Handeln ständig lebendig zu erhaltenden Ort der Zivilisation. Gegen Martin Heidegger und mit Immanuel Kant und Karl Jaspers stimmt sie darin überein: dass „alles Handeln die Verantwortung für die Menschheit mit übernehmen müsse“. Hannah Arendts Schriften sperren sich gegen die üblichen Einordnungsversuche in links und rechts, liberal und konservativ. Mit Blick auf ihren aristotelischen Begriff des Politischen, ein alter Vorwurf, fragt man, ob mit Arendt Politik in der Moderne überhaupt möglich ist. Insofern sie Anleihen beim Politikbegriff der griechischen Antike mache, hätten sie eine elitäre Note, die dem modernen Anspruch auf soziale Emanzipation und Demokratisierung aller Lebensbereiche widerspräche. Ich halte diese Einwände weder für produktiv noch für zwingend und möchte Arendt gegen diese Einwände verteidigen. Mit Karl Marx „Transformation der sozialen Frage in einen politischen Faktor“ hat Hannah Arendt das Soziale auch als eine politische Sphäre gedacht. Dies wird in Über die Revolution (Arendt, 1974, 77)[i] und bei ihrer Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (Arendt, 1996, 87ff)[ii] deutlich. Ihr war bewusst, dass politische Freiheit schon immer die Befreiung der Individuen von Zwang und Not voraussetzt, wie sie 1967 in einem Vortrag, der erst jetzt aus dem Nachlass unter dem Namen Die Freiheit frei zu sein, publiziert worden ist, unterstreicht.
Die Revolution mit ihrem Novus Ordo Saeclorum
Revolution und Handeln sind die beiden Paradigmen ihres Denkens. Arendt sieht den Sinn von Revolutionen in „der Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten Potentiale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwachse „die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet zu haben“ (Arendt, 2018, 38)[iii]. „Das Interesse, das sie an dem Phänomen der Revolution bekunde, sei, so Jürgen Habermas, „eigentümlich beschränkt“. „Die Institutionalisierung der öffentlichen Freiheit“ dürfe, wie schon Aristoteles gelehrt habe, mit „Konflikten der gesellschaftlichen Arbeit nicht belastet werden, politische Fragen“ dürften „mit sozialökonomischen nicht vermengt werden“ (Habermas,1981, 224)[iv]. Was im Selbstverständnis der Neuzeit als großer Fortschritt gilt, Emanzipation der Arbeiterschaft und der Frau, wird von Arendt als sekundäre politische Leistung gesehen. Die Amerikanische Revolution ist hingegen für Arendt das Paradigma einer wahrhaft geglückten Revolution. Sie war eine politische ohne soziale Revolution, eine Staatsgründung ohne Klassenkampf, Terror und Tote (Arendt, 1974, 143).
Gleichwohl begeisterte sie sich für die Geschichte der Arbeiter‑, insbesondere der revolutionären Rätebewegungen und sympathisierte mit der radikaldemokratischen Studentenbewegung der späten 60er Jahre und ihrer „Lust am Handeln“ und der „Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“ (Arendt, 1969, 107) [v]. Manche Ziele der Bewegung, wie in Amerika, begrüßte sie, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“, wie etwa die Politisierung und das Umfunktionierung der Universitäten und ähnliche Dinge“ (107). Die „einzige positive Losung der neuen Bewegung, der Ruf nach ‚Mitbestimmungsdemokratie‘, also eine linke Kritik am Parlamentarismus, stamme „aus dem Besten der revolutionären Tradition: dem Rätesystem“. Dazu bedürfe es nicht der Gewalt – allein des passiven Widerstandes. Im Rätestaat sieht Arendt einen Ansatz für einen neuen Staatsbegriff, ein föderales System, „das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und schließlich zu einem Parlament führt“ (132). Räte sollen die Nachteile einer nach Parteien organisierten Volksvertretung, die durch Klasseninteressen bestimmt sei, überwinden. Welchen Zweck Räte verfolgen sollen, wie das Gemeinwohl verstanden und in dieses Konzept integriert werden kann, lässt Arendt zunächst offen. Arendt schwebt eine „aristokratische Staatsform“ vor, die „nicht mehr zu dem Mittel der allgemeinen Wahlen“ greift. „Öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und die Verantwortung für öffentliche Angelegenheiten“ solle nur denen zufallen, denen es um mehr gehe als um ihr „privates Wohlergehen“ (Arendt, 1965, 359f.). Damit reduziert sie das moderne Gleichheitspostulat auf das der Chancengleichheit. Die Aussichten für die Realisierung eines Rätestaates hielt sie für sehr gering, „immerhin – vielleicht doch im Zuge der nächsten Revolution“ (Arendt 1969,133).
Alle großen Revolutionen der Geschichte begannen auf der Straße. Seit Jahren nimmt die Zahl der Demonstrationen zu – weltweit. Von Belarus bis Honkong. Zivilgesellschaften kämpfen überall für Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Das Internet hat die Proteste, aber auch den Charakter der Öffentlichkeit verändert. Erst versammelt man sie online, dann in Räumen und schließlich auf den Straßen und Plätzen. Plötzlich waren sie da. Jeden Freitag gingen sie für den Klimaschutz und für ein gutes Leben auf die Straße – bis Corona kam. Was hat das mit Hannah Arendt zu tun? Für Arendt besteht genau darin der Sinn der Politik, im spontanen Schritt zu den anderen, hin zu einem „Wir“, dem Zusammenhandeln in einem gemeinsam geschaffenen öffentlichen Raum. So kann politische Macht entstehen. Die Macht der vielen zeigt sich im gemeinsamen Handlungsvollzug als weltverändernde Praxis: Aktionen sind politisch, wenn sie die Welt verändern. Hier stimmt Arendt als Radikaldemokratin mit dem jungen Marx überein. Diesen Schritt kann man nicht von oben delegieren, man muss ihn persönlich machen. Dort, wo Menschen zu Hause bleiben und alles den Parteien überlassen, kann man nach Arendt nicht von politischer Freiheit sprechen. Für Arendt ist der Sinn der Politik Freiheit. Nicht allein Freiheit von Unterdrückung und Zwang, sondern ganz im Sinne Kants eines Vermögens der Vernunft – der Fähigkeit eines spontanen Beginns einer „kausalen Reihe von Begebenheiten“ – „frei zu sein für einen Neuanfang“, im besten Falle für die Beteiligung an den Regierungsgeschäften. Arendt stellt die klassische liberale Freiheit, die Freiheit von, die „negative Freiheit“, d.h., die staatlichen Schutzrechte des Individuums, in die zweite Reihe. Ihr geht es um die Freiheit zu, um die „positive Freiheit“, um „moralische Freiheit“ (Arendt, 2018, 47), um die Freiheit, die Welt zu verändern. Diese Art Freiheit, also „ein politisches Leben zu führen“ (16), realisiert sich beim Zusammenwirken von Freien und Gleichen im politischen Raum, wo man um die richtige Form des Zusammenlebens streitet. Diese Freiheit setzt aber die Befreiung der Individuen von Zwang und Not schon voraus.
Der Sündenfall: die Verdrängung des Handelns (Praxis) durch das Herstellen (poiesis)
Arendts gesamtes Werk ist eine ausgiebige Variation eines einzelnen Satzes von Aristoteles. Gemeint ist die These, das Handeln sei das menschliche Leben selber. Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Frage, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind, wurzelt in der Erfahrung des Nationalsozialismus. Das eigentliche Problem für Arendt war nicht der Antisemitismus und Nationalsozialismus, sondern der radikale Weltverlust, der Verlust des Denkens und Handeln. Ihre zentrale These von der Verdrängung des Handelns (Praxis) durch das Herstellen (poiesis) verdankt Arendt dem jungen Heidegger. Ort des Handelns als Praxis und Selbstzweck ist nach aristotelischem Vorbild allein das Gemeinwesen, die Polis. Handeln gilt für Arendt als spezifische Tätigkeit des Menschen als argumentierendes und politisches Wesen.
