Rechts­po­pu­lismus: Warum der Neoli­be­ra­lismus nicht an allem schuld ist

Guido van Nispen [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)] via Flickr

Die neoli­berale Schule war eine Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Natio­nal­so­zia­lismus und Stali­nismus. Daraus resul­tiert auch ihre Skepsis gegenüber schran­ken­loser Mehrheits­herr­schaft und einem allmäch­tigen Staat. Es ist irreführend, die neoli­be­ralen Denker zu Wegbe­reitern und Komplizen des heutigen Rechts­po­pu­lismus zu erklären, argumen­tiert Karen Horn.

Der Neoli­be­ra­lismus ist schuld an der Ausbreitung des Rechts­po­pu­lismus: Das ist eines der Narrative in der aktuellen Debatte. Histo­risch wie intel­lek­tuell sei diese Doktrin, die alles Dasein dem Gesetz der Märkte unter­werfe, der Wegbe­reiter, Verwandte oder Komplize des völki­schen Natio­na­lismus einer PiS, FPÖ oder AfD (vgl. Wendy Brown oder, etwas diffe­ren­zierter, Quinn Slobodian). Diese Behauptung fußt auf einem falschen Framing und einem Denkfehler im Umgang mit Kausalität.

Die Haltung der Neoli­be­ralen ist histo­risch als Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Stali­nismus und Natio­nal­so­zia­lismus zu verstehen. Dort wurzelt ihre Ablehnung einer schran­ken­losen Mehrheits­herr­schaft, die in der Lage wäre, die Grund­rechte von Minder­heiten abzuschaffen. 

Ja, es ist korrekt, dass sich in der PiS, der FPÖ und der AfD ein Teil des politi­schen Personals auf Denker wie Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke, Milton Friedman oder auch James M. Buchanan beruft, die man üblicher­weise dem Neoli­be­ra­lismus zurechnet. Es ist auch korrekt und ebenso schmerzlich, dass man in den Schriften dieser und anderer neoli­be­ralen Denker Meinungen findet, die für den Rechts­po­pu­lismus typisch sind: überschie­ßende System­kritik, Demokra­tie­s­kepsis, Ablehnung eines expan­siven Sozial­staats. In den Spätschriften Hayeks tauchen biolo­gis­tische Gedan­ken­fetzen zur kultu­rellen Evolution auf, bei Röpke Rassismus und eine Attitüde kultu­reller Überle­genheit. Friedman scheute den Kontakt zu Chiles Diktator nicht, und Buchanan bewies seinen Patrio­tismus, indem er nach Frank­reichs Kritik an der Irak-Invasion nur noch „Freedom Fries“ aß.

Dabei sind diese Meinungen, Abson­der­lich­keiten und Fehltritte aber keineswegs konsti­tutiv für den Neoli­be­ra­lismus. Mit dem theore­ti­schen Instru­men­tarium, das die neoli­be­ralen Denker hinter­lassen haben, kann man sehr wohl ganz woanders landen – und sind viele kluge Köpfe in Wissen­schaft und Politik tatsächlich ganz woanders gelandet – als im Rechts­po­pu­lismus mit seinen Ressen­ti­ments, seinen Pöbeleien und seinen reaktio­nären Programmen: in einem modernen Libera­lismus der Rechts­staat­lichkeit, der Gleich­be­handlung, der Freiwil­ligkeit, der Offenheit, der Humanität und der Toleranz. Es lohnt sich immer, theore­tische Systeme an sich zu betrachten, also gelegentlich losgelöst von den teilweise auch nur vorüber­ge­henden Framings ihrer Erfinder und deren Anhänger. 

Portrait von Karen Horn

Karen Horn ist Dozentin für ökono­mische Ideen­ge­schichte und Wirtschafts­jour­na­lismus an der Univer­sität Erfurt.

Das theore­tische Werk Hayeks beispiels­weise mit seiner Erkundung der Funkti­ons­weise spontaner gesell­schaft­licher Koordi­na­ti­ons­pro­zesse und der Neben­ef­fekte staat­lichen Handelns mag eine Spaßbremse für Inter­ven­tio­nisten sein. Es weist aber den Weg zu einem Libera­lismus, „neo“ oder nicht, der jeden Menschen davor schützt, zum Mittel der Zwecke anderer gemacht zu werden. Nur auf der Grundlage solcher Autonomie, solcher Freiheit, ist gesell­schaft­licher Fortschritt denkbar, meinte Hayek, und dieser Fortschritt wiederum ist kein Selbst­zweck, sondern nur deshalb erstre­benswert, weil er der Menschheit zugute­kommt. Sie steht im Mittelpunkt.

