Wie stabil ist die US-Demokratie noch?
Die Widersprüche im politischen System der USA wachsen weiter. Demokratische Institutionen sind angezählt, große Teile der Republikaner radikalisiert. Dennoch ist die Gesellschaft weniger gespalten, als es in Europa scheint.
Görlach: Die USA steuern auf die Mid-Terms zu. Für die Demokraten sieht es dabei nicht gut aus, Präsident Biden hat sogar schlechtere Umfragewerte als sein Vorgänger Donald Trump. Der macht sich wiederum warm für einen neuen Anlauf auf das Weiße Haus. Dabei hat die öffentliche Untersuchung des Aufstands vom 6. Januar 2021 ja deutlich gezeigt, dass Herr Trump an der Eskalation der Ereignisse maßgeblichen Anteil hatte. Was sagt uns diese Gemengelage über den Zustand der US-amerikanischen Demokratie?
Eiermann: Wir sollten unterscheiden zwischen den Umfragewerten der Demokratischen Partei und der Standfestigkeit des demokratischen Systems. Nur weil eine Partei in den Umfragen hinterherhinkt, muss ein System nicht kränkeln. Die Biden-Regierung hat mit einer Vielzahl punktueller und langfristiger Krisen zu kämpfen und hat auch sicherlich an den Sorgen vieler Amerikaner vorbei regiert und es verpasst, die in einem Zweiparteiensystem oftmals notwendige breite Wähler-Koalition für ihre Agenda zu begeistern. Das ist erst einmal eine Frage der politischen Positionierung und Priorisierung, zum Beispiel aktuell im Kontext von Rezession und Inflation. Aber es gibt eben auch andere, systemische Gründe.
Görlach: Welche wären das?
Eiermann: In vielen Landesregionen herrscht inzwischen de-facto ein Einparteiensystem; das heißt, dass zum Beispiel ein Kandidat der Demokraten in einigen Südstaaten und im mittleren Westen genauso chancenlos ist wie ein Kandidat der Republikaner in Neuengland oder in Kalifornien. Solche Wahlen sind auch durch andere Wahlprogramme kaum zu gewinnen, weil parteipolitische Affinität längst zur Identitätsfrage geworden ist. Und weil kleinere und ländlich geprägte Staaten gemessen an der Bevölkerung im Senat und bei den Präsidentschaftswahlen überrepräsentiert sind, führt diese geografische und parteipolitische Polarisierung im Endeffekt zu einem strukturellen Nachteil der Demokratischen Partei auf nationaler Ebene. Seit 2000 haben die Republikaner beispielsweise nie mehr die Mehrzahl der Gesamtstimmen geholt, haben aber trotzdem mehrfach die Mid-Terms und Präsidentschaftswahlen gewonnen. Wenn wir dann noch die wachsende Skepsis gegenüber demokratischen Normen und Institutionen dazu addieren, wird die Malaise der US-Demokratie langsam deutlich. Der Dichter Walt Whitman hat einmal spekuliert, dass „Niedergang und Ruin“ der Vereinigten Staaten nicht von außen aufoktroyiert, sondern von innen verursacht würden. Wir erleben momentan, wie viel Wahrheit möglicherweise in diesem Satz steckt.
Görlach: Sie sprechen die Identitätspolitik an. Diese gibt es auf beiden Seiten, sie äußert sich aber auf verschiedene Weise: Bei den Republikanern, so ist mein Eindruck, werden als Reaktion darauf, Menschen, die nicht dem weißen, angelsächsisch-protestantischen Wählerideal der so genannten „Grand Old Party” entsprechen, ausgegrenzt und Wahlbezirke so verändert, dass Minderheiten keine Chance mehr haben, durch ihre Stimme die Demokratie zu prägen. Bei den Demokraten kommt es mir so vor, dass man das, was gemeinhin unter Identitätspolitik subsummiert wird, so ins klein-klein auseinander definiert, dass sich am Ende Gruppen, die doch eigentlich dasselbe wollen, feindlich gesinnt gegenüberstehen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann werden diese Gräben eher noch größer werden als kleiner?