Nach der Erfahrung mit der nationalsozialistischen Diktatur wollte Hannah Arendt herauszufinden, warum „viele ihrer intellektuellen Freunde der völkischen oder marxistischen Theorie auf den Leim gegangen waren“ (Adalbert Reif 21)[vi]. Besonders schmerzlich war ihre Erfahrung, dass sich auch enge Freunde und Intellektuelle selbst verleugneten und gleichschalten ließen und Freundschaft zugunsten einer Karriere im Dritten Reich verrieten (Heidegger). Arendt beklagt ihren Konformismus und den Verlust jeglicher Vorstellung von freiem Denken und politischen Handeln. Für sie war es so, als täte sich ein „leerer Raum“ auf. Als erste Theoretikerin hat Arendt das Phänomen des Totalitarismus, der inmitten der abendländischen Zivilisation entstanden ist, als eine völlig neue Form politischer Macht, als Phänomen der Weltentfremdung, analysiert. „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung“, wie bei Karl Marx, ist für Arendt das „Kennzeichen der Neuzeit“ (Vita activa, 149)[vii]. Der Erste Weltkrieg ist für Arendt eine letzte Folge des Auseinanderfallens des philosophischen Denkens über die Welt und des Handelns in ihr. Antisemitismus und Nationalismus sind für sie Folgeerscheinungen des Weltverlustes, des Verlustes von Denken, politischem Handeln und von Pluralität. Arendt führt den Weltverlust auch auf das Versagen der politischen Philosophie seit Platon zurück, insbesondere auf die Verwechslung von Handeln mit Herstellen und auf das Desinteresse und die Abkehr der Philosophen an und von den Angelegenheiten der Lebenswelt. Ausdruck davon sei die Höherstellung der Vita contemplativa über die Vita activa.[viii]
Arendts philosophische Hauptwerk, The Human Condition (1960) stellt eine Generalabrechnung mit der Neuzeit dar. Anders als für Marx ist für Arendt die Freisetzung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit, der Wachstumsprozess gesellschaftlichen Reichtums überhaupt nur möglich, „wenn die Welt und die Weltlichkeit des Menschen ihm zum Opfer gebracht werden“ (Arendt, 1992, 250). Arbeit ist für Arendt grundsätzlich weltlos. Sie sei nicht imstande eine Wirklichkeit zwischen den Menschen zu schaffen. „Welt“ ist für Arendt der Gegenbegriff zu den Atomisierungs- und Funktionalisierungstendenzen moderner Massengesellschaften, in denen die Möglichkeiten menschlicher Begegnungen und Austausch über öffentliche Angelegenheiten durch die Zwänge der Arbeits- und Konsumgesellschaft eingeschränkt werden. Freiheit lässt sich für Arendt aber nicht im Rückzug aus dem öffentlichen Raum, noch durch die revolutionäre Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse, sondern nur im kommunikativen Austausch mit anderen ermöglichen. Der Sozialismus oder auch der Staatskapitalismus sind für Arendt keine Alternativen zum Kapitalismus. Für sie ist es „ein und dieselbe Bewegung“, die der Ausbeutung (Arendt, 1998, 108), ein „Prozess der Enteignung“ (Arendt, 1994, 118).
Historisch ist der Totalitarismus auf dem Boden einer Massendemokratie entstanden. Der in modernen Gesellschaften angelegte Privatismus wie die Entpolitisierung der Bevölkerung durch die Vorherrschaft hochbürokratisierter Verwaltungen, Verbände, Parteien und Parlamente, führt, wie Arendt in ihren Totalitarismus Studien ausführt, zur Mobilisierung der Unpolitischen. Immer da, wo Arendt totalitäre Massenbewegungen zu erklären sucht, spielt die Kategorie der „Weltentfremdung“ eine zentrale Rolle. Mehr als unter dem materiellen Elend, hätten die Ressentiment erfüllten Individuen unter dem Verlust der Beziehung auf eine gemeinsame Welt gelitten. „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit.“ (Arendt 1986: 729)[ix].
Wie aktuell ist Arendt?
Arendts Vita activa gilt als Höhepunkt ihres philosophischen Schaffens und sie selbst als politische Philosophin der griechischen Antike mit nostalgischen antimodernistischen Zügen. Die US-amerikanische Professorin für Politische Philosophie Seyla Benhabib an der Yale-University stellt mit Elisabeth Young-Bruehl (Arendt, 1998, 11)[x] diese Sichtweise in Frage. Die besondere Aktualität Arendts ergebe sich nach Benhabib aus ihren Analysen der Moderne wie sie sie vor allem in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickele. Bereits als Autorin von Rahel Varnhagen entdeckt sie, so Benhabib, dass die „Dialektik der Moderne der Spannung zwischen politischer Gleichheit und den soziokulturellen, ethnischen, religiösen, sprachlichen (und problematischer noch, geschlechtsspezifischen) Formen der Differenz andererseits“ (13) innewohne. Rahels Haltung zur Judenfrage war typisch für einen Teil des gebildeten deutschen Judentums. Doch die nicht-wahrgenommene und umgedeutete Geschichte „rächt“ sich, indem sie zum individuellen Schicksal wird. Da das Judentum Rahel zum „besonderen Unglück“ wird, trifft es sie „doppelt und zehnfach“, spezialisiert, konzentriert sich ganz auf ihre Person, wird ihr individuelles Schicksal, so unentrinnbar wie ein Buckel oder ein Klumpfuß,“ notiert Arendt (Arendt, Bonn 2006, 211)[xi].
Wie für schon für Sigmund Freud, Theodor W. Adorno oder für Andreas Reckwitz, ist die Moderne auch für Hannah Arendt, kein widerspruchsloser Prozess. „Die universalistischen Versprechen der Aufklärung, der verschiedenen bürgerlichen Revolutionen, der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte standen wiederholt in einem Spannungsverhältnis zu den Formen partikularistischer Identität“, (13) bemerkt Behabib. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts führten diese soziokulturellen Paradoxien, unter denen besonders die Juden litten, zu ihrer Auslöschung. Arendt rückt als Theoretikerin der politischen Moderne die Paradoxien von Gleichheit und Differenz wiederholt ins Zentrum ihres Denkens und nimmt wichtige Anliegen heutiger Minderheitenpolitik vorweg, wenn sie in einem Interview mit Günter Gaus sagte: „Wenn man als Jude angegriffen wird muss man sich als Jude verteidigen.“[xii]
Arendt hat sich – mit ihren Analysen zum Charakter des totalitären Regimes, zum Antisemitismus und Rassismus, zum Flüchtlingswesen usw. – Bereichen zugewandt, die für einen Teil der Linken mit seiner Tendenz zum Ökonomismus und zum Klassenreduktionismus lange tabuisiert waren. In Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft beschreibt Arendt jene totalitäre Dynamik des 20. Jahrhunderts, die menschliche Wesen überflüssig macht: die durch den Imperialismus verursachte Krise des Nationalstaates und die totalisierende Einstellung in der Politik. Die US-amerikanische Politologin Nancy Fraser erkenne heute darin, so Meints-Stender, eine „pro-totalitäre“ Tendenz in den Widerspruchsstrukturen der unter dem Druck neoliberaler Globalisierung stehenden westlichen Gesellschaften: den „Zusammenhang von neoliberaler Globalisierung, Armutsmigration und Produktion von Illegalität“ (256). „Eine der post-Arendtschen Entwicklungen“, betont Fraser, bestehe in einem „wiederauflebenden Interesse am Kosmopolitismus“, ein anderer Grundzug sei die „neue Wertschätzung der Pluralität“, einschließlich solcher, die „mit Geschlecht, Sexualität und Multikulturalismus verbunden“ (Fraser 1994, 76f)[xiii] seien. Ergebnis dieser Veränderungen sind Abwehrreaktionen von Einheimischen wie wir sie in allen westlichen Länder gegenwärtig erleben. Die heutigen politischen Konfliktlinien – autoritärer Nationalismus versus liberalem Kosmopolitismus – sind ein Ausdruck dieser Tendenz.
