Zieht jetzt in Hongkong die Gewalt ein?
Erst sticht ein Hongkonger einen Polizisten auf offener Straße nieder. Dann behauptet die Polizei, ein Bombenattentat vereitelt zu haben. Wie real die Gefahr gewesen ist, ist nicht klar. Klar ist nur: Von der Eskalation profitiert Peking.
Es ist dieser Tage so gut wie unmöglich, von Horrormeldungen aus Hongkong aufgerüttelt zu werden. Fast täglich überschlagen sich die Nachrichten. Festnahmen, Anklagen, Angriffe auf die freie Presse. In der Menge der Schreckensmeldungen droht das große Ganze unterzugehen. Das Schicksal Hongkongs droht im Ungefähren zu verschwimmen.
Aber diese Woche drangen Nachrichten aus Hongkong, die so erschütternd sind, das sie sich zu einem Eindruck verdichten:
Die Gewalt zieht in die Stadt ein. Hongkong steckt in einer Spirale der Eskalation. Und ein Ausweg ist nicht in Sicht.
Es begann am 1. Juli.
Der 1. Juli ist aus zwei Gründen ein symbolträchtiger Tag. Zum einen jährt sich an ihm die Rückgabe Hongkongs an China. Die Hafenstadt war von 1843 bis 1997 eine britische Kronkolonie. Für Anhänger eines freien Hongkongs steht das Datum für den Anfang vom Ende. Mit ihm, so das Argument, begann die schleichende Erosion der Freiheitsrechte.
Zum anderen ist der 1. Juli aber auch der Jahrestag des chinesischen „Sicherheitsgesetzes“. 2020 führte Peking in Hongkong das Gesetz ein, um damit, so Pekings Darstellung, nach den Straßenprotesten von 2019 Recht und Ordnung wiederherzustellen. Doch die Wahrheit ist: Peking nutzt das „Sicherheitsgesetz“, um jedwede Opposition zu kriminalisieren und wegzusperren. Inzwischen sitzt so gut wie die gesamte parlamentarische und außerparlamentarische Opposition im Gefängnis. Wer nicht einsitzt, ist aus der Stadt geflohen. Für Anhänger eines freien Hongkongs steht das Datum für den Beginn des staatlichen Terrorismus. Mit ihm, so das Argument, setzte der Herztod Hongkongs ein.
Es begann also am 1. Juli. An diesem doppelt symbolträchtigen Jahrestag stach ein Hongkonger auf offener Straße einen Polizisten nieder. Anschließend nahm sich der Attentäter das Leben.
Die Behörden reagierten auf das Attentat, indem sie den Angreifer als einen „einsamen Wolf“ darstellten, der sich politisch radikalisiert und „inländischen Terrorismus“ begangen habe. Auch gaben sie zu Protokoll, dass die Polizei in der Wohnung des Angreifers Zeitungen gefunden hätten, die „fake information“ enthalten und zum Hass aufgestachelt hätten. Um was für Informationen es sich handelte, ließen die Behörden offen. Es muss befürchtet werden, dass sie den Fall bald instrumentalisieren werden, um noch stärker gegen die freie Presse – beziehungsweise das, was von ihr übrig ist – vorzugehen.
Aber für viele in Hongkong stand schnell fest, wer der eigentliche Schuldige ist: Am Wochenende gedachten Menschen dem Attentäter sowohl am Ort des Anschlags als auch im Internet. Auf LIHKG, einem bei radikalen Peking-Gegnern beliebten Internetforum, erhielt ein Artikel, der besagte, dass sich der Zustand des verwundeten Polizisten stabilisiert habe, 44 „Gefällt mit“-Klicks und fast 3000 „Gefällt mir nicht“-Klicks. Daraufhin sah sich die Polizei genötigt, eine Pressemeldung herauszugeben, in der sie die Gewalttat verurteilte – und auch alle Menschen, „die versuchen, die verabscheuungswürdige Tat in aufrührerischer Absicht zu romantisieren oder zu verherrlichen, um Hass in der Gesellschaft zu schüren“.
Noch düsterer wurde es dann diese Woche. Am Dienstag gab die Polizei bekannt, dass sie neun Personen im Alter zwischen 15 und 39 Jahren, darunter sechs Jugendliche, verhaftet habe und sie beschuldige, ein Bombenattentat in Planung gehabt zu haben. Demnach planten die Beschuldigten, Bomben in Gerichtssälen, Bahnhöfen und an anderen öffentlichen Orten explodieren zu lassen. Nach eigenen Angaben stellte die Polizei Geräte und Rohmaterialien zur Herstellung des Sprengstoffes TATP sowie eine „geringe Menge“ des Sprengstoffs selbst sicher. TATP wird oft von Islamisten genutzt. Der Sprengstoff kam etwa bei den Anschlägen von Paris 2015 und in Brüssel 2016 zum Einsatz.
Noch ist unklar, wie real die Bedrohung war. Die Polizei könne, so raunt man in Hongkong, den Fall übertrieben haben, um die prodemokratische Bewegung zu dämonisieren. Seit dem Ausbruch der Anti-Peking-Proteste im Jahr 2019 behauptete die Polizei mehrmals, Bombenanschläge vereitelt zu haben. Allerdings landeten nur wenige Verdächtige vor Gericht – was es schwierig macht einzuschätzen, wie real die von ihnen ausgehende Gefahr tatsächlich war.
Und so versinkt Hongkong dieser Tage in einem Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt. Doch wie echt die Gewalt ist, die von der Demokratiebewegung ausgeht, ist dabei nicht immer klar.
„Die Regierung Hongkongs versucht, ihr autoritäres Vorgehen in Hongkong zu rechtfertigen, indem sie behauptet, die prodemokratische Bewegung sei gewalttätig“, sagt Luke de Pulford von der britischen Nichtregierungsorganisation Hong Kong Watch: „Das ist ein falsches Narrativ und die Menschen sollten nicht darauf hereinfallen.“
Die Wortführer der Bewegung wie Joshua Wong, Nathan Law und Margaret Ng seien alle, so de Pulford, Befürworter des friedlichen Widerstands. Die verzweifelten Aktionen einiger Weniger seien nicht repräsentativ.
Angesichts der Drohkulisse, die Peking in Hongkong aufgebaut hat, findet es de Pulford sogar beachtlich, dass die Demokratiebewegung immer noch für Friedfertigkeit eintritt. „Es ist unglaublich ist, dass die Bewegung weiterhin mit überwältigender Mehrheit für friedlichen Widerstand ist“, sagt er, „obwohl ihre Rechte vor ihren Augen dezimiert werden und die internationale Gemeinschaft nichts unternommen hat, um China für seine schockierende Behandlung Hongkongs zur Rechenschaft zu ziehen.“
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