Die Skepsis gegenüber der Demokratie, die sich auch in Hayeks Werk nieder­schlägt, ist zutref­fender zu bezeichnen als Missbe­hagen gegenüber dem Mehrheits­prinzip und als sorgen­volle Warnung vor einem unzurei­chend verfassten, fragilen Rechts­staat. Diese Haltung der Neoli­be­ralen ist histo­risch als Antwort auf die totalitäre Erfahrung von Stali­nismus und Natio­nal­so­zia­lismus zu verstehen. Dort wurzelt ihre Ablehnung einer schran­ken­losen Demokratie, in der eine Mehrheit in der Lage wäre, die Grund­rechte einer Minderheit abzuschaffen. Und dort wurzelt auch ihre Zurück­weisung eines übermäch­tigen Staates und aller politi­schen Lehren, in denen der utopische Zweck die Mittel heiligt.

Wie der Mensch davor zu schützen ist, dass andere über ihn bestimmen, war auch die überwöl­bende Forschungs­frage James M. Buchanans. Er setzte den denkbar strengsten Maßstab für die Legiti­mität kollek­tiven Handelns an: Einstim­migkeit. Wo sich eine generelle Billigung aus prakti­schen Gründen nicht einholen lässt, bleibt das Einstim­mig­keits­kri­terium zumindest gedanklich relevant. Anlegen sollte es jeder, der einen Vorschlag für politi­sches Handeln vorträgt: Sind Ziel und Substanz des Vorschlags so, dass er poten­tiell jeder­manns Zustimmung finden könnte? Oder verstößt er von vornherein gegen die Inter­essen bestimmter Gruppen? Wie ließe sich das ausgleichen?

Dass Buchanan in seiner theore­ti­schen Analyse staat­lichen Handelns stets von eigen­in­ter­es­sierten Politikern und Beamten ausging, mag die Affekte derer befrie­digen, die sich heute auf ihn berufen. Aber das ist völlig unerheblich. Wissen­schaftlich dienen derlei Annahmen dazu, Anreiz­struk­turen in staat­lichen Ordnungen zu bestimmen, zu verstehen und zu verbessern. Solange sich ein Politiker – wie Buchanan hoffte – getreulich am Gemeinwohl ausrichtet, ist es schwer, Fehlan­reize aufzu­decken. Sie werden erst evident, wenn ein Politiker seine Macht missbraucht und ein böses Spiel spielt. Das will man nicht erleben, und darum müssen Verfas­sungen „charak­ter­robust“ ausge­staltet sein.

Was in aller Welt soll an einem solchen Ansatz zwingend in den Rechts­po­pu­lismus führen? Nichts. Eine solche Kausa­lität herzu­stellen, hat Stamm­tisch­niveau. Es ist ungefähr so, wie wenn man sagt, in dem weit verzweigten thailän­di­schen Höhlen­system, in dem eine Fußball­mann­schaft einge­schlossen war, sei nur eine einzige Marsch­richtung möglich gewesen; die vielen Gabelungen unterwegs gebe es gar nicht. Das wäre gleichsam am Seil entlang gedacht, das die Retter mitführten. Dieser Ariadne-Faden wies für den Rückweg die Richtung. Auf dem Hinweg jedoch lag das Seil noch nicht. Es gab also keine Zwangs­läu­figkeit, dass die Retter denselben Weg wählen würden wie die jungen Sportler. Dass sie immer wieder richtig abbogen, war das Glück der guten Entscheidung. Und wenn jemand, analog, vom Neoli­be­ra­lismus ausgehend immer wieder falsch abbiegt und verloren geht, dann trifft ihn das Unglück der schlechten Entscheidung. Im Nachhinein lässt sich leicht ein Deter­mi­nismus behaupten. Aber er existiert nicht – und auch kein tragi­sches Geschichts­gesetz. Wie in einem Höhlen­system gibt es nur richtige und falsche Entschei­dungen auf einem Weg mit vielen Verzweigungen.

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