Die Aktualität Arendts liegt heute, folgt man Meints-Stender, auch dort, wo ihre linken Gegner Arendt nie vermutet hätten. Arendt sei eine Kritikerin der sozialen Exklusion. Mit dem Begriff der Überflüssigkeit lasse sich Arendt in eine kapitalismus- und globalismuskritische Perspektive stellen. Die „neuzeitliche Weltentfremdung“ habe nach Arendt „den Gang und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bestimmt, weil die ökonomisch und technizistisch verengten Wachstumsprozesse gesellschaftlichen Reichtums die ‚Welt‘ und die ‚Weltlichkeit des Menschen‘“ vernichteten (254). Die Reduktion menschlichen Lebens auf Arbeit, auf das „bloße Leben“ im Sinne der materiellen Reproduktion sei Folge dieser Entfremdung und das, was Arendt Arbeitsgesellschaft nennt. Arendt kritisiert gesellschaftliche Verhältnisse, in denen das Ökonomische dominiert und in der die Möglichkeit des Handelns im öffentlichen Raum beschädigt wird. Für Arendt ist die Verschränkung von Sozialem und Politischem als Kolonisierung der Politik durch die Gesellschaft zu denken. Sie fordert ihre strikte Trennung. Für Hegel und Marx reicht Arbeit noch über ihren unmittelbaren Zweck hinaus, sie ist Medium des Selbstbewusstseins und der sozialen Anerkennung.
„Im Überflüssigmachen von immer mehr Menschen“ habe Arendt „die größte Gefahr und das größte Übel der modernen Gesellschaft“ gesehen (254), bemerkt Meints-Stender. Schon vor dem Ersten Weltkrieg bevölkerten Staatenlose Europa. Staatenlose verkörpern für Arendt die Paradoxien des Nationalstaates und der „Aporien der Menschenrechte“. Nach Arendt ist die „Weltlosigkeit“ der „Überflüssigen“ als Zustand der Nichtzugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen, eine Form der Barbarei, auf die sie mit der Forderung nach einem einzigen Menschenrecht antwortet: dem „Recht, Rechte zu haben“ – von Geburt an. Gegen die Produktion von Überflüssigen und Staatenlosen müsse die Staatsbürgerschaft aus der Verklammerung von Nation, Ethnos und Staat gelöst und eine „transnationale Staatsbürgerschaft, die jedem Menschen das Anrecht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen“ ermöglicht (257), garantiert werden. „Gegen essentialistische Identitätskonzepte im Bereich des Politischen“, meint Meints-Stender, postuliere Arendt „ein Konzept von Bürgerrechten, das universelle Menschenrechte politisch“ (258) garantiert. Arendt war strikt gegen jeden Nationalismus, auch den jüdischen. Sie wandte sich gegen jede Art von Stammesdenken. Antiuniversalismus oder Kulturrelativismus, findet man bei ihr nicht. Damit weist Arendt sich mit Kant als Humanistin und Universalistin aus.
Essentiell ist für Arendts Vorschlag allein das republikanische Motiv einer weltweiten Bürgergesellschaft. Was unter der von ihr angestrebten Weltbürgerschaft zu verstehen ist, bleibt offen. Trotz aller Schwierigkeiten hat sich die Situation der Menschenrechte sehr zum positiven geändert und Arendts Einwände ein Stück entkräftet. Inzwischen sind sie – trotz aller Verletzungen – zu einem global anerkannten normativen Maßstab bis hin zu einer Menschenrechtsjurisdiktion geworden. Der Einzelne verfügt jetzt innerhalb der Völkerrechtsordnung nicht mehr nur als Mitglied eines Staates, sondern als Mensch den Status eines „partiellen“ Völkerrechtssubjekts. Inzwischen wird auch von multilateralen „Global Governance“-Institutionen, wie z.B. der IWF, die WTO und die NATO nicht nur die Einhaltung von Menschenrechtsnormen erwartet, sondern auch eine Propagierung solcher Normen. Der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonversation bestätigt diese Entwicklung“. Gleichzeitig beeinflusst die internationale Menschenrechtspolitik der globalen Zivilgesellschaft den Kampf für Menschenrechte innerhalb der Staaten. Insbesondere „die transnationale Frauenrechtsbewegung hat sich die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu Nutze gemacht“ (Benhabib, 2016, 275). Diesen Trend zu globalen Rechten, fordert Gosepath, gelte es „auszubauen“ (286).
Arendts Methode: Denken ohne Geländer mit und ohne Aristoteles und Heidegger
Arendt ist in ihrem politischen Denken eine Einzelgängerin geblieben. Sie sah sich weder als Sozialistin, Kommunistin, Liberale noch als Konservative. Sie stehe „nirgendwo“ (Arendt, 1996, 109). Sie war der Meinung, „dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte, und erst anschließend beginnen sollte, von den anderen zu lernen“ (Arendt, 1998, 111). Vor allem lernte sie von Aristoteles und Heidegger Arendts Begriff des Politischen, darauf macht der Philosoph Otfried Höffe aufmerksam, weiche, entgegen Habermas Auffassung, vom aristotelischen ab. Alle „strategischen Elemente an der Politik, ebenso die ökonomischen und gesellschaftlichen Bezüge“ fehlten nicht bei Aristoteles, „bloß bei seiner Interpretin“ (Höffe, 1993, 21). Bei Arendt werde zum entscheidenden Element, was bei Aristoteles gar nicht vor komme: die Dimension des Interpersonalen (Höffe 19). Als Schülerin von Heidegger hat sie den Bruch mit der Tradition des philosophischen Denkens mitvollzogen. Sie hält an der Einsicht fest, dass der Weltbezug des Menschen primär kein erkennend-theoretischer, sondern ein besorgend-handelnder ist. Mit ihrem Denken bleibt Hannah Arendt im Bann Heideggers, von dem sie immer wieder eingeholt wird. Bis zum Schluss. Als 1960 Vita activa erscheint, schickt sie Heidegger ein Exemplar und schreibt im Begleitbrief: „Es ist unmittelbar aus den Marburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles“ (zit. E. Ettinger, 1994, 122)[xiv].
Aufgrund des Totalitarismus, den sie mit dem Begriff des Traditionsbruchs übersetzt, lehnt sie methodische Überlegungen sowie die Politikwissenschaft ab. Sie bezeichnet sich selbst als „Perlentaucherin“ oder „Sammlerin“ und praktiziert die „Fragmentierung“ (Walter Benjamin) als Methode. Historiker haben immer wieder vehemente Vorwürfe gegen Arendts Umgang mit Geschichte vorgebracht, in denen besonders die mangelnde historische Sorgfalt kritisiert wird. Nach Meinung von Seyla Benhabib mangelt es in Arendts Werk an der Aufstellung von Kategorien, während gleichzeitig ziemlich viele Regeln verletzt werden. Es sei oft überinterpretiert, zu anekdotisch, narrativ und ideographisch, um als sozialwissenschaftlich zu gelten. Für eine journalistische Arbeit sei es wieder zu philosophisch. Die seit 1988 in der Hannah-Arendt-Forschung tätige Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Nordmann wiederum betont das „Konstruktionsprinzip“ Arendts, „das sichtbare und verborgene Bedeutungsschichten kunstvoll miteinander“ verfuge. Arendt arbeite mit philosophischen Begriffen, „aber nicht, um sie wiederzubeleben, sondern um sie zu dekomponieren und neu zusammenzusetzen“. Dabei entstünden „vielschichtige Gedankenfiguren, die sie in ihrem Benjamin-Portrait als Kristallisationen“ bezeichnet habe (Nordmann, Berlin 2007, 199)[xv]. So bleibt Arendt eine umstrittene Persönlichkeit, die einerseits als „eine der großen Frauen des 20. Jahrhunderts“ (Hans Jonas) bezeichnet und andererseits zur politischen Journalistin und literarische Essayistin degradiert wird, die zu übertriebenen Kommentaren ihrer Zeit – betrachtet durch die Brille einer längst vergangenen Zeit – neigt.