Eiermann: James Carville, der ehemalige Wahlkampfmanager von Bill Clinton, hat 1992 die US-Politik einmal auf den folgenden Satz reduziert: „It’s the economy, stupid!“ Wer Wirtschaftswachstum und Steuersenkungen verspricht, der gewinnt am Ende die Wahl. Im Vergleich zu damals spielt die von Ihnen so treffend beschriebene Identitätspolitik heute bei beiden Parteien eine deutlich stärkere Rolle: der Schwerpunkt des politischen Diskurses hat sich zu kulturellen und sozialen Themen verschoben. Die Belange von Minderheiten sind stärker auf der Agenda vertreten, nicht nur die Sorgen des oftmals weißen Durchschnittsbürgers. Die große strategische Frage für einen Politiker wie Joe Biden, der ja durch Alter und Prägung eigentlich ein Mann aus einer anderen Zeit ist, ist also die folgende: Versuche ich, auch im Kontext hoher Inflation, auf dieser Klaviatur mitzuspielen? Aber wenn wir von wachsenden Gräben sprechen, dann meine ich damit auch noch etwas anderes. Wir wissen aus vielen Umfragen, dass die amerikanische Bevölkerung in vielen programmatischen Fragen gar nicht so stark polarisiert ist, wie man das vielleicht in der Zeitung liest. Die Mehrheit sammelt sich immer noch irgendwo um die politischen Mitte, die natürlich im Vergleich zur europäischen Mitte nach Rechts verschoben ist.
Görlach: Möchten Sie ein Beispiel nennen?
Eiermann: Wir haben das kürzlich erst in Kansas erlebt: Dort hat sich eine große Mehrheit in einem Referendum für ein begrenztes konstitutionelles Abtreibungsrecht ausgesprochen – weniger liberal als von einigen Demokraten gefordert, aber deutlich progressiver als die Position vieler republikanischer Politiker. Selbst beim heiß diskutierten Thema Waffenrecht sind momentan zwei Drittel der Amerikaner offen für restriktivere Gesetze. Was immer ausgeprägter wird, ist jedoch die sogenannte affektive Polarisierung. Das heißt, dass die Menschen den Anhängern der jeweils anderen Partei heute stark misstrauen. Parteipolitische Identität wird dann fast schon zur Religion: Man glaubt und folgt den eigenen Fahnenträgern, im Guten wie im Schlechten. Das erklärt auch, warum so viele Anhänger von Trump es bis heute nicht schaffen, die Ereignisse vom 6. Januar zu verurteilen.
Görlach: Auch wenn Sie Mut machen möchten, dass die gesellschaftliche Mitte in den USA größer ist, als in Europa vermutet wird, ist das Vertrauen dieser Gruppe in die Institutionen, die die Demokratie tragen, aus verschiedenen Gründen erschüttert: Rechts hält man die öffentliche Anhörung in der Causa „Sturm auf das Kapitol” für einen Schauprozess, was er ja nicht ist. Gleichzeitig wird der Oberste Gerichtshof zum Erfüllungsgehilfen einer religiös-orthodoxen Agenda, was der Rechten wiederum gefällt. Das Beispiel der Rückabwicklung Roe v. Wade zeigt meines Erachtens, dass die illiberalen Strömungen den Marsch durch die Institutionen vollendet haben – oder nicht?
Eiermann: Einen Marsch durch die Institutionen, aber auch einen Marsch gegen die Institutionen. Es ist ein Kennzeichen autokratischer Regime im 21. Jahrhundert, institutionelle Macht zur Aushöhlung demokratischer und liberaler Institutionen auszunutzen. Wenn republikanische Politiker mit Viktor Orban oder Jair Bolsonaro für Fotos posieren oder ganz demonstrativ ihre jährliche CPAC-Tagung in Budapest abhalten, dann wird auch visuell deutlich, in welche Richtung man gerne marschieren möchte. Ich gebe ihnen zwei Beispiele: Ob das Ergebnis der kommenden Wahlen als legitim akzeptiert wird, hängt auch von der Arbeit der Wahlleiter ab, die in den einzelnen Landkreisen und Bundesstaaten für die Auszählung der Stimmen und die Zertifizierung des Wahlergebnisses mitverantwortlich sind. Momentan versuchen die Republikaner ganz gezielt, Leute in diesen Positionen zu installieren, die bereits die Wahl 2020 angezweifelt haben. Wenn das gelingt, liegt die institutionelle Macht am Ende bei den Feinden demokratischer Institutionen. Zweitens haben einige Landesparlamente im Laufe der letzten Jahre Gesetze verabschiedet, die beispielsweise das Wahlrecht einschränken und die Zeit sechzig Jahre zurückdrehen. Das Ergebnis ist, dass unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen auch die rechtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten immer größer werden. Für eine Demokratie ist das natürlich Gift.
