Rechtspopulismus: Warum der Neoliberalismus nicht an allem schuld ist
Die neoliberale Schule war eine Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Nationalsozialismus und Stalinismus. Daraus resultiert auch ihre Skepsis gegenüber schrankenloser Mehrheitsherrschaft und einem allmächtigen Staat. Es ist irreführend, die neoliberalen Denker zu Wegbereitern und Komplizen des heutigen Rechtspopulismus zu erklären, argumentiert Karen Horn.
Der Neoliberalismus ist schuld an der Ausbreitung des Rechtspopulismus: Das ist eines der Narrative in der aktuellen Debatte. Historisch wie intellektuell sei diese Doktrin, die alles Dasein dem Gesetz der Märkte unterwerfe, der Wegbereiter, Verwandte oder Komplize des völkischen Nationalismus einer PiS, FPÖ oder AfD (vgl. Wendy Brown oder, etwas differenzierter, Quinn Slobodian). Diese Behauptung fußt auf einem falschen Framing und einem Denkfehler im Umgang mit Kausalität.
Die Haltung der Neoliberalen ist historisch als Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Stalinismus und Nationalsozialismus zu verstehen. Dort wurzelt ihre Ablehnung einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft, die in der Lage wäre, die Grundrechte von Minderheiten abzuschaffen.
Ja, es ist korrekt, dass sich in der PiS, der FPÖ und der AfD ein Teil des politischen Personals auf Denker wie Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke, Milton Friedman oder auch James M. Buchanan beruft, die man üblicherweise dem Neoliberalismus zurechnet. Es ist auch korrekt und ebenso schmerzlich, dass man in den Schriften dieser und anderer neoliberalen Denker Meinungen findet, die für den Rechtspopulismus typisch sind: überschießende Systemkritik, Demokratieskepsis, Ablehnung eines expansiven Sozialstaats. In den Spätschriften Hayeks tauchen biologistische Gedankenfetzen zur kulturellen Evolution auf, bei Röpke Rassismus und eine Attitüde kultureller Überlegenheit. Friedman scheute den Kontakt zu Chiles Diktator nicht, und Buchanan bewies seinen Patriotismus, indem er nach Frankreichs Kritik an der Irak-Invasion nur noch „Freedom Fries“ aß.
Dabei sind diese Meinungen, Absonderlichkeiten und Fehltritte aber keineswegs konstitutiv für den Neoliberalismus. Mit dem theoretischen Instrumentarium, das die neoliberalen Denker hinterlassen haben, kann man sehr wohl ganz woanders landen – und sind viele kluge Köpfe in Wissenschaft und Politik tatsächlich ganz woanders gelandet – als im Rechtspopulismus mit seinen Ressentiments, seinen Pöbeleien und seinen reaktionären Programmen: in einem modernen Liberalismus der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichbehandlung, der Freiwilligkeit, der Offenheit, der Humanität und der Toleranz. Es lohnt sich immer, theoretische Systeme an sich zu betrachten, also gelegentlich losgelöst von den teilweise auch nur vorübergehenden Framings ihrer Erfinder und deren Anhänger.
Das theoretische Werk Hayeks beispielsweise mit seiner Erkundung der Funktionsweise spontaner gesellschaftlicher Koordinationsprozesse und der Nebeneffekte staatlichen Handelns mag eine Spaßbremse für Interventionisten sein. Es weist aber den Weg zu einem Liberalismus, „neo“ oder nicht, der jeden Menschen davor schützt, zum Mittel der Zwecke anderer gemacht zu werden. Nur auf der Grundlage solcher Autonomie, solcher Freiheit, ist gesellschaftlicher Fortschritt denkbar, meinte Hayek, und dieser Fortschritt wiederum ist kein Selbstzweck, sondern nur deshalb erstrebenswert, weil er der Menschheit zugutekommt. Sie steht im Mittelpunkt.
Die Skepsis gegenüber der Demokratie, die sich auch in Hayeks Werk niederschlägt, ist zutreffender zu bezeichnen als Missbehagen gegenüber dem Mehrheitsprinzip und als sorgenvolle Warnung vor einem unzureichend verfassten, fragilen Rechtsstaat. Diese Haltung der Neoliberalen ist historisch als Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Stalinismus und Nationalsozialismus zu verstehen. Dort wurzelt ihre Ablehnung einer schrankenlosen Demokratie, in der eine Mehrheit in der Lage wäre, die Grundrechte einer Minderheit abzuschaffen. Und dort wurzelt auch ihre Zurückweisung eines übermächtigen Staates und aller politischen Lehren, in denen der utopische Zweck die Mittel heiligt.
Wie der Mensch davor zu schützen ist, dass andere über ihn bestimmen, war auch die überwölbende Forschungsfrage James M. Buchanans. Er setzte den denkbar strengsten Maßstab für die Legitimität kollektiven Handelns an: Einstimmigkeit. Wo sich eine generelle Billigung aus praktischen Gründen nicht einholen lässt, bleibt das Einstimmigkeitskriterium zumindest gedanklich relevant. Anlegen sollte es jeder, der einen Vorschlag für politisches Handeln vorträgt: Sind Ziel und Substanz des Vorschlags so, dass er potentiell jedermanns Zustimmung finden könnte? Oder verstößt er von vornherein gegen die Interessen bestimmter Gruppen? Wie ließe sich das ausgleichen?
Dass Buchanan in seiner theoretischen Analyse staatlichen Handelns stets von eigeninteressierten Politikern und Beamten ausging, mag die Affekte derer befriedigen, die sich heute auf ihn berufen. Aber das ist völlig unerheblich. Wissenschaftlich dienen derlei Annahmen dazu, Anreizstrukturen in staatlichen Ordnungen zu bestimmen, zu verstehen und zu verbessern. Solange sich ein Politiker – wie Buchanan hoffte – getreulich am Gemeinwohl ausrichtet, ist es schwer, Fehlanreize aufzudecken. Sie werden erst evident, wenn ein Politiker seine Macht missbraucht und ein böses Spiel spielt. Das will man nicht erleben, und darum müssen Verfassungen „charakterrobust“ ausgestaltet sein.
Was in aller Welt soll an einem solchen Ansatz zwingend in den Rechtspopulismus führen? Nichts. Eine solche Kausalität herzustellen, hat Stammtischniveau. Es ist ungefähr so, wie wenn man sagt, in dem weit verzweigten thailändischen Höhlensystem, in dem eine Fußballmannschaft eingeschlossen war, sei nur eine einzige Marschrichtung möglich gewesen; die vielen Gabelungen unterwegs gebe es gar nicht. Das wäre gleichsam am Seil entlang gedacht, das die Retter mitführten. Dieser Ariadne-Faden wies für den Rückweg die Richtung. Auf dem Hinweg jedoch lag das Seil noch nicht. Es gab also keine Zwangsläufigkeit, dass die Retter denselben Weg wählen würden wie die jungen Sportler. Dass sie immer wieder richtig abbogen, war das Glück der guten Entscheidung. Und wenn jemand, analog, vom Neoliberalismus ausgehend immer wieder falsch abbiegt und verloren geht, dann trifft ihn das Unglück der schlechten Entscheidung. Im Nachhinein lässt sich leicht ein Determinismus behaupten. Aber er existiert nicht – und auch kein tragisches Geschichtsgesetz. Wie in einem Höhlensystem gibt es nur richtige und falsche Entscheidungen auf einem Weg mit vielen Verzweigungen.
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