Freiheit ist mehr als die Freiheit zu wirtschaften
Hannah Arendt ist nicht nur eine große politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine öffentliche Person, die bereit war in finsterer Zeit Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Sie hat das erlebt wovon sie spricht. „Was heute auch an ihr fasziniert“, notiert Ralf Fücks, „ist vor allem ihr ‚Republikanismus‘, ihr spezifisches Verständnis von Politik als einer Sphäre der Freiheit“ (Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? 2007, 9). Arendt beharre mit Recht darauf, insistiert Habermas, „dass die technisch-ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch-politische Sicherung der öffentlichen Freiheit“ bedeute (Habermas, 1981, 239). In späteren Äußerungen, wie in der Diskussion in Toronto (1972), zeigt sich, dass Arendt nicht der Auffassung war soziale Fragen seien nicht von Bedeutung. Vielmehr war sie mit Friedrich Engels der Meinung, dass die „Verwaltung der Sachen“ eine Notwendigkeit darstelle. Arendt betonte die Bedeutung von Besitz für „Möglichkeiten für die Freiheit“ (93) und regte Besitzbildung an. So sollte es keine Diskussion darüber geben, dass jedem eine anständige Wohnung gebührt“ (91). Letztlich sei es die „moderne Technik“, der wir die Freiheit von der Notwendigkeit zu verdanken hätten (90f., 100).
Die der aristotelischen Vorstellungswelt entlehnte Entgegensetzung zwischen dem Politischen und dem Sozialen halte ich, wie die Politikwissenschaftlerin Rahel Jaeggi, nicht für zwingend. Man kann sie auch als eine Unterscheidung verstehen, „die sich weniger auf Gegenstandsbereiche als vielmehr auf den Modus der Thematisierung von Fragen bezieht“, die das „gemeinsame Zusammenleben betreffen“ (Jaeggi, 2007, 242)[xvi]. Dinge, die „wirklich errechnet werden können“, so Arendt in Toronto 1972, seien „im allgemeinen soziale Dinge“
(Arendt, 1996, 90). Sie sollen durch die Verwaltung erledigt werden. Manche soziale Fragen hätten „zwei Gesichter“. Die Frage, ob „angemessener Wohnraum im Zeichen der Integration stehen sollen oder nicht, sei mit Sicherheit eine politische Frage“. Aber „das eine sollte nicht diskutiert werden – es solle keine Diskussion darüber geben, dass jedem eine anständige Wohnung gebührt“ (91). Man könnte dies ergänzen, dazu gehört heute auch gute Luft, eine saubere Umwelt, gesunde Nahrung und Klima, eine gute Gesundheitsversorgung wie ein vernünftiges Grundeinkommen. Arendt geht es nicht darum, Bereiche wie „der Ökonomie aus dem Bereich des Politischen auszuschließen“, sondern „Fragen des gemeinsamen Lebens von denjenigen abzugrenzen, die sie als genuin politische Weise der Gestaltung der gemeinsamen Lebensbedingungen und damit als elementare Voraussetzung menschlicher Freiheit versteht“ (Jaeggi, 2007, 244).
In einem in Deutsch erst 2018 veröffentlichten Essay Die Freiheit, frei zu sein, zeichnet Hannah Arendt die historische Entwicklung des Freiheitsbegriffs nach. In ihrem Vergleich der beiden großen Revolutionen zeigt sie, „nicht nur, dass die Überwindung der Armut eine Voraussetzung für die Begründung der Freiheit ist, sondern auch, dass die Befreiung von der Armut etwas anderes ist als die Befreiung von politischer Unterdrückung“. Sie macht deutlich, dass ein „gewaltsamen Vorgehen gegen die sozialen Verhältnisse stets zu Terror“ und zur Deformation der Revolutionen geführt hat. Gleichwohl behalte das „ursprüngliche Ziel der Revolution“, die „Zulassung aller zum öffentlichen Bereich sowie ihrer Beteiligung bei der Verwaltung der Angelegenheiten, die alle betreffen“, sowie der „menschliche Wunsch, die Menschheit von den Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren“ (34), nach wie vor seine Gültigkeit. „Was Amerika mit viel Glück“ gelungen sei, so Arendt weiter, könnten „viele andere Staaten – aber vermutlich nicht alle – heute mithilfe kalkulierter Bemühungen erreichen“. Dies erlaube uns, „die Lehren der deformierten Revolutionen zu berücksichtigen und dennoch weiter an ihrer unabweisbaren Größe, aber auch an dem ihnen innewohnenden Versprechen festzuhalten“ (35).
Der Sinn der Politik besteht für Arendt nicht allein in der organisatorischen Bewältigung von Lebensnotwendigkeiten. Sie hat nicht der Ökonomie, dem Recht, der Kultur usw. zu dienen, sondern umgekehrt; indem sie die Menschen von der Sorge um das schiere Überleben freisetzt und somit zu politisch freiem Handeln befähigt. Diese Art von Freiheit wird heute von vielen Seiten reklamiert – nicht nur befreit zu sein von Unterdrückung, sondern Teilhabe und Mitbestimmung, als politisches Subjekt wahrgenommen und gehört zu werden. Dennoch darf der Blick, dass Menschen nur dann in der Öffentlichkeit aktiv werden können, wenn sie ökonomisch abgesichert sind, nicht verloren gehen. Eine politische Republik ist ohne eine republikanische Wirtschaft im Sinne der US-amerikanischen Politikwissenschaftlern und Kritikerin Arendts, Judith N. Shklar (Shklar, 67)[xvii], nicht denkbar. Das war auch eine Einsicht von Marx, dass das Problem der Freiheit in die soziale Beziehung eingebettet sein muss. Mit anderen Worten: Freiheit, die mit der politischen Demokratie und den Grundrechten verbunden ist, und die Lösung der sozialen Frage gehören zusammen oder wie Habermas es formuliert: „Unter Bedingungen sozialer Abhängigkeit bleibt das beste Recht auf politischer Freiheit Ideologie“ (Habermas, 1981, 227).
Arendt verweist mit gutem Grund darauf, dass Wohlstand und die alleinige Verfolgung von Privatinteressen nicht mit Emanzipation von Herrschaft zusammenfallen. Heute ist die errungene Freiheit vor allem eine Freiheit der Märkte, die zu massiver Ungleichverteilung, Umweltzerstörung und Klimawandel führt. Arendt sieht besonders im Überhandnehmen der reinen Verwaltung, in den Bürokratien und Parteistrukturen eines der Probleme der repräsentativen Demokratie, die privatistische Lebensformen verfestige und eine Mobilisierung der Unpolitischen, d.h. eine totalitäre Herrschaft sozialpsychologisch erst möglich mache. Als Theoretikerin der Revolution hoffte Arendt auf das „große rettende Ereignis“, das einer Entwicklung, die mit der Neuzeit begonnen habe ein Ende bereitet: „das Überhandnehmen der reinen Verwaltung“, das „Aufkommen der riesigen Parteiendemokratien“ (Arendt, 1994, 81) und damit die „Entmachtung der Staatsbürger inklusive der Parteimitglieder“ und „den damit verbundenen Praxisbezug“ (80f). Vertrauen in die parlamentarische Demokratie mit ihren Parteien und mächtiger Bürokratien hatte sie keine. Hier sei man nur „Stimmvieh“ (Arendt, 1994,132). Ihr aristokratischer gemeinsinnorientierter Republikanismus stellt eine ausdrückliche Gegeninstanz zur modernen parlamentarischen Demokratie dar. Habermas beurteilt Arendt und Karl Jaspers als zwar elitär, aber gleichzeitig radikaldemokratisch (Habermas, 1981, 236). Der Fehler von Arendts radikaldemokratischen Konzept ist der aristokratische Republikanismus, der den Vorrang der Tugend vor dem Recht behauptet und der Idee der Aufhebung der Idee der gleichen Rechte. Die Verklärung der Räte drückt möglicherweise, mit Blick auf die Erfahrungen des Totalitarismus, die Überzeugung aus, dass Humanität und Verantwortung nur von einer geistigen Elite ausgehen kann.
