Geschichte, die nicht vergeht
Weltpremiere auf der Berlinale: „Mr. Jones“, das neue Epos der famosen polnischen Regisseurin Agnieszka Holland.
Der Film basiert auf einer doppelt wahren Geschichte. Er zeigt in kargen, eher zurückgenommenen Bildern den Hungerkrieg, den Stalin 1932/33 gegen die Ukraine führte, und er erzählt die Geschichte eines britisch-walisischen Journalisten, der von Moskau aus in die Ukraine aufbricht, um die Wahrheit hinter den Gerüchten über das große Sterben herauszufinden, die man sich unter den westlichen Korrespondenten allenfalls hinter vorgehaltener Hand erzählt. Sein Ausgangspunkt ist die Frage, wie Stalin mitten in der Weltwirtschaftskrise den „sozialistischen Aufbau“ finanziert: Mit dem Export von Millionen Tonnen Getreide, das in der Ukraine, der Wolgaregion und in Kasachstan von bewaffneten Kommandos konfisziert wurde. Allein in der Ukraine verhungerten nach heutiger Kenntnis 3 bis 4 Millionen Menschen, während die sowjetische Propaganda die Erfolge der Kollektivierung feierte.
Gareth Jones ist die Kontrastfigur zum Bürochef der New York Times in Moskau, einem Pulitzer-Preisträger, der mit dem stalinistischen Menschheitsexperiment sympathisiert (was ihn nicht hindert, spätrömische Orgien zu feiern). Der eine sucht die Wahrheit in den Tatsachen, der andere verfolgt eine journalistisch getarnte politische Agenda. In Zeiten von Fake News und Propaganda ist das eine hoch aktuelle Story.
Eine dritte Ebene des Films handelt von der Weigerung der britischen Eliten, die barbarische Natur des Hitlerismus wie des Stalinismus zur Kenntnis zu nehmen. Man will weder sehen, dass Hitler Krieg bedeutet, noch will man die Wahrheit über Stalins Gewaltherrschaft wissen. Die Konsequenzen wären zu unbequem. Als Jones davon spricht, dass Hitlers Krieg faktisch bereits begonnen hat, schlägt ihm Ablehnung entgegen. Das gleiche wiederholt sich, als er von Stalins Gewaltpolitik und der menschlichen Tragödie in der Ukraine berichtet. Die New York Times druckt ein Dementi, und der britische Premierminister fürchtet um das Russlandgeschäft der krisengeschüttelten britischen Wirtschaft.
Auch das hat durchaus aktuelle Bezüge, gerade mit Blick auf Putins hybriden Krieg gegen die Ukraine, den bei uns kaum jemand beim Namen nennen will. „Es mangelt uns heute nicht an bestechlichen Konformisten und Egoisten, uns fehlt es an Orwells und Jones‘. Deshalb haben wir sie wieder zum Leben erweckt“, so Agnieszka Holland. George Orwells Roman „Die Farm der Tiere“ zieht sich als Nebenstrang durch den Film, eine Parabel auf totalitäre Macht und die Bereitschaft zur Selbst-Gleichschaltung.
Holland und Festivaldirektor Dieter Kosslick erinnerten vor Beginn der Aufführung an den ukrainischen Dokumentarfilmer Oleg Sentsov, der wegen seines gewaltfreien Protests gegen die Annexion der Krim in einem Schauprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Sentsov ist nun schon seit vier Jahren in einem russischen Straflager am Polarkreis. Man mag sich kaum vorstellen, was das bedeutet. Gegen das Vergessen – #FreeSentsov!
Link zur Filmbesprechung von Christian Peitz: Die Wahrheit über Stalins Hungersnot, Tagesspiegel 11.02.20219
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