Görlach: Sie prognostizieren, dass die Vereinigten Staaten auseinanderbrechen werden?
Eiermann: Ich glaube nicht, dass wir morgen mit Bürgerkrieg oder Gleichschaltung konfrontiert werden. Aber die Spannungen im System wachsen eben. Die soziale Ungleichheit nimmt schon seit den 1970er Jahren zu; die ideologische Polarisierung im Kongress auch. Die affektive Polarisierung der Wähler steigt vor allem seit den 90er Jahren. Ländliche und urbane Regionen unterscheiden sich immer stärker voneinander. Das Vertrauen in die Politik und den obersten Gerichtshof ist auf einem historisch niedrigen Niveau. Und eine Studie von 2021 hat gezeigt, dass inzwischen bis zu 20 Prozent der Wähler Gewalt gegen politische Gegner für legitim halten. Selbst wenn diese Zahl vielleicht etwas hochgegriffen ist: In vielen Dingen sind die Vereinigten Staaten eben nur noch dem Namen nach „vereinigt“.
Görlach: Wohin steuert dann die US-amerikanische Demokratie?
Eiermann: Natürlich ist es für die Zukunft der liberalen Demokratie gut, wenn die Republikaner in ihrer derzeitigen Verfassung keine Kontrolle über den Kongress oder das Weiße Haus haben. Solange die Partei nicht mit der Person Trump und mit dem reaktionären Populismus bricht, wird sich daran auch wenig ändern. Knapp 50 Prozent der derzeitigen republikanischen Kongressabgeordneten sind erst seit 2016 oder später im Amt, und viele davon sind auf Krawall gebürstet. Selbst beim Sturm auf das Kapitol haben einige Abgeordnete begeistert mitgeklatscht, zumindest solange eine Fernsehkamera in Sichtweite war. Als klassisch konservativer Kandidat hat man hingegen bei den derzeitigen innerparteilichen Vorwahlen der Republikaner relativ geringe Chancen: jemand wie Ronald Reagan wäre heute wahrscheinlich zu liberal, zum Beispiel in der Zuwanderungspolitik. Aber wir sprechen ja auch über Entwicklungen, die nicht nur mit dem Kongress oder dem Weißen Haus zu tun haben. Als der französische Historiker Alexis de Tocqueville im neunzehnten Jahrhundert nach Amerika reiste, war er ganz beeindruckt von der basisdemokratischen Kultur. Er nannte das damals die „habits of the heart“: Im Vergleich zu seinen französischen Landsleuten schienen ihm die Amerikaner zivilgesellschaftlich engagierter zu sein, skeptischer gegenüber föderaler Macht, entschlossener in der Verteidigung demokratischer Normen und Institutionen. Was Tocqueville damals erkannte: Demokratie und Liberalismus blühen und verwelken eben nicht nur durch die Taten einzelner Politiker, sondern durch die generelle Wertschätzung von Freiheit, Mitbestimmungsrechten, Minderheiten, und gegenseitiger Toleranz – und durch die Verankerung solcher Werte in demokratischen Institutionen.
Martin Eiermann ist Doktorand und Soziologe an der UC Berkeley. Zuvor war er Senior Fellow im Team „Renewing the Centre“ am Tony Blair Institute for Global Change, und Stipendiat am Berkeley Center for the Study of Law and Society und am Institute of International Studies. Martin Eiermann war leitender Redakteur und Chefredakteur der Zeitschrift The European.
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