Die Wende zur Vita contemplativa
Als „unerschrockene Radikaldemokratin“ mit „unverkennbar elitärer Mentalität“ (Habermas, 236), ist sie an „emanzipatorischen Bewegungen interessiert“, insofern diese den Gehorsam gegenüber Institutionen aufkündigen, die ihre Legitimität eingebüßt haben (237f). Was Menschen in den Augen Arendts für totalitäre Bewegungen anfällig macht ist ihre Verlassenheit. Arendt beließ es deshalb nicht bei der Gegenüberstellung von Demokratie und Totalitarismus. Auch sie bewertete, ähnlich wie die 68er, die „Demokratie der Nachkriegszeit wie die Moderne insgesamt sehr kritisch als Massengesellschaft, die die Grundlagen der totalen Herrschaft bereits in sich“ trage (Heuer, 1996, 116f.)[xviii]. Die heutigen Konsumgesellschaften zeichneten Arbeit als die am höchsten bewertete und zugleich unfreieste Tätigkeit aus. Was die Zukunft der Demokratie in den modernen Gesellschaften betraf war sie eher pessimistisch.
Arendt schrieb und dachte im Schatten der krisenhaften Erscheinungen ihrer Zeit, des Versagens der noch jungen liberalen Ordnung der Weimarer Republik und der darauf folgenden Katastrophen, welche sich als Jüdin bei ihr tief einprägten. Sie war ein Kind des Zeitalters der Extreme, ihrer Krisen und Umbrüche, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, des Zusammenbruchs der bürgerlich-liberalen Ordnung, des Aufkommens der faschistischen und kommunistischen Bewegungen, des Sieges der Barbarei und des Untergangs des alten Europas. Ihr Vertrauen in die Vernunft der Menschen als auch in die Stabilität von parlamentarischen Demokratien war angesichts ihrer Erfahrungen gering. Paradoxerweise setzte sie nach 1945 erneut auf die Intellektuellen, die sie vor 1933 schon einmal enttäuscht hatten. Damit leitete sie eine unausgesprochene Transformation ihrer Handlungstheorie und politischen Ethik ein: zum Lob der Vita contemplativa. Sie überwand ihren verengten Handlungsbegriff und ihre Einengung des Politischen auf das Praktische, den es so, auch bei Aristoteles, wie Ottfried Höffe zeigt, nicht gibt. Bei Aristoteles hat auch das Denken Praxis-Charakter. Handeln sogar in Höchstform ist Theorie (Höffe, 1993, 19)[xix].
Arendt war überzeugt, dass Humanität und Verantwortung nur von einer geistigen Elite ausgehen könne. Anfang der 60er Jahre macht sie sich auf die Suche nach dieser Elite. Einige davon glaubte sie in der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ gefunden zu haben. Ein Kreis von junger Menschen, deren hohe wissenschaftliche oder künstlerische Begabung und deren Persönlichkeit besondere Leistungen im Dienste der Allgemeinheit erwarten lasse und den sie später als kritische Öffentlichkeit beschreibt. Nicht Gleichwertigkeit, sondern Überlegenheit des Betrachtens über das Handeln ist das Thema ihres Alterswerks. Sie zitiert immer wieder Pythagoras: „Das Leben [...] ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschauer, und genauso ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit“ (Beiner, 1985, 75)[xx]. Ein Grund, warum Arendt so viel Hoffnung in die 68er als zukünftige geistige und politische Elite setzte. Die westliche Welt durchlief Ende der 60er Jahre einen „tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel“ in dessen Verlauf sich „die klassische, die industrielle Moderne, in eine neue Form der Moderne verwandelte“, die der Soziologe Andreas Reckwitz „Spätmoderne“ (Reckwitz, 2019, 17)[xxi] nennt. Einher damit ging die Erosion des sozialdemokratisch-korporatistischen Konsenses, der „Abschied vom Proletariat“ (André Gorz), eine Bildungsexplosion, die „stille Revolution“ eines Wertewandels, der Aufstieg der revoltierenden Studierenden in der nachfordistischen Informationsgesellschaft und eine Zug um Zug sich durchsetzende Liberalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Liberalismus, „der den Neoliberalismus zwar“ einschließe, aber „nicht mit ihm deckungsgleich ist“ (Reckwitz 2018, 375)[xxii] betont Reckwitz. Wissen, Universität und Kreativität lösten die Industrie, die Fabrik und den Unternehmer als innovative Kraft ab. Nicht der Bourgeoise, auch nicht der Arbeiterklasse seien heute die enormen Produktionssteigerungen zu verdanken, sondern der von der Konservativen Revolutionären schon immer verachteten und bekämpften Akademikerklasse, den Wissenschaftlern, die in der Wissensökonomie Beschäftigten, die Reckwitz als „Neue Mittelklasse“ bezeichnet. Hannah Arendt notiert in ihrem Essay Macht und Gewalt vorausschauend dazu:
„Sie haben in wenigen Jahrzehnten die Welt und die menschlichen Lebensbedingungen bis zur Unkenntlichkeit verändert und bilden heute die wahre Elite der modernen Welt, die einzige Schicht in ihr, die für ihr Weiterfunktionieren schlechthin unerlässlich ist. [...] Es ist oft rührend zu sehen, wie die rebellischsten unserer Studenten, von denen schließlich eine beträchtliche Anzahl dieser Elite zugehören wird, sehnsüchtig darauf warten, dass ihre Revolution von den traditionell gesinnten Schichten der Gesellschaft unterstützt werden wird. [...] die wirklich neue und potentiell revolutionäre ‚Klasse‘ wird aus Intellektuellen bestehen; ihr Machtpotential ist sehr groß, auch wenn sie noch keinen Gebrauch davon gemacht haben, größer vielleicht als uns lieb sein sollte“ (Arendt, 1994, 73).
Heute werden die Angehörigen dieser neuen Mittelklasse, Intellektuelle, Akademiker, Wissenschaftler, ebenso die Wähler von Bündnis 90/Die Grünen, von den Rechtsnationalisten, wie auch von Sahra Wagenknecht, als „urbane Akademikerklasse“, „Life-Style-Linke“ oder als „neue urbane Elite“, „Menschen aus der Wirtschaft, der Politik, dem Unterhaltungs- und Kulturbetrieb – und vor allem die neue Spezies der digitalen Informationsverarbeiter“ – als „Kosmopoliten“ oder „Globalisten“ beschimpft. Ihre „Bindung an ihr jeweiliges Heimatland“ sei „schwach“ (Gauland)[xxiii]. Sie seien überall zu Hause und stünden im Bündnis mit dem Neoliberalismus. Auf diese Weise werden Neid und Hass der „normalen“ Menschen gegen die „Bessergestellten“ mobilisiert. Arendt warnte auch vor den gefährlichen Früchten des wissenschaftlichen Geistes. Wissenschaft dürfe nicht wertfrei betrieben werden. Eine Mahnung, die nicht aktueller sein könnte, wenn man sich die „alternativen Wissenschaftler“ im Kampf gegen Covid-19 vergegenwärtigt. „Die liberalen Kosmopoliten sind für die Wissenschaft und die Wirtschaft unentbehrlich“, bemerkt der Soziologe Carlo Strenger (Strenger, 2019, 118)[xxiv]. Sie bilden die Speerspitze im Kampf gegen Krankheiten, Klimawandel, Terror, Armut und ökonomischer Ungleichheit. „In dieser Hinsicht, so Strenger weiter, „können sie vielleicht als Erben jener Repräsentanten der Aufklärung gelten, die im 17. und 18. Jahrhundert einen Modernisierungsprozess entfesselten“ (35). Wegen ihrer Bildung sind gerade die liberalen Kosmopoliten dazu befähigt, den Angriffen der Rechtsnationalisten auf die Wahrheit entgegenzutreten.
In der Spätmoderne muss die Demokratie verteidigt und weiterentwickelt werden
In ihrer Schrift Macht und Gewalt aus dem Jahre 1970 macht Hannah Arendt auf „ein merkwürdiges Wiederaufleben des Nationalismus, das gemeinhin als Rechtsruck“ bezeichnet werde, aufmerksam. Dieser zeige mit „mehr Wahrscheinlichkeit aber einen zunehmenden, weltweiten Widerstand gegen die ‚Größe‘ als solche“ an. Nicht nur ethnische Gruppen, wie Walliser oder Bretonen, hätten gegen die für den Nationalstaat charakteristische Zentralisierung aller politischen und administrativen Funktionen in der Hauptstadt rebelliert, auch die amerikanischen Bundesstaaten, wie die beiden Häuser des Kongresses, gegen ihre Entmachtung durch den Präsidenten. Arendt spricht von der „Desintegration von Machtstrukturen“, ja von der „Ohnmacht der Macht“. Monopolisierung der Macht führe immer zur „Austrocknung oder zum Versickern aller lokalen Machtquellen des Landes, und damit letzten Endes zu einem offenbaren Machtverlust“ (Arendt, 1994, 84f.). Etwa zur gleichen Zeit hielt Adorno einen Vortrag über Aspekte des neuen Rechtsradikalismus an der Universität Wien in dem er, wie Arendt, auf die zunehmende (Ent-) Demokratisierung der Demokratie „durch die Integration in die großen Machtblöcke“ verwies. Soweit es sich etwa „um die Angst vor der EWG und den Konsequenzen der EWG für den Agrarmarkt“ handele, sei das Potential des „Rechtsradikalismus“, das quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt“ sei, außerordentlich stark (Adorno, 2019, 13f)[xxv]. Dem gesellschaftlich-ökonomischen Inhalt nach“ bemerkt Adorno, habe sich „die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz“ konkretisiert. Die faschistischen Bewegungen könne man als „Wundmale, als Narben der Demokratie bezeichnen, die ihrem eignen Begriff eben noch nicht voll gerecht“ (18) geworden sei. Aktuelle Krisendiagnosen, wie von Philip Manow[xxvi], Armin Schäfer und Michael Zürn oder Quinn Slobodian[xxvii] kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie Arendt und Adorno vor fünfzig Jahren. So zeigt Slobodian in seiner neuen Studie Globalisten, dass die Neoliberalisten, wie Wilhelm Röpcke, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, nur ein taktisches Verhältnis zu der parlamentarischen Demokratie hatten. Sie hätten mit Blick auf den Nationalsozialismus und Stalinismus den Einfluss der Nationalstaaten auf die Wirtschaft zurückdrängen wollen, um die Macht supranationaler Institutionen, die nicht dem schwankenden Wählerwillen unterworfen waren, zu stärken. Die globalen Märkte sollten auch nicht von globalisierter Moral gestört – sie sollten entpolitisiert werden.
Armin Schäfer und Michael Zürn suchen in ihrem Buch Die demokratische Regression (Zürn, Schäfer, 2021)[xxviii] nach einem möglichen politischen Grund für das Erstarken autoritärer Parteien jenseits ökonomischer und kultureller Erklärungsmuster. Die Autoren sehen ihn vor allem darin, dass „viele Menschen sich von den demokratischen Institutionen nicht mehr gehört und vertreten“ (Balzer, 2021)[xxix] fühlten, gerade in Ostdeutschland. Sie nennen als Hauptursachen: fast ausschließlich mit Akademikern besetzte Parlamente, die Auslagerung von Streitfragen in Institutionen wie internationale Organisationen, die nicht dem Mehrheitsprinzip unterliegen. Auch gelte es, der „technokratischen Versuchung“ zu widerstehen. Politische Fragen müssen in Parlamenten entschieden werden, nicht in Expertenrunden. Die Autoren zweifeln nicht daran, dass die politischen Probleme der Gegenwart nur auf internationaler Ebene lösen kann; und dass die autoritären Populisten kein Interesse an der Stärkung demokratischer Teilhabe besitzen. Transnationale Institutionen wie die EU oder den IWF müssten wieder stärker demokratischer Kontrolle unterzogen werden. Um die autoritären Bewegungen zu stoppen, so die Autoren, müsste man Willy Brandts Formel „Mehr Demokratie wagen“ neu denken. Trotz Demokratisierung der EU im letzten Jahrzehnt, insbesondere des Europäischen Parlaments, werden seit Jahren Stimmen aus Wissenschaft – Thomas Piketty, Ágnes Heller oder Ulrike Guérot – Politik und Wirtschaft, wie der europäischen Zivilgesellschaft, die eine Demokratisierung der EU fordern, deutlich lauter.
Ganz im Sinne von Arendt wollen die Autoren den erstarkenden Populismus mit einer Rückkehr zu mehr Demokratie bekämpfen. Dazu braucht es gut informierte Bürger – ohne digitale Teilhabe, keine soziale Teilhabe– ein starke Zivilgesellschaft wie eine effiziente bürgernahe Bürokratie, die liefert. In der Corona-Krise, insbesondere beim Impfen, hat die deutsche Bürokratie ihre Dysfunktionalität gezeigt, dass sogar CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus eine „Jahrhundertreform“, ja, eine „Revolution“ forderte. „Archaische Zustände“[xxx] bezogen auf Strukturen, Prozesse, Denkweisen und Organisationsversagen lähmen nicht nur die deutsche Bürokratie. Was man braucht ist vor allem gute Politik, eine Politik, die Bürgerinnen und Bürger mitnimmt, wie beispielsweise die direkte Beteiligung an der Energiewende. All dies erfordert nachhaltige Investitionen in Forschung, Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur, Umwelt und einen klugen Umgang mit den gesellschaftlichen Paradoxien der Spätmoderne. Das heißt, dass „neben den klassischen politischen Instrumenten wie einem guten Sozialstaat, Umverteilung und Ordnungsrecht auch ein neues Zusammenspiel der Gesellschaft organisiert“ werden muss, „eines, das auf der Basis von gegenseitiger Anerkennung bei maximaler Verschiedenheit der Positionen“[xxxi] (2021, 21) funktioniert, wie Robert Habeck das fordert.
Ob Arendt die Forderung nach Repräsentation über die nach fachlicher und moralischer Qualifikation gestellt hätte ist immerhin fraglich. Der Befund der Autoren scheint eindeutig: Eine bestimmte Politik setzt der Bundestag eher um, wenn sie von Gruppen mit höherem sozialen Status und Bildungsniveau befürwortet wird. Der Kampf um eine adäquate Repräsentation und Teilhabe war immer schon ein wesentliches Moment in der Geschichte der Demokratie. Ohne Expertise und ethischen Kompass, ohne Bündnis mit den Wissenschaften wird man aber die großen Probleme – Pandemien, Klimawandel, Digitalisierung, Biodiversität – nicht lösen können, wie dies die weltweite Bekämpfung von Covid-19 zeigt. Bei Arendt finden wir nicht die Reduktion von Macht auf Repräsentation. Mit Blick auf ihr Leben fragt sie nach den ethischen Qualitäten der Politik. Damit betreten wir das Gebiet ethischer Fragen. In seinem berühmten Vortrag Politik als Beruf (1919) unterschied der Soziologe Max Weber zwischen Politikern, die für und von der Politik leben. Der moderne und verantwortungsbewusste Berufspolitiker lebt idealerweise sowohl für als auch von der Politik. Er zeigt Leidenschaft, Fairness, Verantwortungsbewusstsein, Transparenz, Authentizität und Wahrhaftigkeit – diese Attribute gehören für Weber zum Pflichtrepertoire (Weber, 1919, 61f.)[xxxii].
Trotz Demokratiedefiziten sollte man die Bedeutung der ökonomischen, aber vor allem der kulturellen Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus, nicht unterschätzen. Fortschritt und Unbehagen liegen dicht beieinander. Die Moderne hat schon immer ihre eigene Opposition hervorgebracht. Die Erfolgsgeschichte der gesellschaftlichen Liberalisierung seit 1968 hat ihre Kehrseite und ihre Widerstände. Diese Phänomene sind, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash formuliert, Teil einer „antiliberalen Konterrevolution“, die „nicht von allein wieder abebben“[xxxiii] werde. So gesehen ist der Aufstieg des Rechtsnationalismus der Versuch einer Konterrevolution gegen die Errungenschaften von 1968, der in den USA mit dem gescheiterten Sturm auf das Capitol, noch nicht besiegt ist. Dies macht deutlich, dass das Tempo der Modernisierung in der Spätmoderne Menschen für autoritäre Modelle anfällig macht, wie Andreas Reckwitz in seinem Buch Das Ende der Illusionen analysiert. Wir müssten lernen, so Reckwitz, „die Spätmoderne als eine widersprüchliche, konflikthafte Gesellschaftsformation zu begreifen, die durch eine Gleichzeitigkeit von sozialem Aufstieg und Abstieg sowie Gleichzeitigkeit von kultureller Aufwertung und Entwertung charakterisiert ist – am Ende durch Prozesse der Polarisation. Genau dies macht sie explosiv“ (Reckwitz, 2019, 19). Dazu passt, dass Joe Biden nun ein aus Steuern von Unternehmen und Reichen finanziertes Investitionsprogramm auflegt, das sich von den Grundzügen der US-Wirtschaftspolitik seit der Ära Reagan vor 40 Jahren unterscheidet. Biden weiß sich im Kampf gegen den weltweit sich ausbreitenden Autokratismus.
In der dynamisch sich entwickelnden Moderne ist die Demokratie immer bedroht, um muss deshalb verteidigt und weiterentwickelt werden muss. Das können wir von Hannah Arendt lernen.
Pluralität ist die grundlegende Kategorie in Arendts Werk. Mit ihr beschreibt sie die soziale Grundstruktur moderner Gesellschaften. Sie ist eng mit den demokratischen Institutionen und dem toleranten Denken verbunden. Der Pluralismus ist Ausdruck des Individualisierungsprozess der Moderne, ein Prozess, der auch heute wieder weltweit zu Erosion kultureller Blöcke und Klassen führt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war das Individuum noch einem starken Homogenisierungsdruck ausgesetzt. Der Wertepluralismus entstand im 19. Jahrhundert zeitgleich mit dem Nationalismus – der seinerseits versucht, die Gesellschaft zu homogenisieren und dabei auf rassistische Abwege geriet und nach Auschwitz führte. Arendt skizzierte hellsichtig Mitte des letzten Jahrhunderts den Pluralismus als soziale Grundstruktur moderner Gesellschaften, wie er sich angesichts der Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts global und lokal als interkulturelles Phänomen durchgesetzt hat. Für die Spätmoderne wird dies von Andreas Reckwitz mit dem Begriff der Singularisierung umschrieben. Da zwischen den Menschen keine Homogenität besteht, müssen sie lernen miteinander zu leben, zu sprechen und ihre Interessen abklären. Ein „Wir“ existiert nur im Plural. Es ist Arendts Verdienst, dass sie die Idee der Politik mit dem Begriff der Vielheit identifiziert und ihn dadurch von dem Begriff ethnische Homogenität abgrenzt. Die Stärke ihrer Idee der öffentlichen Freiheit besteht in dem Begriff einer kommunikativen Macht und ihrer klaren Ablehnung eines Herkunftspartikularismus. Politik als zukunftsoffenes modernes Projekt, das niemanden ausschließt. Der Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorf sieht bei Arendt in dem an Kant orientierten Begriff der Menschenwürde den „archimedischen Punkt“[xxxiv] einer politischen Ethik, wenn Arendt postuliert, dass der Mensch niemals bloß Mittel, sondern höchster Zweck sei. Heute ist Arendts Plädoyer für die Freiheit und Pluralität wichtig, weil es ein Bollwerk gegen den Populismus darstellt. Auch gegen den von Links.
Als Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 in New York starb war die Bundesrepublik gerade 26 Jahre alt. Mit dem Grundgesetz und der sozialen Marktwirtschaft wurden die Lehren aus 1933 gezogen. Arendt erlebte mit den Ereignissen von 1968 zwar noch den hoffnungsvollen Beginn der Demokratisierung und Liberalisierung und den Anfang der Bürgerinitiativen, aber nicht mehr die Gründung der Grünen und die weitere Demokratisierung Deutschlands hin zu einer stabilen liberalen, sozialen und deliberativen Demokratie mit ihrer engagierten Zivilgesellschaft. Auch nicht die weitere Demokratisierung Europas (EU). All dies hat ganz im Sinne Arendts dazu beigetragen, die von ihr kritisierten Elemente horizontaler Politik, zu überwinden und den Verführungen totalitären Denkens zu widerstehen. Eine starke Zivilgesellschaft vermag den Staat davon abzuhalten, die Gesellschaft als Ganzes zu dominieren. Somit ist sie auch ein Gegengewicht zu Staat und Markt. Gleichzeitig verhindert die Zivilgesellschaft eine Atomisierung der Gesellschaft durch Marktkräfte und eine Dominanz isolierter Einzelinteressen. Gleichwohl sind wir hier längst nicht am Ende.
Ihr Lebensthema war die Analyse von Gesellschaften in Umbrüchen. So viel Umbruch und Ungleichzeitigkeiten wie heute waren selten. Syrien, eine weltweite Pandemie, Sterbende Wälder, ein Putschversuch in Washington, der Aufstieg Chinas zur Weltmacht Nr.1. Wir erleben heute die sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Folgen einer neoliberalen Hyperglobalisierung. Die Klimakrise verlangt von allen einen großen Um- und Aufbruch. Die Epoche des Neoliberalismus und des entgrenzten Individualismus scheint ökonomisch und ökologisch an ihr Ende gelangt – die Zukunft ist offen. „In Karlsruhe“, so Bernd Ulrich, „wurde das höchste Gut der Gesellschaft neu definiert: die Freiheit. Ökologischer blinder Liberalismus, nur aufs eigene Wohl bedacht, ist gegen das Grundgesetz“[xxxv]. Es wäre interessant zu wissen, was Arendt hierzu gesagt hätte. Vielleicht hätte sie Vergils Vers zitiert, in dem es heißt: Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo („aufs neue hebt an die große Folge der Zeiten“). Vergil spricht hier von einer großen, aber nicht von einer neuen Ordnung. In ihrem Essay Die Freiheit, frei zu sein führt Arendt weiter aus: „[...] das Entscheidende an Vergils Vers“ sei die „Tatsache, dass er einer Geburtshymne“ entstamme, [...] „die die Geburt als solche preist, die Ankunft einer neuen Generation, das große rettende Ereignis [...] Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind“. Die menschliche Gebürtlichkeit, so Arendt, sei die „ontologische conditio sine qua non aller Politik“ (Arendt, 2018, 35). Um nichts anderes ging es dem Gericht. Die durch FFF in Gang gesetzte ökologische Revolution in ihr Recht zu setzen und so die Freiheitschancen der jüngeren Generation zu sichern. Zu wenig Klimaschutz ist illiberal und bedroht die Freiheit künftiger Generationen. Dieses Urteil revolutioniert den ökologisch blinden Freiheitsbegriff. Freiheit endet zukünftig da, wo der exzessive Naturverbrauch und die Ausbeutung anderer und Späterer beginnt. Freiheit heißt dann, den anderen nicht die Folgen der eigenen Lebensweise aufzwingen. Freiheit ohne Verantwortung für die Welt ist das Ende der Freiheit. Hannah Arendt wusste, das soziale Leben und die moralischen Beziehungen zu anderen nehmen ihren Anfang in der Überwindung eines blinden nur auf das eigene Wohl bedachten Liberalismus.
Politik nach Arendt, kann mit Jaeggi, als „die gemeinsame Gestaltung der (gemeinsamen) Welt, sofern sie über die bloße Organisation des täglichen Lebens – Reproduktionsnotwendigkeiten individuellen wie kollektiven Lebens – hinausgeht“ (245) verstanden werden. Es betrifft die Sorge um die Welt. Die Freiheit von der Notwendigkeit – ganz im marxschen Sinne – wird zur Bedingung der Freiheit zur Politik. Das politische Handeln als Fähigkeit „einen Anfang zu machen“ beginnt wie das „gute Leben“ jenseits des Reichs der Notwendigkeit. Freiheit ist mehr als die Freiheit zu wirtschaften. Worum es Arendt als Ziel der Politik geht ist nicht nur Überleben, sondern ein „gutes Leben“ und die Übernahme von Verantwortung für die Welt. Damit formulierte Arendt einen „zeitgemäßen Liberalismus“ (Herzog, 2013)[xxxvi].
Auf der Trauerfeier charakterisierte der Studienfreund und Philosoph Hans Jonas Hannah Arendt: „Ihr aber war eine Intensität eigen, eine innere Entschiedenheit, ein Gefühl für Rang, ein Instinkt für das Wesentliche, ein Drang in die Tiefe, die ihr einen Zauber verliehen. Man empfand, dass sie unbedingt sie selbst zu sein strebte und dass sie die Zähigkeit hatte, dies trotz seiner großen Verletzlichkeit durchzusetzen.“[xxxvii] Hannah Arendt hat, in ihrem unermüdlichen Nachfragen und Nachbohren in so viele Richtungen, und nicht zuletzt in der Widersprüchlichkeit, die viele ihrer Antworten hinterlassen, etwas essentiell Sokratisches. Gerade diese Widersprüchlichkeit macht ihre Produktivität und persönliche Glaubwürdigkeit aus. Ihre Schriften sind oft Gedankenexperimente mit offenen Enden. Es scheint deshalb wichtiger, ihre Ansätze weiterzuentwickeln, als sich auf argumentative Schwächen und Widersprüche zu konzentrieren. Wie kann man lernen zu verstehen, was in der Welt von heute geschieht? Wie kann man denken und handeln?
Autor:
Bruno Heidlberger, Dr. phil., ist Studienrat für Politik, Philosophie und Geschichte mit Lehraufträgen an der TU Berlin, der MHB Brandenburg, derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Lehrveranstaltungen zu Hannah Arendt und Karl Popper. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem: Politische Philosophie, Philosophie der Aufklärung, kritischer Rationalismus, Wissenschaftstheorie und kritische Theorie der Gesellschaft. Er ist Verfasser von Essays und Rezensionen in philosophischen, psychologischen und politischen Fachzeitschriften, u.a. Aufklärung & Kritik, Widerspruch (München), Zeitschrift für politische Theorie (München), Philosophischer Literaturanzeiger, psychosozial und auf PW-Portal und dem Blog starke-meinungen.de. Jüngste Buchpublikation: Wohin geht unsere offene Gesellschaft? 1968’ – Sein Erbe und seine Feinde (Berlin 2019).
Bei Gegneranalyse finden Sie seine Rezension zu dem Buch von Cornelia Koppetsch: „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.“
[i] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1974.
[ii] Hannah Arendt: Hannah Arendt: Diskussionen mit Freunden und Kollegen in Toronto (1972), in: Ich will verstehen, München 1996.
[iii] Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.
[iv] Jürgen Habermas: Philosoph-politische Profile, Frankfurt am Main 1981
[v] Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 19949
[vi] Adalbert Reif: Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979.
[vii] Hannah Arendt: Vita aktiva oder vom tätigen Leben, München 1992.
[viii] Das mag für Platon, Hobbes und für Rousseau gelten, aber nicht für Thomas von Aquin, für Marsilius, für Locke und für Montesquieu; „es gab eine Tradition des politischen Aristotelismus seit dem späten 13. Jahrhundert und hat im englisch-amerikanischen Bereich bleibende Wirkungen gezeitigt“, Dolf Sternberger, Schriften Bd. IV, Frankfurt am Main, 1980, S. 173.
[ix] Hannah Arendt: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, München 1986.
[x] Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998.
[xi] Hannah Arendt: Rahel Varnhagen: Aus dem Judentum kommt man nicht heraus, in: Denken ohne Geländer, Bonn 2006.
[xii] Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, 28.10.1964, https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html.
[xiii] Nancy Fraser: Hannah Arendt im 21. Jahrhundert, in: Politik und Verantwortung, Hrsg. Waltraud Meints, Katharina Klinger, Hannover, 1994.
[xiv] Elzbieta Ettinger: Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Geschichte, München 1994.
[xv] Ingeborg Nordmann: Die Vita activa ist mehr als nur praktische Philosophie, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[xvi] Rahel Jaeggi: Die im Dunkeln sieht man nicht. Hannah Arendts Theorie der Politisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[xvii] Judith N. Shklar: American Citizenship. The Quest from Inclusion, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1991.
[xviii] Wolfgang Heuer: Zwischenmenschlichkeit – Die Rolle des Subjekts in Hannah Arendts politischer Theorie, In: Bernward Baule: Hannah Arendt und die Berliner Republik, 1996 Berlin, S. 116f.
[xix] Ottfried Höffe: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, (Hrsg.) Peter Kemper, Frankfurt am Main 1993.
[xx] Pythagoras zitiert durch Hannah Arendt in: Ronald Beiner: Essay: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. von Beiner, Ronald, München/Zürich 1985.
[xxi] Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
[xxii] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2018.
[xxiii] Alexander Gauland: Was muss es Populismus sein? FAZ 06.10.2018, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/alexander-gauland-warum-muss-es-populismus-sein-15823206.html
[xxiv] Carlo Strenger: Die verdammten liberalen Eliten, Berlin 2019.
[xxv] Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Berlin 2019.
[xxvi] Philip Manov: (Ent-)Demokratisierung, Bonn 2021.
[xxvii] Quinn Slobodian: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Bonn 2020.
[xxviii] Armin Schäfer und Michael Zürn: Die demokratische Regression, Berlin 2021.
[xxix] Jens Balzer: Deprimierende Aussichten, 22.03.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/armin-schaefer-michael-zuern-die-demokratische-regression.950.de.html?dram:article_id=494408
[xxx] Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Coronakrise, Wissenschaftlicher Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, zit. bei: Fatina Keilani: In der Selbstblockade, TS, 18. April 2021, S. 5.
[xxxi] Robert Habeck: Von hier an anders. Eine politische Skizze, Köln 2021.
[xxxii] Max Weber: Politik als Beruf, München 1919.
[xxxiii] Michael Wiederstein im Interview mit Thimothy Garton Ash: „Wir erleben eine antiliberale Konterrevolution“, 04.08.2017, https://www.insm-oekonomenblog.de/16940-timothy-garton-ash-wir-erleben-eine-antiliberale-konterrevolution/.
[xxxiv] Krippendorff, Ekkehart (1994): Hannah Arendts archimedischer Punkt, in: Kubes-Hofmann, Ursula (Hrsg.); Sagen, was ist. Zur Aktualität Hannah Arendts; Wien; S. 75–94.
[xxxv] Bernd Ulrich: Die Befreiung der Freiheit, Die Zeit 30. April 2021, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021–04/karlsruhe-bundesverfassungsgericht-klimaschutz-urteil-grundgesetz-freiheit
[xxxvi] Lisa Herzog: Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Ein Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, München 2013.
[xxxvii] Hans Jonas, in: Hannah Arendt: Denken und Leidenschaft, https://wwwoutube.com/watch?v=yvVQl8Gncnk&t=192s
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.